Читать книгу Lügner küssen besser - Birgit Kluger - Страница 9
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Ich beobachtete sie schon seit einer Weile. Seit sie vor ein paar Wochen hier eingezogen war. Über die Kamera, die vor meiner Eingangstür installiert war, konnte ich genau sehen, wer das Haus betrat oder verließ. In meinem Beruf konnte man nicht vorsichtig genug sein. Man wusste nie, wer auf wessen Seite stand oder einem als Feind gefährlich werden könnte.
Ich konnte mich gut an den Tag erinnern, an dem sie eingezogen war. Es war ein Samstag gewesen. Zusammen mit zwei Männern hatte sie ihre Habseligkeiten in den fünften Stock gebracht. Sie fiel auf. War sie doch in einem Haus mit zehn Wohnungen die einzige Mieterin unter siebzig. Sie sah gut aus mit ihren langen karamellfarbenen Haaren, der schlanken Figur und einer Oberweite, die meine Gedanken abschweifen ließ.
Jeden Abend, wenn ich am Computer den Tagesfilm durchging, wartete ich darauf, sie zu entdecken. Bald stellte ich fest, dass sie einen relativ festgelegten Tagesablauf hatte. Wahrscheinlich, weil sie ein normales Leben führte. Ich dagegen achtete darauf, das Haus jeden Tag zu einer anderen Zeit zu verlassen, den Hofausgang ebenso zu benutzen wie den Straßenausgang und mich vielfältig und variantenreich zu kleiden.
Meine Nachbarin hastete morgens meistens um kurz vor neun Uhr durch das Treppenhaus. In der Hand einen Kaffeebecher To Go. Sie balancierte ihn vorsichtig, als enthalte er mehr als nur ein heißes Getränk. Jede Wette, es war ihr erster Kaffee und sie hatte ihn nötig.
Sie war auf dem Weg zur U-Bahn. Auch das wusste ich, denn ich war ihr gefolgt. Nur um zu sehen, ob sie ein Auto besaß oder nicht. Wenn sie eines hatte, dann benutzte sie es nicht.
Sie trug einen Rucksack und hatte einen Ordner unter den Arm geklemmt, dazu der Becher. Nachmittags kam sie mit Büchern oder Einkäufen beladen zurück.
Sie war Studentin. So viel war klar.
Seit Tagen überlegte ich, ob ich sie ansprechen sollte oder nicht.
Ich setzte mich vor den Bildschirm, lehnte mich in meinem Bürosessel zurück und beobachtete die Echtzeitübertragung. Es war fünfzehn Uhr. Irgendwann zwischen jetzt und sechzehn Uhr würde sie von der Uni zurückkommen.
Es dauerte nicht lange und sie tauchte in dem Videobild auf. Beladen mit zwei schwer aussehenden Einkaufstüten ging sie auf die Treppen zu.
Ohne nachzudenken, was ich da tat, stand ich auf und ging in den Hausflur.
"Kann ich dir helfen?", fragte ich.
Sie drehte sich zu mir, überlegte einen Augenblick und nahm mein Angebot in genau dem Moment an, in dem sich mein Verstand zu Wort meldete, um mir zu sagen, welch dämliche Idee das war.
Ich lebte zurückgezogen. Vermied den Kontakt zu anderen Menschen aus genau einem Grund: Es war gefährlich. Nicht nur für mich, sondern auch für diejenigen, die mit mir gesehen wurden. Was hatte ich mir dabei gedacht?
Nichts. Das war das Problem.
Wir gingen gemeinsam in den fünften Stock. Sie erzählte mir, weshalb sie nie den Aufzug nahm. Ein weiteres Rätsel gelöst, auch wenn ich etwas Ähnliches bereits vermutet hatte.
Das Treppenhaus war nicht besonders breit und so stieg sie vor mir die Stufen hinauf. Was ein Fehler war. Ich hätte vorgehen sollen. Jetzt hatte ich ihren Körper vor mir, ihr Hinterteil praktisch auf Augenhöhe.
Das Gute daran war, mein Verstand hielt die Klappe. Wahrscheinlich, weil kein Blut mehr in meinem Gehirn war. Als wir vor ihrer Haustür ankamen und stehen blieben, weil sie ihren Schlüssel hervorholte, begann ich wieder klar zu denken.
Ich verabschiedete mich, so schnell es ging, und verschwand.
Fest entschlossen, nie wieder mit ihr zu reden.