Читать книгу Liebe in der Hochtal-Heimat: 7 Bergromane - Cedric Balmore - Страница 32

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Peer hat von Mitternacht an gearbeitet. Er hat Blätter und Tabellen geordnet und gerechnet, hat Zahlen und Zeichen aneinandergereiht und Endresultate rot unterstrichen. Sein Nachfolger, der im Laufe des Vormittags ankommen wird, soll alles in Ordnung vorfinden.

Um sechs Uhr morgens geht Peer an den Apparat und gibt den Morgenbericht durch. „Windstärke sieben, Südwest. Es schneit. Die Temperatur ist auf drei Grad gesunken.“

Dann rafft Peer seine Tabellen zusammen und legt sie in eine große Mappe.

Bisweilen wirft er einen Blick auf Dina. Sie liegt auf der Bank mit einer Decke fürsorglich von Peer zugedeckt.

Nun geht er hinaus, von Tasso begleitet, der diesmal nicht wie sonst vor Freude bellt, als wüsste er, dass er das schlafende Mädchen nicht wecken dürfte. Peer schöpft den Schnee von den Felsen in einen Topf, den er in die Hütte trägt und auf den Ofen stellt. Dann macht Peer nicht ohne Mühe Feuer. Der starke Wind treibt den Rauch zurück in die Stube.

Als das Feuer endlich prasselt, geht Peer auf das Dach. Langsam steigt er die steile Treppe zum Turm hinauf. Er ist mit Drahtseilen an den Felsen gefesselt, von Eisenbändern gestützt. Heute liegt fußhoher Schnee, auf der geländerlosen Plattform.

Peer muss an die vielen Stunden zurückdenken, die er in diesen Jahren auf dem Turm verbracht hat, in grenzenloser Einsamkeit. Er denkt, dass die Zelle in seinem Gefängnis ebenso einsam sein wird wie der acht Monate lange Winter auf der Trafon-Hütte. Peer weiß, dass er nichts zu hoffen hat, dass er jetzt seine Schuld abtragen muss. Keine Schuld der unglücklichen Julia gegenüber, an deren Tod er keinen Anteil hat, nach seinem Gewissen nicht haben kann! Aber hier oben, in dieser Berghütte, hat er die Menschen getäuscht. Hier ist er Hannes Peer geworden – hier hat er sein eigenes Ich verleugnet.

Peer weiß, dass jetzt bald die Vergangenheit nach ihm greift, dass sie sehr bald den Griff nach seiner Kehle tun wird, um das Opfer zu erwürgen.

Zum letzten Mal legt Peer den Papierstreifen in die Kugel, welche die Sonnenstrahlen sammelt und deren Kurve auf den Streifen brennt. Er wird ihn nicht mehr herausnehmen, diesen Sonnenstreifen, heute nicht und morgen nicht. Nie mehr! Peer neigt sich über die mit Wasser gefüllte Glaskugel, sein Gesicht spiegelt sich ihm entgegen, sein eingefallenes, müdes Gesicht mit tief in den Höhlen liegenden Augen. Die Schalen des Windmessers surren im Kreise, so rasch, dass sie nur mehr ein einziges, rotierendes Geflimmer bilden.

Zum letzten Male liest Peer den Barographen ab. Dann fällt sein Blick auf das Thermometer. In der Nacht hat es drei Grad unter Null gehabt, bald wird hier oben der endlose Winter seinen Einzug halten.

Schwerfällig steigt Peer wieder die Steigleiter hinab in die Hütte.

Dina ist unterdessen aufgewacht. Sie sieht ihn aus müden Augen an.

„Was tust du, Hannes?“

„Ich packe meine Sachen ein. Viel ist es nicht. Einige Bücher und Aufzeichnungen. Die Bergausrüstung lasse ich meinem Nachfolger zurück, so wie ich sie von meinem Vorgänger übernommen habe.“

„Wer war dein Vorgänger?“, fragt Dina.

„Ein Student aus der Schweiz. Er wollte nur ein Jahr heroben bleiben, um etwas für sein Studium zu ersparen. Er ist am Trafon-Kamm bei Ablesung des Regenmessers tödlich verunglückt.“

„Wie geht es Veit? Warst du schon bei ihm?“

„Ja, den Umständen entsprechend gut. Er will sogar zu Fuß hinabsteigen. Das darf er natürlich nicht. Das Wohlbefinden täuscht, solange man bewegungslos liegt. Er wird bald genesen.“

„Sieh! Dorthin!“ Dina zeigt auf das Fenster. Sie steht auf und tritt neben Peer. Am östlichen Himmel zeigt sich ein blutiger, langer Querstreifen, zwischen goldgerändertem Gewölk glänzt ein seegrüner Himmel auf.

„Das Wetter wird sich bessern“, sagt Peer, in den Anblick versunken. „Der Sturm flaut ab. Wie oft habe ich sie hier erlebt, die geheimnisvollen Stunden der Stille zwischen Nacht und Tag. Das Verblassen der Sterne im langsamen Lichtwerden, das allmähliche Aufleuchten der hohen Bergspitzen! Nun werde ich es nicht mehr sehen, lange nicht sehen.“

Peer wendet sich vom Fenster ab. In der Stube ist es noch dunkel, der Schein des Herdfeuers wirft durch die Ringe kupfrige Streulichter auf Dinas Haar.

Sie sieht sein ernstes Gesicht und den unruhigen Blick. Unwillkürlich denkt Dina an Peers Erzählung über Julias Tod. Was musste Peer damals erlebt haben! Sie geht auf ihn zu. Dina taumelt ein wenig vor Schlafsucht und Erregung.

Da schrillt die Glocke an der Wand. Peer geht zum Apparat, er horcht einige Sekunden in die Muschel.

„Es ist gut“, sagt er dann mit einer seltsam belegten Stimme. „Es ist alles bereit.“

Peer wendet sich um. „Meine Ablösung wird hier um zehn Uhr eintreffen. Dann ist es zu Ende. Oder vielmehr der Anfang …“

„Wollen wir jetzt Abschied nehmen“, bittet Dina.

Peer nickt. Dann geht er in eine Ecke. „Ich muss noch dieses Bild zu meinen Büchern packen. Mutters Bild!“

Mit müden Schritten kommt Peer zurück.

„Dina, liebes Kind, was ist dir?“

Ein ergreifendes Schluchzen erschüttert ihren Körper. Endlich fließen die lindernden Tränen.

„Ich kann es noch nicht fassen … es kann dies alles nur ein böser Traum sein! Tue es nicht, Hannes! Gehe nicht dorthin! Veit wird dich nie verraten, nie wird er das tun! Wenn er mich nur ein wenig lieb hat, wird er es nicht tun. Ich werde ihm sagen, dass ich seine Frau werden will …“

Peer schüttelt den Kopf. „Nein, Dina. Ich habe Veit mein Wort gegeben, dass ich ihn aus seinem Gewissenskonflikt befreien werde. Ich kenne Veit besser als du, Dina. Er ist ein Bergmensch, schwer und gerade. Er kennt keine Auswege. Auch keinen aus sich selbst heraus.“

Peer biegt ihr tränennasses Gesicht zurück und drückt Dina einen Kuss auf die Lippen. „Lebe wohl, Dina – und bleibe immer, was du bist. Dann werde ich von dieser Erinnerung zehren, mein Leben lang.“

Ein kühler Luftzug streicht durch die Stube. Unruhig flackert das Feuer im Herd.

„Dina!“ Peer schließt sie fester in seine Arme. „In unserer Abschiedsstunde sage ich dir: Ich habe dich viel zu lieb, um dein Leben an mich zu binden. Und ich ehre dich viel zu sehr, um dich später einmal nur zu meiner Geliebten zu machen! Deshalb werden wir uns nicht mehr sehen. Nie mehr.“ Eine Weile halten sich die beiden wortlos umschlungen.

Vor der Hütte poltern plötzlich schwere Schritte. Gleich darauf wird die Tür aufgerissen. Zwei bärtige Männer, über und über mit Schnee bedeckt, treten ein. Einer stellt eine zusammengelegte Tragbahre an die Wand. Den Männern folgt eine in einen Lodenmantel gehüllte Gestalt. Gertrud!

„Wo ist Veit?“, fragt sie mit angstvollen Augen.

Peer zeigt zur Tür des Wandverschlages, der die kleine Kammer abtrennt.

„Veit wartet bereits. Es geht ihm gut. Sie brauchen keine Sorge zu haben.“

Peer neigt sich zu Dina und fragt leise: „Ist das Gertrud?“

Dina nickt.

Peer schiebt den beiden Männern eine Schnapsflasche und zwei Gläser hin.

„Ihr müsst vorsichtig tragen! Keine Erschütterung.“ Einer der Männer schenkt die Gläser voll. Dann trinken sie bedächtig das scharfe Getränk und wischen sich die vereisten Bärte ab.

Gertrud steht vor Veit, der bereits angezogen auf einem Stuhl neben dem Fenster sitzt. Sie streicht mit ihrer Hand zärtlich über seinen verbundenen Arm.

„Tut es weh?“, fragt sie beklommen.

„Es gibt Dinge, die mehr weh tun“, wehrt er ab. „Viel mehr weh. Mein Arm wird wohl bald wieder arbeiten können. Und nichts mehr spüren von den Dingen, die geschehen sind. Aber mein Herz nicht. Ich danke dir, Gertrud, dass du mitgekommen bist, das ist lieb von dir bei diesem Wetter. Hat es arg gestürmt?“

„Nur das letzte Stück. Unten regnete es. Das Schneetreiben begann erst über der Waldgrenze.“ Gertrud wagt es nicht, Veits Hand zu fassen, aus Angst, sie könnte ihm weh tun. Er ist bleich, seine Augen eingefallen.

„Darf ich irgendwie helfen?“, fragt sie ihn zögernd. Veit winkt mit einer müden Bewegung des unverletzten Armes ab. Er steht mit ihrer Hilfe auf. Veit fühlt sich taumelig. Gertrud führt ihn in die Stube. Dort reicht sie Dina die Hand. So stehen sie nebeneinander mit verschlungenen Händen. Schwestern im Leid um die Liebe. Die beiden Träger, Holzknechte im Dienste des Försters, stellen die Tragbahre auf. Veit legt sich selbst darauf. Gertrud deckt ihn mit einer warmen Decke zu, die Peer ihr reicht.

Veit versucht zu scherzen. „Hoffentlich muss ich nicht nach dem Kilogewicht zahlen. Ich bin nicht gerade leicht!“

„Darf ich noch bei dir bleiben?“, fragt Dina leise Peer, ohne dass es die anderen hören können. „Ich will bleiben, bis deine Ablösung kommt.“

„Nein, Dina. Du gehst jetzt mit den anderen. Noch eine Bitte habe ich. Den Hund nimm mit. Behalte ihn. Er ist ein treues, gutes Tier.“

Dina blickt zu Boden. Zwischen ihr und Peer steht Tasso und blickt mit seinen klugen Augen bald auf den einen, bald auf den anderen. Als ob er alles verstünde.

„Von ganzem Herzen gerne, Hannes. Ich habe das brave Tier doch so lieb. Aber du, Hannes? Dann wirst du ganz allein sein, die letzte Stunde.“ Dina kann die Tränen nicht mehr zurückhalten.

„Ja, ganz allein. Es ist besser so. Ich muss versuchen, euch beide zu vergessen, eure treue Liebe. Dich und den armen Tasso. Alles Gute auf deinem Weg, Dina. Lebe wohl!“

Dina weiß nicht mehr, wie sie die Hütte verlassen hat. Während sie der Sturm jetzt in seine Arme nimmt, fühlt sie eine feste, weiche Hand an ihrem Arm. Gertrud schmiegt sich an sie.

Mit müden Schritten wandert Dina dem Zuge nach, sie blickt von dem steilen Bergkamm hinab in das noch nachtdunkle Tal.

Aus den Häusern von Korins blitzen die letzten Lichter herauf. Dort arbeiten jetzt die Frauen im Stall, füttern das Vieh.

In jähen Abstürzen brechen die Felsen unterhalb des Trafon-Kamms ab. Dina blickt in den tiefen Abgrund. Ein Schritt hier vom Weg weg, und man ist zum ewigen Frieden eingegangen!

Die Tragbahre schwankt unter der schweren Last. Vorsichtig steigen die beiden Holzknechte mit dem Verletzten talwärts.

Bevor der Zug in den Wald kommt, bleibt Dina stehen und blickt sich noch einmal um. Dort, hoch über ihr, steht die kleine Hütte, die so viel Leid verborgen hatte. Leid, von dem Dina lange Zeit nichts wusste.

Dann geht sie weiter, den anderen nach. Das Dunkel des Waldes und der Regen nimmt sie auf.

Es ist zu Ende.

Liebe in der Hochtal-Heimat: 7 Bergromane

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