Читать книгу Lügner küssen besser - Birgit Kluger - Страница 18
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ОглавлениеMittwoch
Der Wagen
Chaos, Stress. Ein ganz normaler Tag aus meinem Leben also.
Unendliche Traurigkeit ergriff mich. Mein Leben war schrecklich. Niemand mochte mich. Niemand interessierte sich dafür, wie es mir ging. Eine Träne rann meine Wange hinab, dann noch eine. Ich wischte mir über die Augen und quälte mich aus dem Bett.
Vielleicht würde mich ein Kaffee aufmuntern. Auf dem Weg in die Küche schaltete ich meinen Computer ein. Während er hochfuhr, werkelte ich herum, stellte die Kaffeemaschine an, suchte nach etwas Essbarem, das nicht aus Körnern bestand, und versuchte die Traurigkeit zu ignorieren, die mich zu überwältigen drohte. Was war nur mit mir los?
Die Maschine erwachte blubbernd zum Leben, aber ich hatte plötzlich keinen Appetit mehr. Allein bei dem Gedanken an den bitteren Geschmack von Kaffee drehte sich mir der Magen um. Am liebsten wäre ich wieder unter die Laken gekrochen, hätte mir die Decke über den Kopf gezogen und so getan, als gäbe es die Welt da draußen nicht. Stattdessen ging ich zu meinem PC und klickte auf mein E-Mail-Programm. Noch bevor es sich öffnete, rollte eine weitere Welle der Traurigkeit auf mich zu. Und plötzlich begriff ich, was los war. Ich hatte die Emotionen einer anderen Person aufgeschnappt, ohne es zu merken. Als mein Blick auf die E-Mails fiel, die heute Morgen angekommen waren, wusste ich auch von wem. Meine Hand zitterte, als ich die Nachricht öffnete, die Susanna mir geschickt hatte.
Liebe Shikara,
vielen Dank für deine Hilfe, aber mein Leben hat keinen Sinn mehr.
Susanna
Mein Herz setzte für einen Augenblick aus. Als es wieder anfing zu schlagen, raste es. Mir wurde schlecht, Sterne tanzten vor meinen Augen.
Ein Abschiedsbrief. Susanna hatte mir einen letzten Gruß geschickt.
"Sie hat mir versprochen, sich nicht umzubringen", flüsterte ich, während ich hektisch die Maus bewegte und nach dem Impressum suchte. Der Anbieter, der meine Dienstleistungen und die unzähliger anderer Kartenleger auf seiner Webseite anbot, musste Susannas Kontaktdaten haben. Es war die einzige Möglichkeit, ihre Adresse herauszufinden.
"Sie klang so viel besser, als wir geskypt haben", versuchte ich mich zu beruhigen. "Wo ist das verdammte Telefon?"
Wie immer, wenn ich es brauchte, konnte ich das Ding nicht finden. Dass ich mittlerweile Tränen in den Augen hatte, machte die Suche nicht einfacher.
"Susanna, ich rede nie wieder mit dir, wenn du dein Versprechen nicht gehalten hast", drohte ich und drehte die Sofakissen um. Da – endlich – lag der verdammte Hörer.
"Sie müssen unbedingt eine Kundin von mir kontaktieren. Nein, schicken Sie gleich einen Notarztwagen dorthin. Sie hat sich das Leben genommen. Oder zumindest einen Selbstmordversuch unternommen."
"Beruhigen Sie sich erst einmal", holte mich die Stimme am anderen Ende der Leitung aus meiner Panik. "Tief durchatmen." Es war ein Mann. Er klang nett. So als würde er sich die Zeit nehmen, mir zuzuhören, und dann das Richtige tun.
Susanna wohnte am anderen Ende der Welt. In Hamburg. Diese streng vertrauliche Information gab mir der Mitarbeiter meiner Beratungsplattform, nachdem er einen Notdienst informiert hatte und von mir zum zehnten Mal angerufen worden war. Außerdem wusste ich jetzt ihren Nachnamen und hatte mich wahrscheinlich strafbar gemacht, weil ich bei dem Telefonat mit dem Krankenhaus behauptet hatte, ich wäre ihre Schwester. Aber das war es mir wert. Sie lebte. Susanna hatte einen Tablettencocktail genommen, aber durch die Hilfe der Ärzte das Schlimmste überstanden.
Mir zitterten noch immer die Hände, als ich mich mit einer Tasse Tee an meinen Küchentisch setzte. Der Vormittag war bereits vorüber, es war zwölf Uhr und ich hatte Hunger. Mehr als langweiliges Müsli und fettreduzierte Milch fanden sich nicht in meinem Kühlschrank. Heute brauchte ich mehr. Ein richtiges Frühstück mit Spiegeleiern, Speck und einem Kaffee, der stark genug war, mich die nächsten fünf Wochen wach zu halten. Vor meinem inneren Auge sah ich das Essen bereits vor mir stehen.
Ich stellte meine Tasse ab, zog mir eine Jacke über und verließ meine Wohnung. Unten im Treppenhaus angekommen verlangsamten sich meine Schritte. Ich sah zu der Tür, hinter der sich das Appartement von Lex befand. Ich seufzte. Es wäre schön, ein paar Worte mit ihm zu reden. Mit ihm zu flirten und auf andere Gedanken zu kommen.
Als hätte ich Magie gewirkt, wurde seine Wohnungstür geöffnet.
"Hallo", sagte Lex, während ich dastand und ihn anstarrte, als wäre er eine Fata Morgana. "Alles in Ordnung mit dir?"
"Ja, warum fragst du?"
"Weil du nichts gesagt hast."
"Tut mir leid, ich war gerade mit meinen Gedanken woanders." Ich schob mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und musste mich zwingen, sie nicht um die Finger zu wickeln. "Es war ein anstrengender Vormittag", setzte ich hinzu.
"Wie wäre es, wenn ich dich zu dem versprochenen Kaffee einlade?"
"Nett von dir." Ich zögerte. "Aber ich wollte gerade ins Café Sonnenschein. Ich habe noch nichts gegessen."
"Hört sich gut an. Warte einen Augenblick." Bevor ich etwas sagen konnte, verschwand er in der Wohnung. Als er zurückkam, hatte er ein blaues Sweatshirt übergezogen. Es brachte seine Augen zum Leuchten. Für einen Moment sah ich ihn an und wünschte, er würde mich küssen, in seine Wohnung ziehen und …
"Ich lade dich zum Frühstück ein", sagte Lex und unterbrach einen Gedankengang, der in Regionen abdriftete, die nicht jugendfrei waren.
"Das musst du nicht. Wirklich."
"Keine Chance. Es ist meine Pflicht, die kommende Generation der Steuerberater zu unterstützen. Du kannst es wiedergutmachen, indem du in ein paar Jahren meine Steuererklärung machst."
"Aber das wird noch eine Weile dauern."
"Kein Aber. Kommst du jetzt mit oder nicht?"
"Ich komme mit, aber nur, wenn du dein Versprechen hältst. Ich kann es kaum erwarten, mich für dich mit dem Finanzamt herumzuschlagen."
Es dauerte nur ein paar Minuten, dann hatten wir das Café in der Gietlstraße erreicht und uns einen Platz am Fenster gesichert.
"Was ist passiert?", fragte Lex, nachdem wir unsere Bestellung aufgegeben hatten.
"Es ist etwas, worüber ich nicht sprechen darf." Ich hob den Kopf und sah ihn an. "Ich habe noch einen Nebenberuf. In dem bekomme ich viele Informationen, die vertraulich sind."
"Lass mich raten. Du arbeitest heimlich als Steuerberaterin und hast einen Klienten, der Steuern hinterzieht."
Ich musste lachen. "Nein, das ist es nicht."
"Dann frage ich nicht weiter. Wenn du nicht darüber reden darfst, möchte ich dich nicht in Verlegenheit bringen."
Ich zerriss die Serviette, die vor mir lag, in winzige Fetzen. Ich wollte ihm erzählen, was passiert war. Der Vormittag hatte mich in meinen Überzeugungen erschüttert. Bisher hatte ich gedacht, ich könne den Menschen mit dem Tarot helfen. Ihnen dabei beistehen wichtige Fragen zu klären, ihren Problemen auf den Grund zu gehen und Lösungsmöglichkeiten aufzeigen. Susanna hatte mir demonstriert, wie sinnlos das war. Ich konnte ihr nicht helfen.
"Ich lege Karten", sagte ich.
"Interessant." Lex sah mir in die Augen. "Ich dachte mir schon, dass du nicht nur BWL studierst."
"Die meisten machen Witze, wenn ich erzähle, womit ich mein Studium finanziere."
"Das sind Idioten, die nicht über den Tellerrand sehen können."
"Vielleicht haben sie recht." Ich schluckte. Mit einem Mal war meine Kehle wie ausgetrocknet. Die Worte aus Susannas E-Mail geisterten durch meinen Kopf. "Eine meiner Kundinnen hat heute Morgen versucht, sich umzubringen. Ich konnte ihr nicht helfen."
"Ist sie gestorben?"
"Nein. Sie hat mir eine Abschiedsmail geschickt und ich habe mit dem Betreiber der Beratungsplattform telefoniert. Sie haben einen Krankenwagen zu ihr geschickt. Jetzt ist sie im Krankenhaus."
"Warum sagst du dann, du konntest ihr nicht helfen? Du hast ihr das Leben gerettet!"
"Kann sein. Aber mit meinen Tarotberatungen habe ich versagt. Sie hat mir versprochen, Hilfe zu suchen."
"Jana." Lex nahm meine Hand und sah mir in die Augen. "Du hast alles getan, was du tun konntest. Niemand verlangt von einer Kartenlegerin, psychologische Hilfe zu leisten. Ohne dich wäre sie tot, aber sie lebt. Das ist das Wichtige. Du hast nicht versagt, sondern einen verzweifelten Menschen gerettet und versucht, ihm mit deinen Mitteln zu helfen."
Lex' Worte nahmen eine Last von mir. Es stimmte. Ich war keine Psychologin. Ich hatte nicht die Ausbildung, jemandem zu helfen, der Depressionen oder andere psychische Probleme hatte. Mehr als Susanna zu bitten, sich professionelle Hilfe zu holen, konnte ich nicht tun. Zum ersten Mal an diesem Tag fühlte ich mich besser, im Reinen mit mir selbst und meinem Beruf.