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3. Eignung zu schwerwiegender Beeinträchtigung

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Aufgrund der Änderung durch das Gesetz zur Verbesserung des Schutzes gegen Nachstellungen vom 1.3.2017 verlangt § 238 I StGB nur noch eine Eignung der Nachstellung zur schwerwiegenden Beeinträchtigung der Lebensgestaltung des Opfers.[11] Bislang forderte das Gesetz dagegen einen entsprechenden Erfolg, sodass ein Kausalitätsnachweis dahingehend erforderlich war, dass das Opfer in seiner Lebensgestaltung schwerwiegend beeinträchtigt wird. Dies hatte zur Folge, dass das Opfer ein Verhalten, das auf eine solche Beeinträchtigung hinwies, erst tatsächlich an den Tag legen musste. In der Literatur ist daher zu Recht darauf hingewiesen worden, dass dies zu dem kuriosen Ergebnis führe, dass gravierende Übergriffe in den persönlichen Lebensbereich nicht verfolgt werden konnten, wenn sich der oder die Betroffene eine Änderung der Lebensumstände, wie einen Umzug oder einen Wechsel des Arbeitsplatzes, nicht leisten konnte und deshalb weiterhin unter den Nachstellungen leiden musste.[12] So hatte etwa der vierte Senat in einer Entscheidung aus dem Jahre 2012[13] selbst schwerwiegende psychische Beeinträchtigungen des Opfers als nicht ausreichend angesehen, wenn sie sich nicht als Erfolg durch Veränderung der äußeren Lebensumstände manifestierten. Gerade diesem Missstand wollte der Gesetzgeber nun durch Umwandlung des § 238 StGB von einem Erfolgsdelikt zu einem abstrakten Eignungsdelikt im Sinne eines potentiellen Gefährdungsdelikts entgegenwirken. Entscheidend für die Eignung ist nunmehr, „ob die Nachstellungshandlungen insgesamt so gravierend sind, dass sich jedermann in der besonderen Situation des Betroffenen zu einer schwerwiegenden Veränderung seiner Lebensumstände veranlasst fühlen muss. Wenn sich kein gut informierter Außenstehender darüber wundern würde, dass ein Nachstellungsopfer – die Möglichkeit dazu unterstellt – aufgrund der Stalkinghandlungen seine Lebensgestaltung erheblich im Sinne des bisher verlangten Erfolgs ändert, kann die Eignung angenommen werden“[14].

Die soeben beschriebenen tatbestandlichen Voraussetzungen des § 238 StGB und sein Konkurrenzverhältnis zu anderen Delikten veranschaulicht folgender, vom BGH entschiedener

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Fall 10: A war von seiner Lebensgefährtin L verlassen worden. Obwohl die L ersichtlich keinen Kontakt mehr wünschte, kam es zu folgenden Vorfällen: Am 29.3.2008 klingelte A an der Tür der L. Nachdem diese den A aufgefordert hatte zu verschwinden, kündigte dieser an, bis zum nächsten Morgen zu warten, um zu sehen, wer aus dem Haus komme. Außerdem bedrohte A die L mit dem Tode und beschimpfte sie als „Nutte“ und „Hure“. Am 24.4.2008 rief er die L mehrfach an und erklärte, dass er sie nicht in Ruhe lassen werde. Am gleichen Tag fing er sie auf dem Rückweg von ihrer Arbeit ab, beobachtete in der Folgezeit ihre Wohnung mit einem Fernglas und drohte telefonisch und durch lautes Rufen, er werde ihr ein Messer in den Hals stecken, sie abstechen und umbringen; außerdem bezeichnete er sie als „Schlampe“. Am 13.5.2008 rief er erneut mehrfach an, klingelte an ihrer Haustür und rief, er wolle wissen, was in der Wohnung vorgehe. Nachdem er von L aufgefordert worden war zu gehen, drohte er, er könne die Wohnungstür schneller einschlagen und die L töten, als die Polizei erscheinen werde. Am 20.5.2008 rief A die L wieder an und sagte, er werde die Wohnungstür einschlagen und sie umbringen; wenn er sie auf der Straße sehen sollte, haue er ihr „die Backen blau“. Am 3.7.2008 gegen vier Uhr morgens rief er die L an und erklärte ihr, dass ein bevorstehender Gerichtstermin kein schöner Tag für sie werde; alle wüssten, dass er sie kaputtschlagen und umbringen würde. Die L nahm die Drohungen ernst und hatte Angst um ihr Leben. In der Folge gab sie große Teile ihrer Freizeitaktivitäten auf. Sie verließ aus Angst abends, wenn möglich, nicht mehr ihre Wohnung und öffnete die Haustür nicht mehr. In der Wohnung schaltete sie abends kein Licht mehr ein, um ihre Abwesenheit vorzutäuschen. Auch tagsüber verließ sie Wohnung und Arbeitsstätte nur nach besonderen Sicherheitsvorkehrungen und bemühte sich, sich nicht allein auf der Straße aufzuhalten. Auch verlor sie aufgrund ihrer Angst erheblich an Gewicht. Strafbarkeit des A? (Stalking-Fall nach BGH NStZ 2010, 277)

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Lösung:

I. In Betracht kommt eine Strafbarkeit des A wegen Nachstellung nach § 238 I StGB.

1. Voraussetzung ist zunächst, dass A tatbestandliche Annäherungshandlungen an das Opfer durch näher bestimmte Verhaltensweisen i. S. des § 238 I Nr. 1-5 StGB vorgenommen hat. In Betracht kommen vorliegend Nr. 1 und Nr. 2 des § 238 I StGB. § 238 I Nr. 1 StGB soll dabei physische Annäherungen an das Opfer wie das Auflauern, Verfolgen, Vor-dem-Haus-Stehen und sonstige häufige Präsenz in der Nähe der Wohnung oder Arbeitsstelle des Opfers erfassen. Erforderlich ist dabei ein gezieltes Aufsuchen der räumlichen Nähe zum Opfer. § 238 I Nr. 2 StGB erfasst darüber hinaus Nachstellungen durch unerwünschte Anrufe, E-Mails, SMS, Briefe, schriftliche Botschaften an der Windschutzscheibe o. ä. und mittelbare Kontaktaufnahme über Dritte. Die Annäherungshandlungen des A erfüllen daher die Voraussetzungen des § 238 I Nr. 1 und 2 StGB.

2. Fraglich ist, ob auch ein beharrliches Handeln des A i. S. v. § 238 I StGB gegeben war. Nach Ansicht des BGH wohnen dem Begriff der Beharrlichkeit objektive Momente der Zeit sowie subjektive und normative Elemente der Uneinsichtigkeit und Rechtsfeindlichkeit inne, sodass Beharrlichkeit nicht bereits bei bloßer Wiederholung erfüllt ist. Erforderlich sind vielmehr eine besondere Hartnäckigkeit und eine gesteigerte Gleichgültigkeit des Täters gegenüber dem gesetzlichen Verbot, die zugleich die Gefahr weiterer Begehung indiziert. Eine Wiederholung ist danach zwar Voraussetzung, genügt aber für sich alleine nicht.[15] Die Beharrlichkeit ergibt sich vielmehr aus einer Gesamtwürdigung der verschiedenen Handlungen, bei der insbesondere auch der zeitliche Abstand zwischen den Angriffen und deren innerer Zusammenhang von Bedeutung sind. Diese Gesamtwürdigung ergibt vorliegend, dass A im dargelegten Sinne beharrlich handelte. Es sind Vorfälle an fünf Tagen (dabei sogar teilweise mehrfach) festgestellt. Auch wenn zwischen den einzelnen Übergriffen große zeitliche Abstände lagen, handelte es sich um nachdrückliche Belästigungen und massive Drohungen bzw. Beleidigungen.

3. Die Tathandlung müsste sodann geeignet gewesen sein, eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensgestaltung des Opfers herbeizuführen. Nach dem gesetzgeberischen Willen soll es hierbei auf das Verhalten oder die Befindlichkeit der betroffenen Person nicht ankommen, vielmehr reicht es aus, dass ein objektivierbarer Anlass für eine Verhaltensänderung besteht. Indizien hierfür können die Häufigkeit und Intensität der Täterhandlungen sein, aber auch schon eingetretene Folgen.[16] Die hier vom Opfer getroffenen Schutzvorkehrungen (Beschränkung der Freizeitaktivitäten, Vorkehrungen beim Verlassen der Wohnung, Verdunkeln der Wohnung etc.) bestätigen daher die Eignung. Allerdings wäre diese Eignung auch dann zu bejahen gewesen, wenn das Opfer tatsächlich kein Vermeideverhalten an den Tag gelegt hätte, sich aber jedermann in der besonderen Situation der Betroffenen zu einer schwerwiegenden Veränderung seiner Lebensumstände (wie etwa das Verlassen der Wohnung nur noch in Begleitung Dritter, ein Wechsel des Arbeitsplatzes, Verdunkeln der Fenster etc.) hätte veranlasst fühlen dürfen.

4. Darüber hinaus handelte A auch unbefugt, da weder ein Einverständnis des Opfers vorlag noch sonstige Erlaubnisse erkennbar sind.

5. Auch handelte A vorsätzlich. Hinsichtlich der Merkmale der Beharrlichkeit und der Eignung zur schwerwiegenden Beeinträchtigung der Lebensgestaltung genügt dafür die Kenntnis der zugrundeliegenden tatsächlichen Umstände.[17] Da A vorliegend gezielt eine Drohkulisse aufbaute, waren ihm die Umstände, aus denen die Beharrlichkeit und die Eignung zur Veränderung der Lebensqualität für das Opfer resultierten, zweifellos bewusst.

6. Rechtfertigungs- und Schuldausschließungsgründe sind nicht ersichtlich.

7. Problematisch ist allerdings, wie die einzelnen Nachstellungshandlungen konkurrenzrechtlich zueinander stehen. Der BGH hat angenommen, dass vorliegend nur eine Handlung im Rechtssinne vorliege. Die Angriffe des A hatten erst in ihrer Gesamtheit die potentielle Eignung zur Herbeiführung einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der Lebensgestaltung des Opfers. Im Übrigen waren sie von einer durchgehenden, einheitlichen Motivationslage des A bestimmt und wiesen trotz der teilweise mehrwöchigen Unterbrechung eine genügende räumliche und zeitliche Nähe auf.[18]

8. Ergebnis: A ist wegen einer Nachstellung im rechtlichen Sinne nach § 238 I StGB strafbar.

II. Darüber hinaus hat sich A auch durch die Ankündigungen, die L verletzen und töten zu wollen, mehrfach wegen Bedrohung nach § 241 I Var. 2 und II StGB strafbar gemacht.

III. Die Bezeichnung als „Nutte“ und „Hure“ am 29.3.2008 sowie die Bezeichnung als „Schlampe“ am 24.4.2008 begründen jeweils auch eine Strafbarkeit wegen Beleidigung nach § 185 StGB. Ob diese auch den Tatbestand der öffentlichen Beleidigung nach § 185 Hs. 1 StGB erfüllen, ergibt sich aus dem Sachverhalt nicht, weil nicht hinreichend beschrieben ist, ob die Äußerungen so getätigt wurden, dass sie von einem größeren, nach Zahl und Individualität unbestimmten oder durch nährere Beziehungen nicht verbundenen Personenkreis wahrgenommen werden könnnen Auch wenn die Beleidigung am 29.3.2008 trotz mehrfacher Beschimpfungen eine natürliche Handlungseinheit bildet, so steht sie zu der Beleidigung am 24.4.2008 in Realkonkurrenz.

IV. Gesamtergebnis und Konkurrenzen: A hat sich insgesamt wegen Nachstellung nach § 238 I Nr. 1 und 2 StGB, wegen Beleidigung nach § 185 StGB in zwei realkonkurrierenden Fällen sowie wegen mehrerer realkonkurrierender Bedrohungen strafbar gemacht. Fraglich ist jedoch, in welchem Verhältnis die Nachstellung zu den ebenfalls verwirklichten Delikten der Bedrohung und Beleidigung steht. Der BGH hat hier insgesamt Tateinheit angenommen.[19] Denn zwischen an sich selbstständigen Delikten kann durch ein weiteres Delikt Tateinheit hergestellt werden, wenn dieses weitere Delikt mit den anderen Straftatbeständen jeweils in Idealkonkurrenz steht und zumindest mit einem der verbundenen Delikte eine annähernde Wertgleichheit besteht oder die verklammernde Tat die schwerste ist.[20] Dies ist hier der Fall, da Nachstellung mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft wird, während Bedrohung und Beleidigung nur mit bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe verfolgt werden. Daher werden die getrennt verwirklichten Bedrohungen bzw. Beleidigungen durch die Nachstellung, deren Ausführungshandlungen mit den genannten Delikten teilidentisch sind, zu einer einheitlichen Tat im materiell-rechtlichen Sinne verklammert (vgl. zur Klammerwirkung bereits Jäger, AT, Rn. 577).

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