Читать книгу Liebe in der Hochtal-Heimat: 7 Bergromane - Cedric Balmore - Страница 18
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ОглавлениеDina schließt die Augen und lehnt sich an einen Felsblock mit schwerem, schmerzhaft summendem Kopf. Wie Blei sind ihre Füße nach der schlaflosen, durchwachten Nacht. Sie streicht die verdrückten Ärmel glatt, aus denen sie in aller Eile die Blutspuren gewaschen hat. Endlich steigt sie weiter. Nach dem Stand der Sonne über dem Trafon schätzt Dina, dass es schon auf acht Uhr morgens gehen muss. Sie sieht die kleine Hütte der meteorologischen Station dicht vor sich. Jetzt kommt ihr der Hund entgegengesprungen, er bellt laut vor Freude und begleitet sie schweifwedelnd zur Hütte.
Wenig später tritt Dina durch die Tür. Peer sitzt an seinem Arbeitstisch, in eine Aufzeichnung vertieft.
„So spät heute?“, fragt er und schiebt die Tabellen zur Seite. „Wie siehst du aus, Dina? Deine Augen sind ganz verändert! Ist etwas geschehen?“ Er gibt ihre Hand nicht frei und blickt das Mädchen prüfend an.
„Sage mir, was du erlebt hast“, bittet er. „Ich fühle, dass es etwas Schweres sein muss. Wenn es aber etwas ganz Schlimmes ist, das du mir nicht erzählen kannst, so sage es nicht. Ich muss es nicht wissen. Ich habe dich doch lieb und fühle auch dann mit dir.“
Peer hält Dina fest mit einem Arm umspannt, als wolle er sie vor dem Zusammensinken schützen.
Dina regt sich nicht. Sie möchte ihm etwas sagen, sie möchte ihm für so viel Rücksicht danken. Sie bringt aber kaum einige Worte hervor.
„Du Lieber, Guter, du – ich werde es dir einmal sagen – später einmal. Ich kann es jetzt nicht.“
„Dina, Kind“, sagt er leise und zieht sie sanft an sich. Mit ihren tränennassen Augen forscht sie in seinen Zügen.
„Wie soll ich dir danken für alles, was du an mir Gutes tust?“
Sie neigt das Gesicht ihm zu, dann drückt sie ihre Lippen auf seinen Mund, ehe er sich noch besinnen kann.
„Kommen – kommen oft Schmuggler zu dir?“, fragt Dina plötzlich, als ob sie ein bestimmter Gedanke quälen würde.
Peer lächelt. „Manchmal schon, der eine oder andere! Sie sind die einzigen Menschen, denen ich helfen kann, ohne mich selbst zu gefährden. Sie halten dicht, wenn sie im Kampf mit Grenzern verletzt werden. Schon ihretwegen.“
„Und du – du hast ihnen wirklich geholfen?“
Peer lässt Dina sachte aus seinen Armen gleiten und greift nach einer Schachtel. Er stellt sie auf den Tisch und entnimmt ihr eine Reihe kleiner, grauer und schwarzer Klumpen.
„Was ist das?“, fragt Dina. „Wurzeln oder Steinchen?“
Peer legt einige solcher Klumpen in ihre geöffnete Hand. Sie fühlen sich kalt und schwer an.
„Also doch Steine?“, meint Dina und betrachtet die wunderlichen Formen. „Und so schwer wie Blei!“
„Sie sind auch aus Blei“, erklärt Peer lächelnd. „Gewehrgeschosse – aus den Stutzen der Grenzer und Gendarmen.“
„Du hast sie gefunden?“
„Mit meinen Sonden. Herausgeschnitten aus warmem, lebendigem Fleisch.“ Peer merkt, wie Dina am ganzen Körper zittert.
„Ich hätte dir vertrauen sollen“, sagt sie, mehr zu sich selbst. „Ich hätte zu dir kommen müssen.“
„Was meinst du? Ich verstehe dich nicht!“
„Nichts, es ist nichts.“ Dina streicht sich mit der Hand über die heiße Stirne. „Ich denke nur, was diese kleinen Stücke da alles erzählen könnten! Glaubst du, dass Schmuggler schlechte Menschen sind.“
Peer lächelt. „Kind – so einfach kann man diese Frage nicht beantworten. Es gibt überall gute und schlechte Menschen. In jedem Land, in jeder Nation, in allen Berufen, in allen Lebenslagen. Es muss nicht jeder schlecht sein, der sich in den Maschen des Gesetzes verstrickt.“
Peer hat es ganz ruhig gesprochen und erschrickt jetzt, als er sieht, welche Wirkung seine Worte auf Dina ausgeübt haben.
Regungslos sitzt sie da, das glühende Gesicht gegen das Fenster gepresst. Peer ist verwirrt, er denkt nach, was Dina so erregen konnte.
Diese wird plötzlich von wilder Angst erfasst. Kalte Schweißperlen treten auf ihre Stirne, sie greift nach Peers Hand. Stoßweise kommt es über ihre Lippen.
„Hilf mir, Hannes! Hilf mir, wenn Androt mich bedrängen wird! Ich hasse ihn! Er will mich vernichten, wie er den – wie er andere vernichtet hat.“
Peer sieht, wie ihr Gesicht aschfahl geworden ist.
„Ich werde dir helfen – immer“, erwidert er. „Und ist das – ist das alles, was du mir sagen willst?“
Dina schweigt.
„Dina, ich bitte dich, sage es mir aufrichtig und ehrlich. Gibt es noch etwas anderes, das zwischen uns steht?“
„Nein, Hannes. Nichts – es ist nichts. Weder zwischen uns, noch sonst etwas.“ Ein Rauschen ist um Dina. Sie weiß nicht mehr, was sie tut. Sie muss die Arme um Peers Hals schlingen, ihre glühenden, zitternden Lippen suchen seinen Mund. Sie küsst ihn, wie man sonst nur jemand in Verzweiflung küsst. Zum letzten, ewigen Abschied.
„Gib mich jetzt frei“, flüstert sie, als seine Arme sie festhalten.
„Nein, Dina! Dieses eine Mal, dieses eine Mal will ich deine Nähe fühlen. Ich habe dich ja lieb!“
Ihr Widerstand erstirbt in seinen Armen, einige Sekunden liegt sie willenlos an seiner Brust. Dann sagt sie leise: „Ich danke dir, Hannes – für alles danke ich dir! Und denke nie schlecht von mir.“
Als Dina eine Stunde später das Haus ihrer Tante betritt, steht diese schon im Gang und blickt aus geröteten, verzweifelten Augen auf das Mädchen.
„Der Veit ist in der Stube“, raunt sie Dina zu. „Und der Gendarm, der Patscheider!“
„Der Postenkommandant?“ Dina spürt, wie sich ihr Herz krampfhaft zusammenzieht. Sie wirft den Korb in einen Winkel und eilt in die Stube.
Veit dreht sich Dina zu, er sieht sie kurz an und sagt dann nüchtern: „Der Postenkommandant wartet schon auf dich. Ist jemand heute Nacht bei dir gewesen? In deiner Kammer?“
Dina taumelt zurück, als hätte sie jemand geschlagen. Sie fühlt, wie ihr alles Blut zu Kopf schießt.
„Bei mir in der Kammer?“ Dina wiederholt die Frage, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. „Bei mir war niemand. Seit wann schätzt man mich derartig ein?“
„Dina, es geht um eine ernste Sache“, erwidert Veit. „Ich frage dich jetzt in meiner amtlichen Eigenschaft als Gemeindevorsteher. Es handelt sich um keine Zusammenkunft eines Liebespaares, es geht um mehr, um ein Verbrechen. Wir haben heute morgen den Arbeiter Ludwig Walch sterbend am Straßenrand aufgefunden. Zwischen Korins und Unterachen. Und man hat Blutspuren gefunden, die vom Wald zu eurem Hause hier führten.“
Dina richtet sich auf. „Ich habe gestern von der Windbichler Gertrud einen Hasen bekommen. Den trug ich in die Speisekammer. Glaubt man vielleicht, dass ich jemand ermordet habe?“
Dina zwingt sich zu einem trotzigen Lächeln.
„Nein, das natürlich nicht“, fällt ihr der Postenkommandant ins Wort. „Aber dass Sie einen Schmuggler beherbergt haben, an dem möglicherweise einer ein Verbrechen begangen hat.“
„Du kannst es ruhig zugeben“, setzt Veit hinzu. „Du hast nichts Ungesetzliches getan. Du brauchst ja auch nicht gewusst zu haben, wie dieser Walch verletzt wurde, und dass er ein Schmuggler war. Wir wollen nur auf die Zusammenhänge kommen. Wir tappen diesmal völlig im Dunkeln. Es dreht sich nicht um den Schmuggel selbst. Wer nicht auf frischer Tat beim Schmuggeln ertappt wird, kann nicht verfolgt werden. Wir wollen nur wissen, ob nicht jemand an dem Walch ein Verbrechen verübt hat, und in wessen Auftrag er geschmuggelt hat. Er ist am Abend zuvor unter dem Larennjoch gesehen worden.“
„Ich weiß es nicht“, sagt Dina, schon sicherer. „Ich habe um sechs Uhr früh unser Haus verlassen, um Milch und Butter, auf die Stationshütte zu bringen. Ihr könnt Peer fragen. Mehr kann ich nicht sagen. Du kannst meine Kammer durchsuchen!“
„Das ist bereits geschehen“, erwidert Veit.
„Und?“ Dina blickt ihn unsicher an.
„Es hat sich nichts gefunden. Bis auf einige Blutspuren am Waschtisch.“
„Da – sieh das an!“ Dina zeigt den beiden ihre rechte Hand. „Beim Ausweiden des Hasens habe ich mich geschnitten.“
Sie reißt ein kleines Pflaster vom Finger. Die Männer sehen die Schnittwunde, die noch kaum verkrustet ist. Der Postenkommandant zuckt die Achseln und sieht Veit fragend an.
„Ich glaube, wir verlieren hier nur unnötig die Zeit.“ Patscheider blickt auf seine Armbanduhr. Dann richtet er seinen Gürtel mit der schweren Pistolentasche und steht auf. „Ich warte draußen auf Sie“, sagt er zu Veit und geht voraus.
„Seit wann rauchst du Zigaretten?“, fragt Veit jetzt Dina leise. Er zeigt ihr einen Stummel.
Dina schreckt auf. „Wo – wie hast du das gefunden?“
„An der Türschwelle deiner Kammer.“
„Ich habe es eben einmal versucht“, sagt sie eiskalt.
„Wer hat sie dir gegeben?“
„Hannes Peer.“
„Gehen wir, Trenkwalder!“, ruft von draußen die Stimme Patscheiders.
Veit reicht Dina die Hand, als er geht. Vor dem Hause brummt ihn Patscheider an.
„Ich gehe jetzt meinen Bericht machen. Ich glaube ohnehin an kein Verbrechen. Walch ist wohl ein angeschossener Wilderer. Der Arzt hat später den Toten genau untersucht. Der Schulterschuss war nicht lebensgefährlich. Einige Hautverletzungen zeigten, dass Walch mit dem Kopf auf Steine aufgeschlagen sein muss, als er tags zuvor verletzt wurde. Der Arzt sagt, dass eine innere Blutung langsam und allmählich den Gehirnraum erfüllt hat. An dieser starb Walch auf dem Weg nach Unterachen.“
„Ich dachte es mir“, sagte Veit. „Als man mich holte, kam ich gerade zurecht, wie Walch starb. Die Schulterwunde blutete nicht einmal.“
„Gehen Sie zum Förster hinauf, Trenkwalder. Fragen Sie, ob die Sache mit dem Hasen stimmt. Für alle Fälle. Ich habe Wichtigeres zu tun.“
Es schlägt eben zwölf Uhr von dem kleinen Kirchturm, als Dina den Werkhof betritt und plötzlich vor Androt steht.
„Nun, meine liebe Dina?“, redet Androt sie an. „Pünktlich heute zur Arbeit gekommen? Das ist lobenswert, sehr lobenswert. Hast du dir die Sache schon überlegt, mit der neuen Stellung? Ich bin jetzt sehr zufrieden mit dir, außerordentlich. Die Wolltabellen stimmen wunderbar mit der neuen Methode! Ganz genau stimmen sie. Ich will hoffen, dass zwischen uns beiden auch weiterhin alles stimmen wird!“
Dina gibt Androt keine Antwort. Sie wirft den Kopf hoch und geht weiter durch den Hof in das Magazin, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Das Magazin ist leer, bis ein Uhr ist der Einkauf gesperrt.
Dina wirft sich in dem Halbdunkel des großen Gewölbes fassungslos auf einen Haufen Schafwolle und vergräbt das heiße Gesicht in beide Hände. Ihr Körper zittert, während sie krampfhaft schluchzt.
Jetzt erst bricht sie zusammen.