Читать книгу Liebe in der Hochtal-Heimat: 7 Bergromane - Cedric Balmore - Страница 8
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Оглавление„Schicken Sie mir die Falk!“, befiehlt Andren dem kleinen grauhaarigen Buchhalter Blust, der mit seinen stets etwas zusammengekniffenen Augen neben dem Chef steht. Auf dem Schreibtisch liegt ein Stoß Abrechnungslisten.
„Die Dina?“, fragt der Buchhalter. „Sie arbeitet doch nur halbtags im Wollmagazin, weil sie in der Wirtschaft ihrer Tante hilft.“ Androt, Inhaber der kleinen Schafwollspinnerei und Lodenweberei Josef Androt, blickt verärgert auf den kleinen Buchhalter. „Weiß ich doch auch, Blust. Sie schwätzen wieder einmal zu viel. Wann hat Dina ihre Schicht?“
„Um zwölf.“
Androt beugt sich wieder über seine Listen. „Also gut, wenn sie kommt, gleich zu mir. Sie können heute früher essen gehen.“
„Ich habe doch mein Frühstück mit …“
„Verstehen Sie mich nicht, zum Teufel?“, begehrt Androt auf. „Sie sollen verschwinden, wenn die Falk kommt.“
„Verschwinden? Natürlich, ich verstehe“, stottert Blust dienstbeflissen.
„Endlich!“ Androt lehnt sich zurück und meint ruhig, aber etwas scharf von oben herab: „Die Einkaufsabteilung muss anders arbeiten. Ich habe mich nicht in das Korinser Hochtal gesetzt, um teurer zu arbeiten als die großen Spinnereien in den Städten. In fünf Jahren muss mein Werk amortisiert sein. Erst dann bin ich konkurrenzfähig. Bis dahin müssen wir die Einkaufspreise drücken. Diese Gebirgsbauern glauben, dass sie mich in der Hand haben mit ihrer schmutzigen Schafwolle!“
„Gewiss, gewiss“, beeilt sich der kleine Grauhaarige zu versichern. „Dabei glauben ihre Töchter, dass sie vollwertige Spinnerinnen ersetzen können.“
Androt blickt von seinen Listen auf. Sein Gesicht ist glatt rasiert, die Haare, die stark nach Pomade duften, sind sorgfältig zu einem Scheitel gekämmt.
Eine Spinnerei und Lodenweberei kann im Gebirge nicht ohne schafhaltende Bauern bestehen“, meint er nachdenklich. „Mein Vater hat das schon gewusst. Diese Gebirgler arbeiten mehr als primitiv. Sie scheren die Schafe mit der Hand. Die Schafwolle, die wir einkaufen, besteht zu fünfzig Prozent aus Fett, Staub und Salz. Nach dem Waschen haben wir kaum die Hälfte! Auf Pottasche und Wollfett können wir diese Wolle nicht verarbeiten. Daher …“
„… unsere gewissen Nebengeschäfte!“, wirft Blust ein.
„Nicht mehr lange, nicht mehr lange, mein Lieber!“ Androt schiebt die Verrechnungslisten mit einer heftigen Bewegung von sich. „Dann können wir die neuen Krempelmaschinen kaufen. Und die modernen Webstühle. Dann wird hier in Korins ein anderes Leben einziehen. Zwei Drittel der Leute werden entbehrlich sein. Die Konkurrenz in Vergassen und Körtschach wird Augen machen. Josef Androt baut eine moderne Lodenweberei! Dessen Vater mit alten Lumpen angefangen hat! Der kleine Josef Androt, den sie als Zugewanderten nicht einmal grüßen! Diese hochmütige Bande! Dann werden sie grüßen müssen!“
„Müssen“, schreit Androt nochmals und richtet den Oberkörper herausfordernd auf. „Und Sie, Blust, werden dann Betriebsleiter! Vor dem jeder Bauer den Hut ziehen muss, wenn er noch so staubige Wolle an den Mann bringen will. Sie sind ja auch keiner von hier. Im Gasthaus setzt sich niemand an Ihren Tisch, warum?“
„Das ist meine Sache.“ Blusts Stimme ist klanglos. „Wann soll es wieder losgehen?“ Blust blickt aus dem Fenster gegen die Bergkämme hinauf. „Oben ist schon alles schneefrei, hat mir der Nagiller gestern berichtet.“
„Nichts weiter jetzt“, wehrt Androt ab. „Mit den kleinlichen, alten Methoden wollen wir nicht weiter arbeiten. Große Schläge auf einmal! Ich habe da meine eigenen Pläne. Zahlen Sie nur reichlich Vorschüsse aus. Wer Vorschuss nimmt, den hat man in der Hand.“
Androt sieht völlig verändert aus. Am Ende seines gefahrvollen Weges steht ein Mädchen; groß, schlank – mit glänzenden, blauen Augen – Dina!
Androt spürt, wie seine Hände zittern. Immer überfällt ihn die quälende Angst, die er um Dina leidet; die Verzweiflung, dass ein anderer ihm vielleicht schon zuvor gekommen sei.
„Der neue Bürgermeister gefällt mir nicht!“ Androt schreckt bei den Worten seines Buchhalters auf.
„Der Trenkwalder Veit?“
Blust beißt die Spitze einer Zigarre ab und spuckt die Blätter ungeniert in die Ofenecke. „Hat man jemals gehört, dass die Korinser einen Achtundzwanzigjährigen zum Gemeindevorsteher wählten? Mit dem alten Vinatzer konnten wir tun, was wir wollten. Der hat uns weder in die Lohnlisten hineingespuckt, noch in unsere anderen Geschäfte. Der war zu alt und krank dazu. Der Trenkwalder ist uns nicht gut gesinnt, Chef!“
Im Hof heult eine Sirene. Schichtwechsel in der Lodenweberei Josef Androt!
Mehr als zwei Dutzend Halbtagsarbeiterinnen strömen dem großen hölzernen Gittertor zu.
Blust ist verschwunden. Es dauert einige Minuten, bis er mit Dina Falk zurückkommt.
„Der Chef ist hier“, sagt er zu dem jungen Mädchen und schiebt es zur Tür hinein.
Androt ist aufgestanden und durchwandert mit unruhigen Schritten einige Male den nüchtern ausgestatteten Büroraum.
Dina steht vor Androt, sie hält den Kopf mit dem lockigen Haar leicht geneigt. Der Blick ihrer Augen ruht auf den um den Griff spielenden Fingern.
Androt überlegt, wie er beginnen soll. Sein Blick mustert das schlanke Mädchen von der Seite.
Androt dreht sich um und geht zu seinem Schreibtisch zurück.
„Hör mich einmal an“, sagt er endlich. Androt duzt Dina wie alle jungen Bauernmädchen, die in der Spinnerei und Weberei arbeiten. „Die Krempler beschweren sich über die eingelieferte Schafwolle. Der Abfall erreicht bereits siebzig Prozent Staub und Fett. So kann das nicht weitergehen.“
„Was soll ich da tun?“ Dinas Stimme ist klar, nur jetzt ein wenig verwundert.
„Wir müssen die Spesen herabsetzen. In erster Linie beim Wolleinkauf.“
„Die Schafwolle wird doch abgewogen“, meint Dina erstaunt. „Die Bauern bekommen für ihre Wolle nach dem Tarif ihre Meteranzahl an Lodenstoff. Oder Bargeld. Was kann ich dazu tun?“
Androt lacht ein wenig, als ob ihn die Naivität des Mädchens erheitern würde. „Ganz richtig, mein Kind. Die Gewichtspreise sind vorgeschrieben. An denen lässt sich nichts ändern, sonst schreien sie auf den Berghöfen Zeter und Mordio. Warum habe ich aber eine Zeigerwaage angeschafft, deren Scheibe nach innen gerichtet ist?“
Dina wagt Androt kaum anzusehen. Sie würgt an der Antwort, die sie sich in wenigen Sekunden zurechtgelegt hat.
„Nun?“, fragt er schneidend.
Jetzt kann Dina nicht mehr länger schweigen.
„Sie wollen also … Sie wollen, dass ich ein falsches Gewicht eintrage? Die Bauern betrüge?“
„Aber Dina!“ Androt lacht herzlich auf. „Welch scharfe Worte! Betrügen, falsches Gewicht! Das ist doch Unsinn. Du weißt, wie staubig die Bauernwolle ist. Frag drüben in der Wäscherei nur nach. Wir kalkulieren einfach von vornherein Gewichtsverlust ein. Sagen wir – zehn Prozent.“
Dina weiß nicht, was sie erwidern soll. Sie ist klug und arbeitet schon ein Jahr in der Spinnerei, seitdem sie zu ihrer Tante nach Korins gekommen ist.
„Der Staub- und Fettinhalt ist doch schon im Einkaufspreis berücksichtigt“, meint Dina.
„Da ist eben zu wenig bei dieser verfilzten Schafwolle! Deswegen müssen wir die Spanne erhöhen. Damit aber die Leute nicht zu schreien anfangen, gebe ich dir einfach den Auftrag, vom Gewicht weitere zehn Prozent abzuziehen. Ich hoffe, dass du mich verstanden hast.“
„Das habe ich freilich nicht gewusst“, sagt Dina kleinlaut. „Und ich darf es den Leuten nicht sagen?“
„Natürlich nicht. Das wäre Vertrauensbruch. Darauf steht Entlassung.“
Dina spürt, wie ihr Herz klopft. Sie weiß, wie bitter nötig die Tante die kleinen Zuschüsse braucht, die Dina für ihre Halbtagsarbeit verdient. Die kleine Wirtschaft der Tante trägt kaum das Gras für die eine Kuh und die wenigen Ziegen.
Dina sieht nicht das triumphierende Eicheln, das jetzt Androts Gesicht überfliegt.
„Eines für das andere“, sagt Androt nach einer Weile. „Du sollst dafür auch etwas haben.“
„Ich? Wofür denn?“ Dina schüttelt verwundert den Kopf.
„Eine Zulage für die Vertrauensstellung, Tageslohn für Halbtagsarbeit!“
Androt fasst Dinas Arm, er zieht sie neben sich auf den Sessel, den er freigegeben hat, und nähert sein glühendes Gesicht dem ihren.
„Höre mich an, Dina. Glaube nicht, dass ich so einer bin, der einem Mädchen falsche Versprechungen macht. Du sollst es gut haben bei mir – besser als alle anderen. Ich biete dir später eine Lebensstellung. Wenn erst die neuen Maschinen kommen, die Krempelmaschinen und modernen Webstühle … wenn wir groß geworden sind! Ein schönes Gehalt bekommst du, eine selbständige Beschäftigung, nur lieb sollst du zu mir sein, Dina … nur ein wenig lieb sein!“
Androts Stimme ist in seiner Erregung undeutlich, belegt, er flüstert es Dina in die Ohren. Er schlingt den Arm um Dina und zieht sie an sich heran.
Dina ist so erschrocken, dass sie vergisst, sich zu wehren. Es ist ihr, als hätte sie Blei in den Adern. Sie will schreien, aber sie kämpft ihre Angst nieder. Alles Elend ihres Waisentums, die Sorgen der Tante, die Angst vor einer neuen, ungewissen Zukunft kommt über sie. Sie kämpft ihre Erregung nieder und windet sich ohne einen Laut aus seinem Arm.
„Ach, bitte nicht, Herr Androt … nicht hier … in der Fabrik.“
„Also gut!“ Androt gibt Dina frei. „Sage, wann? Wo können wir uns treffen?“
„Es geht nicht, so lange ich noch bei der Tante bin.“ Nur stockend gibt Dina in ihrer Angst Antwort.
„In einem Monat wird der neue Magazin-Trakt fertig“, erklärt Androt hastig. „Du kannst dort im oberen Stockwerk eine kleine Wohnung bekommen. Zwei Zimmer und eine Wohnküche. Die künftige Einkaufsleiterin muss in der Fabrik wohnen.“
In einem Monat? Und eine Werkswohnung in der Fabrik, denkt sie immer wieder. Niemals! Aber wie – wie nur?
Dina denkt ein Jahr zurück, wie sie nach Korins gekommen war. In der arbeitsreichsten Zeit, die den Roggen reifen und die Wiesen gemäht sah.
Sie hatte Melken gelernt und den Heuhaufen zu setzen, der nicht zu breit sein durfte, damit ihn der Wind nicht zerzauste. Wie man die Garben binden musste und die Sense richtig halten, das Säen und Mähen!
Und dann die Arbeit in der Spinnerei und Weberei. Bei der Waschmaschine hatte Dina angefangen und bei den Garnspulen.
„Hörst du das Gras wachsen?“, fragt plötzlich eine Stimme.
Dina fährt erschrocken herum. Als sie Gertrud erblickt, die dunkelhäutige Tochter des Försters, hellt sich Dinas Gesicht auf. „Ich habe dich gar nicht kommen hören?“
„Na, wie eine Elfe bin ich nicht gerade über die Wiese geschwebt“, sagt das stämmige junge Mädchen, dessen Wangen rot vom raschen Steigen glühen. „Du machst ja ein Gesicht wie zehn Tage Regenwetter. Hat dir der Androt vielleicht gekündigt?“
„Das gerade nicht. Aber die Leiterin der Wolleinkaufsabteilung soll ich werden!“
„Leiterin!“ Gertrud schlägt die Hände zusammen. Dann hört sie sich den Bericht Dinas an, zuerst ungläubig mit staunendem Lächeln, dann voll Empörung.
„Er hätte meine Hand zu spüren bekommen!“, meint Gertrud dann und stemmt ihre kräftigen, nackten Arme in die Hüften.
„Und wir den Hunger!“, setzt Dina hinzu.
Jetzt packt Gertrud Dinas Arm. „Du – ich muss mit meinem Vater reden. Ich glaube, der weiß irgend etwas von Androt. Zumindest hat er einen Verdacht …“
„Aber geh“, wehrt Dina ab. „Der reiche Androt wird gewiss nicht wildern. Was sollte sonst dein Vater mit ihm zu tun haben?“
Gertrud setzt sich neben das Mädchen. „Gewisses weiß ich ja auch nicht. Der Androt ist einer, der zwei Leben führt, hat mein Vater neulich gesagt.“
Dina hat plötzlich ein Zittern in den Gliedern, einen Frost, der sie die Zähne aufeinander schlagen lässt. Dann schüttelt sie den Kopf. „Unsinn, Gertrud. Der Androt kann sich die schönste und größte Jagd pachten. Dem kommt keiner sobald an. Geschweige ein armes Mädel wie ich es bin. Wie kann ich, nach dem, was er mir angeboten hat, anderen Menschen unter die Augen treten? Dem Hannes – oder dem Veit?“
Gertrud blickt Dina prüfend an. Was mochte Dina empfinden? Wie schwer musste sie an dieser Last tragen?
„Dina, ich will dir treu zur Seite stehen“, sagt Gertrud und greift nach ihrer Hand. „Ich will dir tragen helfen. Und meinem Vater werde ich zusetzen. Der muss mir sagen, was er für einen Verdacht hat. Dem Hannes musst du ja einstweilen nichts davon sagen und dem Veit auch nicht. Liegt dir denn so viel an dem Veit?“
Zwei Augen blickten Dina an, wie in Angst vor der Antwort. Aber Dina schüttelt nur den Kopf.
Gertrud möchte Dina so gerne noch etwas fragen. Aber ihr Stolz bringt es nicht über die Lippen.
„Frage doch den Meteor um Rat!“, meint Gertrud jetzt aufrichtig. „Er ist dir gut und meint es sicher ehrlich. Und klug ist er auch. Er ist doch ein Studierter!“
„Hannes Peer fragen?“ Die Röte der Scham steigt Dina in das Gesicht, wenn sie nur daran denkt. „Da würde ich nie über mich bringen.“
Dina denkt an den stillen, in sich gekehrten Menschen, der oben am Wildgrat in seiner meteorologischen Station haust, Jahr für Jahr, Winter und Sommer, Tag und Nacht, ohne jemals ins Tal zu kommen.
Dinas Lippen sind fest geschlossen und stehen wie ein schmaler Strich in dem blassen Gesicht.
„Nein, Gertrud. Wenn ich darüber nachdenke, so könnte ich mich eher Veit anvertrauen. Vor Hannes habe ich eine Scheu … ich kann es dir nicht sagen, warum. Aber bei Veit, da kann ich alles so erzählen, wie man es einem Bruder erzählt, frei vom Herzen weg. Und dann ist Veit ja der Bürgermeister. Wenn mir einer helfen kann, dann ist es Veit.“
Gertrud grübelt vor sich hin. Ein Schmerz bricht in ihrem Herzen auf.
Sie reicht Dina die Hand. „Mein Wort hast du, Dina! Ich werde aus meinem Vater schon herausbekommen, was es mit Androt für eine Bewandtnis hat. Und helfen will ich dir dann auch. Leb wohl für heute!“ Gedankenverloren geht Gertrud weiter dem Walde zu. Am Waldrand dreht sie sich noch einmal um und wirkt der Freundin zu.