Читать книгу Liebe in der Hochtal-Heimat: 7 Bergromane - Cedric Balmore - Страница 12
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ОглавлениеEs ist ein Abend wie alle anderen, und er läuft ab wie alle anderen. Aber Dina hat ein schweres Herz. Sie sitzt auf der niedrigen Waldbank, den Oberkörper wohlig zurückgelehnt und atmet die reine, kühle Abendluft ein.
„Lutz, du darfst nicht mehr heraufkommen“, sagt sie zu dem kleinen, schwarzhaarigen Burschen, der neben ihr sitzt und den Kopf in die Hände gestützt hält. „Die Leute reden schon. Wie leicht könnte es die Tante erfahren. Dass du aus dem Gefängnis kommst, weiß der Trenkwalder auch schon.“
Walch nickt nur stumm vor sich hin. Seine Brust atmet heftiger. Dina sieht, wie sich seine Lippen hart aufeinander pressen.
„Du hättest nicht nach Korins kommen dürfen“, sagte sie nochmals.
„Wenn mir niemand anderer Brot und Arbeit anbot als Androt. Und wenn ich keinen anderen Menschen auf der Welt habe als dich. Du weißt nicht, wie das ist, Dina. Hast du schon einmal an der Welt und den Menschen gezweifelt? So richtig und ganz gezweifelt! Wie ich nach diesen dumpfen und entsetzlichen Jahren. So ein Jahr im Gefängnis ist lang. Du weißt nicht, wie es überhaupt enden kann. Es ist ja auch gleichgültig, helfen tut einem ja doch keiner. Und dann? Nach der Entlassung? Jetzt können Sie endlich die Wahrheit sprechen, Ludwig Walch!, ermahnte mich der Gefängnisdirektor. Jetzt haben Sie es abgebüßt! Und dann die Tage auf der Landstraße! Hinter irgendeinem Zaun geschlafen! Um die Dörfer herumgegangen, damit die Gendarmen einen nicht als Vagabunden einliefern. Und um ein Stück Brot gebettelt.“
Walchs Gesicht ist blass, seine Augen sind halb geschlossen.
„Auf dem Bahnhof in Körtschach war es“, setzte Walch fort, „wo ich Androt getroffen habe. Im Wartesaal. Ich schlief dort auf einer Bank. Obdachlos?, fragte er mich. Ich brummte irgend etwas verschlafen vor mich hin. Dann holte er mich aus. Gab mir einen Schnaps aus seiner Flasche zu trinken und schnitt mir Speck und Brot ab. Dina, in solchen Minuten sieht man alles anders an. Es geht ja doch alles vorbei, denkt man. Der Mensch muss nur tüchtig essen und einmal unter einem Dach schlafen und nicht zu viel nachdenken. Nach und nach holte Androt damals aus mir alles heraus, meine Vergangenheit. Ob ich mit ihm nach Korins wolle, fragte mich Androt nachher. Teufel, dachte ich, Arbeit, Brot, und dich in der Nähe? Wenn das nicht eine Fügung war.“
Walch streicht seine schwarzen Haare zurück. Sie hängen ihm wirr über die Stirne. „Der Pferdefuß kam hintennach“, fährt er fort. „Ich hätte gerne gerackert und geschuftet bis auf den letzten Blutstropfen. Stattdessen lungere ich hier herum und warte, bis eine regenschwere Nacht kommt und mich dieser Zwerg von einem Blust mit den anderen über die Grenze schickt.“
Dina blickt an Walch vorbei. Ihre Augen liegen groß in dem blassen, traurigen Gesicht. Ihre Lider sinken ein wenig herab, große Tränen tropfen darunter hervor, rollen über die Wangen bis zu ihrem zarten Kinn.
„Und wenn sie dich festnehmen, die Grenzer?“, fragt Dina mühsam.
„Dann werde ich wenigstens nicht unschuldig ins Gefängnis kommen“, erwiderte er dumpf.
„Lutz!“ Dina fährt verzweifelt auf. Sie hört nicht, dass es hinter ihr in den Zweigen leise knackt. Sie sieht nicht die dunkle Gestalt des Androt, der sich näher schleicht und hinter einem Baumstamm Deckung nimmt.
„Kannst du es mir schwören, Lutz? Bei deiner Liebe zu mir beschwören, dass du unschuldig warst? Du hast mir nicht erzählt, wie es gekommen war! Ich muss es wissen, hörst du, ich will es wissen. Beim Andenken an meine arme Mutter will ich es wissen!“
„Also gut“, sagt Walch und senkt den Kopf. „Du sollst es auch wissen, bevor mich die Grenzer einmal abschießen wie ein flüchtendes Wild. Mit Androts Schmuggelgut im Rucksack. Als ich nach des Vaters Tod aus der Forstschule fort musste, weil niemand mehr da war, um mich zu erhalten, ist es mich härter angekommen als jemals einem anderen. Wollte ich doch Jäger werden … nicht der Stellung wegen und des Gehalts. Für mich gab es nichts Herrlicheres als die schöne, freie Jagd, meinen Wald und die Tiere des Waldes. Zuerst bin ich allein wildern gegangen. Später aber mit dem Rangetiner. Zu zweit ist es sicherer – zu zweit kann man besser auf die Jäger passen.
Dina, wenn ich auch in den Augen der Menschen ein Wilderer und Totschläger bin – was wissen die Leute von den Bergen oben? Dort ist das Leben! In den schroffen Wänden, in denen das Gamswild steht, hoch über dem dumpfen Tal! Ein Wilderer? Ja und tausendmal ja! Aber einer, der in die Knie sinkt vor all der Herrlichkeit und einer, der waidmännischer jagt als mancher angestellte Jäger. Der Rangetiner war anders! Der ist das Fleisch schießen gegangen, aus Not! Der hat eine kranke Frau und sechs Kinder zu Hause gehabt. Was ich selbst geschossen hatte, überließ ich ihm. Nicht angerührt habe ich ein Wildbret. Niemals! So bin ich halt wieder einmal mit dem Rangetiner gegangen. Wäre ich ein Jäger geworden, hätte mich der Fluch nicht treffen können. Glaube es mir, Dina, es wäre mir lieber gewesen, der Jäger hätte m i r die Todeskugel nachgejagt. Gib heute Acht, sagte der Rangetiner. Der Purtschacher, der Jäger, hat es scharf auf uns. Du musst beim Schröckenkreuz aufpassen, wenn ich in die Wand einsteige, falls der Purtschacher kommt.
Meinst du, dass ich den Jäger niederknallen soll?, fragte ich erschrocken.
Ja, was glaubst du?, sagte der Rangetiner voller Zorn. Wenn du mir nicht anders helfen kannst!
Ich weiß nicht mehr, was ich dem Rangetiner noch alles gesagt habe. Dass es eine böse Sache ist, ein Menschenleben auf dem Gewissen zu haben, und dass wir lieber in den Wald abbiegen sollen, wenn es heute nicht sicher ist. Weihnachten steht vor der Tür, erwiderte der Rangetiner bitter. Meine sechs Kinder werden kein Fleisch zu den Feiertagen haben und hungern.
Ich konnte nichts weiter machen, Dina. Ich blieb beim Schröckenkreuz, und der Rangetiner stieg in die Wand ein, um mir den Gamsbock zuzutreiben.
Richtig hatte der Purtschacher auf uns oben gepasst. Er rief den Rangetiner an: Bleib stehen, Lump, oder ich schieße! Der Rangetiner konnte nicht mehr in die Wand zurücklaufen. Es war zu spät. Der Jäger hob schon sein Gewehr.
Da schoss ich, aber ich schoss über den Purtschacher hinweg. Und der Rangetiner schoss auch. Ich dachte, wenn der Purtschacher sieht, dass er von zwei Seiten Feuer bekommt, wird er im finsteren Wald verschwinden. Bei meinem Schuss stand der Purtschacher aufrecht neben einem Felsblock, beim zweiten Schuss stürzte er die Schlucht hinab. Bei der Angerbrücke sah uns der Förster. Er kam aber nicht zum Schuss. Wir flohen in den Nasswald.
Wie ich dann mit dem Rangetiner ins Tal hinunter bin, beschwor er mich, nichts von seinem Schuss zu sagen. Sechs Kinder und eine kranke Frau. Dina! Das ging mir im Kopf herum. So habe ich halt den Schuss auf mich genommen. Und habe der Wahrheit nach gesagt, dass ich mit Absicht in die Luft geschossen habe, um uns den Rückzug in den Wald zu sichern. Dass nur ein unglücklicher Zufall die Kugel so verschlagen hätte.“
Walch schweigt jetzt, er stützt seine Schläfen in die Hände. Es ist inzwischen finster geworden, über dem Rosskamm taucht der Mond empor und hüllt die Landschaft in sein mildes Licht.
Das Entsetzen, das Dina befallen hat, ist ausgelöscht durch ein tiefes Erbarmen mit dem Mann neben ihr. Sie legt ihre Hand auf seine, die er noch immer an seiner Schläfe hält.
„Und nun?“, fragt sie ihn. „Lass ab von allem Unrechten. Ein zweites Mal wirst du keinen gnädigen Richter finden. Die Grenzer kennen kein Erbarmen. Viele von ihnen sind im Kampf mit Schmugglern gefallen.“
Walch legt seinen Arm um Dinas Schulter. Eine Zeitlang reden sie kein Wort. Es ist still geworden im Wald, nur ab und zu bewegen sich die hohen Fichten.
„Ich habe es nicht gewusst, dass der Androt solch ein Leuteschinder ist“, sagt Walch plötzlich heftig. „Dass er einen großen Schachzug vorhat, weiß ich. Was es ist, bleibt noch ungewiss. Arzneistoffe nach Italien, Goldmünzen zurück? Viele Nächte lang sollen wir alle Kisten hinauf ins Gebirge tragen. Da muss der Androt irgendwo ein Versteck haben. Und dann muss alles auf einmal hinüber. Wann es sein wird, weiß ich noch nicht.“
Dinas Augen glänzen wie im Fieber. „Du wirst es mir sagen, Lutz!“ Sie schreit es fast in ihrer Erregung. „Du musst es mir sagen. Damit ich gegen Androt etwas in der Hand habe. Er stellt mir nach! Er jagt mich wie ein Wild! Er weiß, dass wir arm und hilflos sind.“
Plötzlich fährt Dina hemm. Im Wald hat es laut geknackt, als ob jemand auf einen dürren Ast getreten wäre, in ihrer nächsten Nähe.
Walch springt auf und tastet sich durch das dunkle Dickicht. Es ist nichts zu hören, wenn er stehenbleibt und den Atem anhält. Walch sucht die nächsten Bäume ab und findet nichts. Androt steht hinter einer Jungtanne und atmet beklommen. Als keine zehn Meter neben ihm Walch durch das Dickicht kriecht, spürt Androt, wie sein Gesicht erstarrt, eine unheimliche Kalte durchzieht ihn. Er streicht sich mit der Hand über das Gesicht.
Erst als Walch endlich mit Dina gegen das Haus zu verschwunden ist, schleicht Androt weiter.
Im Auracher Haus brennt noch Licht.
„Es wird ein Reh gewesen sein“, tröstet Walch das Mädchen. „Wer hätte etwas im dunklen Wald verloren?“
Dina hebt den Kopf und reicht Walch die Hand.
„Leb wohl“, sagt sie leise, fast aus erstickter Kehle. „Wir dürfen uns nicht mehr sehen. Ich habe dein Versprechen!“
„Nein, Dina“, bittet Walch. Er gibt ihre Hand nicht frei. „Ich lasse dich nicht so gehen. Ich brauche dich, Dina! Denke an meine Jahre in der Zelle!“
„Nein“, sagt Dina mit fester Stimme. „Es kann nicht sein! Es darf nicht sein!“