Читать книгу Liebe in der Hochtal-Heimat: 7 Bergromane - Cedric Balmore - Страница 31
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ОглавлениеPeer fährt auf.
„Dina!“, ruft er schlaftrunken. Keine Antwort.
Es ist niemand mehr da. Nur Tasso, der Schäferhund, winselt im Schlafe.
Peer steht leise auf, er sieht sich verwundert um. Dann geht er langsam in die Kammer nebenan. Dina steht vor Veits Bett und richtet seine Polster.
„Veit hat gerufen“, erklärt sie Peer ohne Scheu, als sie seinen fragenden Blick auf sich gerichtet fühlt. „Er hat Schmerzen.“
Peer fühlt den Puls des Liegenden, „Das Herz ist in Ordnung“, stellt er mit Befriedigung fest. Dann tastet er vorsichtig den Verband ab. „Es ist nur eine natürliche Reaktion“, beruhigt er Dina.
Veit richtet sich ein wenig auf. Er blickt die beiden Menschen an, die vor seinem Bett stehen, dicht beieinander.
„Ich kann nicht mehr schlafen“, gesteht er mit matter Stimme. „Es plagen mich die Gedanken. Ich weiß, was du für mich opfern willst, Hannes. Und dass ich dieses Opfer nicht annehmen kann. Ich müsste mich immer verachten. Und andererseits habe ich einen Eid geschworen! Früher oder später wird mich einer verraten. Ob es Nagiller ist oder ein anderer – hundert böse Stimmen raunen mir teuflische Gedanken in die Ohren: Tu es – tu es nicht – tu es!“
Peer tritt näher an den Kranken heran. „Veit – lass das Grübeln. Ich werde dir jetzt etwas sagen, hier vor Dina sagen. Ob du Bürgermeister bleiben willst oder nicht, ist mir gleichgültig. Ob du irgend einen erzwungenen Amtseid nicht ohne Gewissensbisse brechen kannst oder nicht, ist mir ebenso gleichgültig. Nicht gleichgültig ist es mir aber, dass du unter diesem Zwiespalt zugrunde gehen wirst! Denn was immer du tust, wirst du bereuen. Es wird dich verfolgen, quäken. Nein, Veit. Aus diesem Konflikt werde ich dich erlösen. Darum höre mich an, was ich dir jetzt feierlich verkünde: Was immer du tun oder nicht tun wirst: Morgen früh steige ich ins Tal, und ich werde mich dem Postenkommandanten stellen. Mich selbst stellen, ohne große Worte. Ich werde sagen, dass der Mann, der laut Fahndungsblatt 4883 gesucht wird, vor ihm steht. Der ehemalige chirurgische Assistent an der Poliklinik Doktor Johannes Bacher. Der Mann, den die Behörden seit mehr als zwei Jahren suchen! Bleib ruhig liegen! Bewege deinen Arm nicht, das schadet dir. Du kannst mich nicht von meinem Entschluss abbringen. Du auch nicht, liebe Dina. Ich habe mich dazu durchgerungen, und so soll es bleiben.“
Dina schließt die Augen vor Schreck und Erschütterung. Sie sind jetzt matt und glanzlos. Sie taumelt. Peer muss sie stützen. Dina lässt sich von ihm in die Stube hinausführen wie eine Schlafwandlerin. Sie merkt gar nicht, dass der Hund auf sie zukommt und seinen weichen Kopf in ihren Schoß legt.
Peer geht an den Fernsprecher und dreht die Kurbel. Grell klingt die Glocke auf.
Endlich meldet sich am anderen Ende der Leitung eine Stimme. Peer spricht einige Worte hinein.
„Geben Sie sofort weiter … an die meteorologische Anstalt. Sofort Ablösung – der Beobachter Peer ist erkrankt… er muss morgen zu Tal.“
„So, jetzt ist auch das zu Ende“, sagt Peer traurig. „Das war das Bitterste. Oder doch nicht ganz.“
„Was gibt es noch?“, fragt Dina mit nassen Augen.
„Dass du ein Leid im Herzen trägst, an dem ich keinen Anteil habe.“
„Hannes!“ Dina fasst ihn am Arm, als ob sie ihn für immer festhalten müsste. „Ich weiß, woran du denkst. Ich weiß auch, dass ich längst hätte sprechen müssen. Zu dir sprechen. Und doch war immer etwas in mir, das mir den Mund verschloss. Eine Scham …“
„Nicht, Dina! Du brauchst es mir nicht zu sagen. Ich ahne es ohnehin. Ich habe, als einmal Veit mit mir darüber sprach, ihm gesagt, dass du reinen Herzens bist.“
„Veit hat mit dir darüber gesprochen? Er weiß doch nichts! Er kann es doch nicht wissen!“
Jetzt ist Peer aufmerksam geworden. Er blickt Dina verständnislos an.
Sie zittert am ganzen Körper und muss sich zwingen, nicht laut aufzuschluchzen. „Ludwig Walch ist ein Sohn meiner Mutter! Mein Stiefbruder!“
Peer blickt tief erschüttert auf das verstörte Mädchen. Dann richtet es den gesenkten Kopf wieder auf und sagt fast stolz: „Um meiner toten Mutter willen sollte nie, nie jemand etwas davon erfahren. Lutz kam aus dem Gefängnis – es war ein Zufall, dass er hernach in die Hände Androts geriet und dieser ihn nach Korins brachte. Aus dem Wilddieb wurde ein Schmuggler! Das verschloss mir den Mund.“
„Und warum – warum hast du jetzt zu mir gesprochen?“
„Durch die Angst um dich ist heute die Vergangenheit in mir ausgelöscht! Ich fühle mich frei von falscher Scham … vor dir frei!“
„Dina, liebe, gute, arme Dina!“ Peer zieht sie an sich. Im Klang seiner Worte ist alles an Liebe, Vertrauen und Glauben enthalten.
Sie lehnt sich an ihn und lächelt ihn glückselig an. Mit halb geöffneten Lippen, mit strahlenden Augen, wie er sie noch nie an ihr gesehen.
Gleich darauf hat sich Peer wieder in der Gewalt. Nur jetzt nicht daran denken, sagt er zu sich selbst. Der Traum ist zu Ende, bevor er begonnen hat. Nur vergessen, nur jetzt Dina vergessen, hämmert es in seinem Gehirn. Es ist vorbei – ein für allemal vorbei.
Peer denkt an seine blinde Mutter. Er hat in diesen zwei Jahren etwas erspart. Für die Zeit seiner Gefängnisstrafe würde es für die alte Frau reichen. Wie immer die Richter ihn beurteilen würden: Lautere Motive mussten sie ihm zugestehen. Dass man ihn für unschuldig erklären könnte, kam nicht mehr in Betracht. Nach seiner Flucht und Verborgenheit nicht mehr.
Und nachher? Nachher würde er für seine Mutter sorgen. Von vorne anfangen, wenn es sein müsste, als Holzfäller.
Dieses Mädchen an seiner Seite durfte er nicht in dieses Elend ziehen.
Sein Schicksal hieß nicht Dina.
„Nun ist auch dein Traum zu Ende geträumt, liebe, kleine Dina“, sagt er erwachend.
„Hannes, lasse ihn mir, diesen Traum! Lass uns warten! Nur jetzt keinen Abschied – so nicht! Es würde mich erdrücken.“
Eine Angst um Hannes jagt durch Dinas Kopf. Immer wieder flüstert sie diese Worte, Verzweiflung und Liebe in den Augen.
Peer zieht sie noch einmal an sich. „Wir wollen nicht erst morgen früh Abschied nehmen. Nicht vor den anderen! Nicht morgen, wenn unser Lebensglück in Scherben liegt wie die Splitter der Glasampulle dort in der Ecke.“
Mit tief trauriger Güte setzt er hinzu: „Dein junges Herz muss darüber hinwegkommen, Dina. Versuche mich zu vergessen. Ich habe dich lieb wie nichts auf der Welt. Ich hätte es dir aber nie sagen dürfen.“
Dina fährt auf. „Und Androt, Hannes? Androt ist immer noch unangetastet! Sie werden ihm nichts beweisen können, er wird sagen, dass er die Leute, diese Zuchthäusler aus allen Ländern, nicht zurückhalten konnte. Das Rauschgift ist vernichtet, durch meine eigenen Hände vernichtet. Auch das kann nicht mehr gegen ihn zeugen. Wer wird mich vor Androt schützen?“
„Veit – unser lieber, guter, treuer Freund Veit“, erwiderte Peer ernst.
Dina denkt und grübelt, ihre Pulse hämmern fieberhaft. Sie ist bereit, für Peer alles zu ertragen. Nur nicht ihm weh tun, ihm sein schweres Los noch schwerer machen. Sie liebt ihn ja so grenzenlos.
Ihre verzweifelte Traurigkeit trifft ihn bis ins Innerste.
„Dina, ich habe zu viel erlebt, als dass ich an die Menschen glauben kann. Aber an dich glaube ich. Und gerade deshalb bitte ich dich: Denke nicht mehr an mich. Sei stark, überwinde es, lass mich meinen Weg gehen, der in die finstere Nacht führt.“
Nun sitzen sie still nebeneinander auf der Ofenbank, der Docht der kleinen Lampe ist ausgebrannt, es ist zu dunkel, als dass sie sich sehen könnten. Draußen heult der Sturm, die Zeit kriecht unendlich langsam dahin.
Dina wartet und warte. Sie weiß, dass es für sie kein Recht mehr auf Glück und Liebe gibt, ihre Lippen zucken wie in einem unhörbaren Gebet.
Als sie nach tiefster, seelischer Erschöpfung erwacht, graut schon der Morgen. Der Platz an ihrer Seite ist leer.
Nur der Hund liegt bei ihr, seine Schnauze auf ihrem Fuß, die Augen unverrückbar auf Dina gerichtet. Als sie sich endlich bewegt, richtet er sich auf und legt seinen Kopf zärtlich auf ihre Hand.