Читать книгу Liebe in der Hochtal-Heimat: 7 Bergromane - Cedric Balmore - Страница 34
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ОглавлениеPeer geht den schmalen Wiesenweg hinab, der unter Umgehung der Dorfstraße nach Korins führt und neben dem Haus des Postenkommandanten mündet. Zwischen den Zäunen, die den Weg zu beiden Seiten abgrenzen, steht eine Kuh, breitbeinig, den Kopf mit den großen schönen Augen tief gesenkt. Sie sieht Peer an, brüllt ein wenig, streckt den Hals und lässt sich nicht vertreiben.
„Ja, meine Liebe“, sagt Peer zu dem Tier. „Du kannst hier nicht zwischen den beiden Zäunen umkehren. Und siehst du, ich kann auch nicht umkehren auf dem Weg, den ich jetzt gehen muss!“
Peer zwängt sich auf dem schmalen Weg an der Kuh vorbei.
Das Korinser Gendarmeriekommando ist in einem ehemaligen Mehlmagazin untergebracht, das man durch abgeteilte Wände in zwei Amtsräume und einen großen Vorraum umgewandelt hatte.
Peer öffnet die Tür zu dem rückwärtigen Amtsraum.
„Warten Sie draußen“, sagt der Postenkommandant Patscheider. Die Aufforderung, im Vorraum zu warten, überhört Peer mit Absicht.
Er bleibt hinter der Tür stehen, geht aber nicht zu den Bänken, die dicht besetzt mit Wartenden sind. Es kann ihn jetzt auf keiner Bank leiden, neben anderen Menschen. An seinen verlangsamten Herzschlägen zählt er die Sekunden mit, die ihn noch von der Vernichtung seines Lebens trennen.
Peer weiß, warum der Vorraum gerade heute voller Wartender ist. Er sieht gerötete, gespannte Gesichter, Kopftücher und bärtige Männer, Arbeiter und Holzknechte. All das verschwimmt ihm in dem Halbdunkel des Raumes.
Die Außentür öffnet sich, eine ältere Frau tritt herein, mit hartem, zerfurchtem Gesicht und fragt die anderen, was denn los sei.
„Den Androt haben sie eben abgeführt“, sagt einer der Wartenden. „Jetzt nehmen sie halt alles auf. Zeugenaussagen und so. Wegen unsereins möchte man nicht soviel Theater hermachen!“
Zustimmendes Gemurmel erfüllt den Raum. „Ich verliere zwei Arbeitsstunden“, sagt ein junges Mädchen.
„Ich auch! – Ich auch!“, kommt es von mehreren Seiten. „Wer weiß, ob wir nicht alle unsere Arbeit verlieren?“
„Keine Spur“, tröstet ein junger Mensch, der nicht aus Korins ist, die Leute. „Die Körtschacher Spinnerei wird sich schon den fetten Bissen herausfischen. Ihr werdet sehen, die kauft das Werk auf, wenn der Androt erst im Zuchthaus sitzt.“
Eine der Arbeiterfrauen schiebt ihr Kopftuch zurecht. Dann sagt sie, auf die anderen blickend: „Das kann recht sein. Meine Schwester ist auch bei der Spinnerei in Körtschach angestellt. Halbtagsschicht. Dort wird keine halbe Stunde abgezogen. Und soviel Wollstaub gibt es auch nicht wie bei uns. Elektrische Ventilatoren haben sie dort.“
Nun kommt einer aus dem Amtszimmer heraus. Einer von Androts Männern, die wegen Schmuggels verhaftet wurden.
Sein grobes Gesicht ist jetzt wachsbleich, auf der Stirn perlt ihm der Schweiß. Ein Gendarm geht neben ihm.
Die Wartenden sehen den Mann von der Seite an, wie er schwankend neben dem Gendarmen dem Ausgang zugeht.
„Den Reithmeier haben sie auch schon“, meint die alte Frau von vorhin. „Der hat nichts anderes getan, als den ganzen Tag im Wirtshaus herumgelungert und Lohn bezogen.“
„Oha!“, ruft einer, der sieht, wie Peer die angelehnte Tür dazu benützt, um sich in das Amtszimmer zu schieben. „Wer ist denn der? Doch kein Korinser?“
Die Leute schütteln den Kopf. Niemand kennt Peer im Ort.
Der Postenkommandant sieht Peer von der Seite an, wie er sich etwas gegen den langen Tisch stemmt.
„Sie habe ich doch schon wo gesehen?“ Patscheider denkt nach. „Sind Sie der Beobachter auf der Trafon-Station? Der Herr Peer? Ist Ihnen nicht wohl? Nehmen Sie doch einen Stuhl. Kommen Sie in unserer Sache?“
„In welcher Sache?“ Peer lässt sich mühsam atmend nieder.
„Ich meine wegen Androt?“ Patscheider nimmt einen Bleistift zur Hand. „Ich habe verdammt viel Arbeit wegen dieser dummen Geschichte.“
Peer blickt den Postenkommandanten unverwandt an. „Nein, Herr Patscheider. Ich komme in eigener Sache. Und Peer heiße ich auch nicht. Sondern Bacher. Johannes Bacher.“
Der Postenkommandant kratzt sich nachdenklich sein glattrasiertes Kinn und denkt nach. „Den Namen muss ich schon einmal gehört haben! Warum nennen Sie sich dann Peer?
„Ich bin der wegen Mordverdachts gesuchte Arzt Doktor Johannes Bacher, aus Reinau gebürtig. Seit mehr als zwei Jahren meteorologischer Beobachter auf der Trafon-Station.“
Patscheider blickt Peer ungläubig an. Aus der Haltung dieses zusammengesunkenen Körpers spricht ein so maßloser Schmerz, dass es selbst dem Leid und Verzweiflung gewohnten Gendarmen am Herzen frisst.
„Das ist ja ein toller Tag“, sagt er mürrisch.
Patscheider blickt zu dem Gendarmen hin, der an einem Nebentisch sitzt und Protokolle schreibt. „Ich kann doch dem Herrn Doktor nicht sagen, dass er später wiederkommen soll?“ Patscheider lacht rau auf.
„Wenn er selber sagt, dass man ihn seit zwei Jahren sucht?“
„Da werde ich Sie wohl in Haft nehmen müssen“, meint er dann zu Peer. „Es ist etwas viel auf einmal für Korins.“
Der Beamte sieht einige Augenblicke nachdenklich auf das große Aktenregal an der Wand.
„Bacher? Johannes Bacher? Natürlich. Da muss doch ein Fahndungsblatt hier sein? Arzberger, sehen Sie einmal unter B nach.“
Während der Gendarm sucht, ist es still in dem. Zimmer.
„Haben Sie es gefunden?“
„Jawohl, Herr Kommandant. Hier ist es schon. Fahndungsblatt nach Doktor Johannes Bacher. Es stimmt schon. Mord an Julia Käntli. Das Fahndungsblatt ist schon zwei Jahre alt!“
Eine missmutige Falte bleibt auf der Stirn des Postenkommandanten stehen.
„Was soll ich mit ihm machen?“, meint er zu dem Gendarmen. „Ich kann ihn doch nicht zu Androt in den Gemeindekotter sperren, bis der Gefangenenwagen aus Körtschach kommt!“
Peers Gesicht wird grau. „Ich möchte Sie vielmals bitten! Wenn das irgendwie zu vermeiden ist …“
„Nicht ihretwegen.“ Patscheider lacht. „Der Androt tobt und zertrümmert Tische und Stühle. Ich bin für Sie haftbar. Da Sie sich selbst gestellt haben, werden Sie wohl gleich ein Geständnis ablegen.“
Patscheider seufzt auf. Er gibt dem Gendarmen einen Wink.
„Spannen Sie ein Protokollblatt in die Maschine“, fordert er ihn auf.
„Wollen Sie sich also jetzt zum Grund ihrer Selbststellung äußern? Können Sie mir etwas über die Motive Ihres Verbrechens sagen? Taten Sie es aus Not? Brauchten Sie Geld?“
Peer sieht, dass der Postenkommandant nach einem bestimmten Schema vorgeht. So wird es wohl immer sein, denkt Peer. Es ist eine Maschine, in die ich geraten bin.
„Nein, Herr Postenkommandant. Ich habe mich gestellt, weil ich gesucht werde. Ich bin mir keiner Schuld bewusst.“
„Schreiben Sie“, brummt Patscheider zu dem Gendarmen hinüber. „Keiner Schuld bewusst.“
Dann wendet er sich wieder zu Peer.
„Fahren Sie fort, wenn Sie noch etwas zu sagen haben. Keine Schuld? Und deshalb leben Sie unter falschem Namen zwei Jahre auf einer Berghütte?“
„Ich habe nichts mehr zu sagen.“ Peer unterbricht sich, horchend. Er sieht auch die beiden Gendarmen lauschend dem Fenster zugekehrt. Draußen ertönt das Geläute von Kühen. Sie werden eben von den Almen getrieben, mit Blumen geschmückt.
„Das ist Unsinn … das ist Unsinn, Bacher. Das erste Verhör ist meist das beachtetste. Hier darf jeder sagen, was er für vorteilhaft hält. Gleichviel gegen wen und was immer es sich richtet. Ein Geständnis von Anfang an wiegt viel, mein Lieber. Ich schreibe dann einfach hinein, dass Sie des beschuldigten Verbrechens überführt und geständig sind, und für mich bleibt weiter nichts zu tun übrig.“
„Und zu schreiben!“ Peer muss ein wenig lächeln. „Ich kann Ihnen leider die Arbeit nicht ersparen, Herr Postenkommandant.“
„Sie gestehen also nichts ein?“
„Nein.“
„Dann muss ich Sie gefesselt ins Gefängnis nach Körtschach abführen lassen.“
Peer richtet sich auf. Seine Augen flammen.
„Machen Sie mich hier in Ihren Räumen so gründlich dingfest wie Sie nur können, Herr Postenkommandant. Das ist Ihre Pflicht. Aber ersparen Sie mir diesen Schimpf. Da ich mich selber gestellt habe, können Sie wohl keine Fluchtgefahr annehmen.“
„Aber verdammt nochmal!“ Der Postenkommandant wird jetzt wirklich ärgerlich. „Soll ich Sie jetzt allein, mutterseelenallein, nach Körtschach spazieren lassen? Wenn Sie sich die Sache wieder überlegen, kostet es meine Stellung. Und überhaupt ist das lächerlich. Ich werde meine vorgesetzte Stelle anrufen, das Bezirkskommando. Wir werden dann sehen, was die Herren dort sagen. Vielleicht schickt Ihnen der Bezirksinspektor seinen eigenen Kraftwagen?“
Patscheider blickt Peer an. Der hat kein Verständnis für solche Späße. Er sieht bedrückt vor sich hin.
Unverschämt ist der nicht, denkt der Postenkommandant.
Dann lässt er sich mit Körtschach verbinden. „Wir haben da einen seltsamen Vogel gefangen, Herr Inspektor“, meldet Patscheider. „Besser gesagt, ist er von selbst in den Kotter geflogen. Ein gewisser Doktor Johannes Bacher. Gesucht laut Fahndungsblatt Nr. 4883. Jawohl Nr. 4883. Er stellt sich selbst. Seit zwei Jahren sitzt er als meteorologischer Beobachter namens Peer auf der Trafon-Hütte.“
Der Postenkommandant bekommt einen roten Kopf. „Falschmeldung, jawohl, Herr Inspektor. Dafür können wir hier nichts! Ja, ich warte am Apparat …“
Ein Schicksal läuft durch den Draht, denkt Peer, wie er auf den vor dem Fernsprecher stehenden Postenkommandanten blickt. „Ja, ich bin noch in der Leitung“, sagt dieser nach einer Weile. Peer vernimmt in der Muschel ein monotones Quaken. Seltsam gequetscht hört sich der Ton der fernen Stimme an. Peer versteht nur einzelne Worte.
Patscheider hört aufmerksam zu und macht sich einige Notizen. Dann blickt er immer wieder beobachtend auf Peer. Unerträglich lang kommt diesem das Gespräch vor, das seine nächsten Stunden entscheiden wird.
Es ist kein Trotz in Peer, nicht die Herausforderung eines Verzweifelten, der sich weigert, wie ein gefesselter Verbrecher die Straße entlang getrieben zu werden. Peer will nichts anderes, als unangetastet eingeliefert vor den Richter zu kommen und frei zu bekennen, dass er nicht getötet hat, auch nicht aus Mitleid an einer schwer leidenden Unheilbaren!
Der Postenkommandant legt den Hörer in die Gabel und sieht Peer einige Sekunden lang schweigend an.
„Es ist gut, Herr Doktor. Sie können wieder nach Hause gehen, sofern Sie auf Ihre Hütte zurück wollen. Oder sonst, wohin Sie wollen. Sie sind frei.“
Peer richtet sich mühsam auf. Er muss sich an der Tischkante festhalten. Die ganze Welt ist ihm auf einmal so neu und fremd. „Herr Doktor!“, hat der Postenkommandant soeben gesagt.
„Die Sache ist ganz einfach“, erklärt dieser und kratzt sich wieder das Kinn, als ob von dort die Gedanken kommen würden. „Seit einem Jahr ist die Untersuchung gegen Sie eingestellt. Man hat damals eine Frau verhaftet. Die Zimmervermieterin der derzeit ermordeten Julia Käntli, eine Frau Pongraz. Diese Frau hatte eine Untermieterin vergiftet. Bei dieser Gelegenheit gestand die Pongraz auch den Mord an Julia Käntli ein! Sie hatte damals der Schwerkranken Veronal in den Tee gemischt. Das starke Schlafmittel hatte den Tod bewirkt, weil es noch zu den täglichen Morphiuminjektionen dazugekommen war, die Sie der Krebskranken gaben. Leider zählte man damals nur die vielen leeren Morphium Ampullen und untersuchte nicht den Mageninhalt der Toten.“
In Peer wallt es heiß auf. „Dann muss ich Ihnen also danken, Herr Postenkommandant. Wenn ich nur sonst darüber hinweg könnte …“
Patscheider steht auf und drückt herzlich Peers Hand. „Wenn ich Ihnen als erfahrener Mann etwas sagen darf: Hängen Sie nicht der Vergangenheit nach. Bauen Sie lieber auf die Zukunft. Sie haben dort oben am Trafon-Kamm genug die Einsamkeit kennengelernt. Die hat Sie menschenscheu gemacht. Ich sah es gleich, als Sie eintraten. Die Einsamkeit nimmt einen Menschen zu sehr in ihre bösen Arme. Sie löscht in ihm alles aus. Fahren Sie jetzt in die Stadt. Sie werden es ja ohnehin wegen Ihrer Sache tun müssen. Machen Sie einen großen Schritt ins Menschenland. Ich weiß nicht, was Sie zu dieser Selbststellung bewogen hat. Das hat wohl alles so sein müssen. Und jetzt nichts für ungut. Ich habe den Kopf voll mit diesem Androt. Draußen schimpfen sie schon.“
„Ich danke Ihnen von ganzem Herzen, Herr Patscheider!“ Peer schüttelt dem Mann nochmals die Hand. „Ich werde Ihren Rat befolgen. Wenn es noch nicht zu spät ist!“
„Für einen neuen Anfang ist es nie zu spät.“
Patscheider gibt Peers Hand frei. Dann begleitet er ihn bis zur Tür und streckt seinen geröteten Kopf heraus, wobei er scharf und brummig wie früher schreit: „Der nächste.“