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3. Regressverbot[97]

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Bei einem fahrlässigen Vorverhalten, teilweise aber auch bei vorsätzlichem Vorverhalten, stellt sich das Problem, ob vorsätzliches Zweitverhalten eine Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs bewirkt.

Diese Problematik hat im sog. Fall Winnenden eine Rolle gespielt. Dort hatte der Vater seine Waffe, für die er selbst einen Waffenbesitzschein hatte, unzulässig in seinem Schlafzimmerschrank aufbewahrt, anstatt sie – wie im Waffengesetz vorgeschrieben – in einen Tresor zu sperren.[98] Vorweggenommen sei an dieser Stelle, dass der BGH die Frage zu beurteilen hatte, ob der Vater wegen fahrlässiger Tötung bzw. fahrlässiger Körperverletzung an den Opfern strafbar ist, die sein Sohn auf dem Gewissen hat. Der BGH bejahte dies, da bereits die unzulängliche Sicherung von Waffen und Munition unter Verstoß gegen die spezifischen waffenrechtlichen Aufbewahrungspflichten den Vorwurf der Fahrlässigkeit für Straftaten begründen könne, die vorhersehbare Folge einer ungesicherten Verwahrung sind. Eine ausführliche Darstellung des Falls Winnenden soll jedoch an dieser Stelle nicht erfolgen, da bei ihm auch die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen eine ausschlaggebende Rolle spielt (vgl. daher zur Falllösung erst in Rn. 478). Stattdessen soll das Problem des Regressverbots verdeutlicht werden durch

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Fall 4: A und B waren Ärzte in einem brandenburgischen psychiatrischen Krankenhaus. In dieses Krankenhaus wurde der Strafgefangene S nach langer Haftstrafe aufgrund vormundschaftsgerichtlichen Beschlusses wegen der von ihm ausgehenden Gefahr für Leib und Leben anderer eingewiesen. Die Fenstergitter der Abteilung, in der S einsaß, waren nicht hinreichend fest eingemauert, sodass S zweimal die Flucht gelang. Er wurde jedoch jeweils in die Anstalt zurück verbracht. Später gewährten A und B dem S, obwohl die Stationsärztin zu besonderer Vorsicht gemahnt und bei S Fluchtgefahr erkannt hatte, einen Ausgang, von dem dieser nicht zurückkehrte. S verübte in der Folge zwei Morde. Sind A und B wegen fahrlässiger Tötung in zwei Fällen strafbar, obwohl sich S wegen vorsätzlicher Tötung (hier sogar wegen Mordes) strafbar gemacht hat und ihm wegen der maroden Gitter möglicherweise ohnehin noch einmal die Flucht gelungen wäre? (Psychiatrie-Fall nach BGHSt 49, 1 ff.[99])

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Lösung:

A und B könnten sich wegen fahrlässiger Tötung nach § 222 StGB in zwei Fällen strafbar gemacht haben.

1. Handlung (Gewährung des Ausgangs), Erfolg (Tod der beiden Opfer) und Kausalität sind gegeben.

2. Auch eine Sorgfaltspflichtverletzung ist nach Auffassung des BGH zu bejahen, da § 15 III des Brandenburgischen Gesetzes über Hilfen und Schutzmaßnahmen sowie über den Vollzug gerichtlich angeordneter Unterbringung für psychisch Kranke (BbgPsychKG) zwar nach Möglichkeit die gelockerte Durchführung einer Unterbringung fordert, dies aber nicht zulasse, wenn signifikante Risiken durch einen Ausgang begründet werden. Letzteres war im gegebenen Fall naheliegend, da eine narzisstische Persönlichkeitsstörung des Täters gegeben war und auch die Klinikärztin vor einem Ausgang gewarnt hatte.

3. Angesichts der konkreten Umstände war das Verhalten (Tötung anderer) des S auch vorhersehbar.

4. Fraglich ist jedoch, ob darüber hinaus der notwendige objektive Pflichtwidrigkeitszusammenhang (Zurechnungszusammenhang) zwischen der Sorgfaltspflichtverletzung und dem Erfolg besteht. Dies ist vorliegend in zweifacher Hinsicht fraglich:

a) Denkbar wäre die Verneinung eines Pflichtwidrigkeitszusammenhangs unter Hinweis darauf, dass S die Klinik möglicherweise ohne die Ausgangsgenehmigung wegen der unzureichend gesicherten Fenster hätte verlassen und in der Folge die Tötungen hätte begehen können. Dies hatte die Ausgangsinstanz tatsächlich so angenommen. Zu Recht wendet sich jedoch der BGH gegen diese Auffassung, da das pflichtgemäße Verhalten der Angeklagten, d. h. die Untersagung des Ausgangs, nur mit solchen hypothetischen Geschehensverläufen in Verbindung gesetzt werden dürfe, die der konkreten Tatsituation zuzurechnen sind. Der Ausbruch sei ein völlig anderer Kausalverlauf, der eines außerhalb des Tatgeschehens liegenden autonomen Willensentschlusses bedurft hätte. Es darf also nur das rechtswidrige Verhalten durch ein rechtmäßiges Verhalten ersetzt werden, nicht aber ein völlig neuer Kausalverlauf an dessen Stelle hinzugedacht werden. Die Zurechenbarkeit scheitert also nicht am Gesichtspunkt des rechtmäßigen Alternativverhaltens.[100]

b) Darüber hinaus würde ein Pflichtwidrigkeitszusammenhang zu verneinen sein, wenn die vorsätzliche Tat des S eine fahrlässige Täterschaft von A und B von vornherein ausschließt.

aa) Nach der früheren Regressverbotslehre[101] soll die aus freiem Entschluss vollzogene Handlung ihrerseits keine Ursache haben können, da sie sonst nicht frei wäre. Somit beginne der Kausalverlauf immer mit dem letzten freien Akt, sodass es unzulässig sei, über den vorsätzlichen (Zweit-)Handelnden hinaus auf den fahrlässigen (Erst-)Handelnden Rückgriff zu nehmen. Die Haftungssperre bezieht sich nach dieser Ansicht allein auf den Kausalverlauf.[102]

bb) Anderer Ansicht ist die heute h. M., derzufolge keine Unterbrechung eintritt, wenn die fahrlässig gesetzte Gefahr die vorsätzliche Handlung erst ermöglicht und die Zweithandlung sich noch im Rahmen des Vorhersehbaren hält.[103]

cc) Nach einer von Roxin begründeten und auf dem Vertrauensgrundsatz basierenden vermittelnden Auffassung[104] bleibt der Zurechnungszusammenhang für den Ersttäter dagegen nur dann bestehen, wenn der Erstveranlasser die Tatgeneigtheit des Zweithandelnden erkennen konnte. Vorliegend wäre auch nach dieser Auffassung eine Zurechnung des Todes der Opfer zur Person von A und B anzunehmen, weil die Tatgeneigtheit des S im gegebenen Fall erkennbar war (die Ärztin hatte gewarnt!).

dd) Stellungnahme: Der h. M. ist Recht zu geben. Die Regressverbotslehre, aber auch die vermittelnde Auffassung schränken die strafrechtliche Haftung für den Erfolg zu sehr ein. Entscheidend muss nämlich sein, ob die vom Ersthandelnden geschaffene Gefahr noch im Erfolg weiterwirkt und zur Beantwortung dieser Frage darf nicht nur auf (mögliche) Kenntnisse des Ersthandelnden abgestellt werden, sondern es muss primär der Schutzzweck der Sorgfaltsnorm berücksichtigt werden.[105] Die Lehre von der Tatgeneigtheit kommt vorliegend deshalb zum richtigen Ergebnis, weil es gerade der Schutzzweck des BbgPsychKG ist, dass erkennbar tatgeneigte Personen nicht in die Gemeinschaft entlassen werden. Dies muss aber nicht immer so sein (so ist etwa auch der Bauherr, der Brandschutzvorschriften nicht einhält, wegen § 222 StGB strafbar, wenn ein vorsätzlicher Brandstifter einen Brand legt und Hausbewohner u. a. wegen der Missachtung der Brandschutzvorschriften zu Tode kommen; der Grund hierfür liegt darin, dass Brandschutzvorschriften unabhängig von einer erkennbaren Brandstiftungsneigung Dritter eingehalten werden müssen!). Jedenfalls dient vorliegend das BbgPsychKG dazu, signifikanten und erkennbaren Risiken für die Bevölkerung vorzubeugen und verfolgt dabei auch und gerade den Schutzzweck, vorsätzliche Taten gefährlicher Straftäter zu verhindern. Es kann insofern kein Vertrauen auf die Nichtrealisierung von Gefahren geben, deren Schaffung das Gesetz gerade verbietet und die sich innerhalb des Schutzzwecks der Norm bewegen.[106]

Zwischenergebnis: A und B ist der Tod der beiden Opfer daher zurechenbar.

5. Rechtfertigungs- und Schuldausschließungsgründe sind nicht ersichtlich, insbesondere waren A und B nach ihren persönlichen Fähigkeiten in der Lage, der Gefahrenwarnung der Klinikärztin weiter nachzugehen.

6. Ergebnis: A und B sind nach § 222 StGB strafbar wegen fahrlässiger Tötung in zwei Fällen.

Hinweis: Roxins vermittelnde Auffassung birgt jedenfalls die zutreffende und wichtige Erkenntnis, dass eine erlaubte Gefahr durch tatsächliche bzw. mögliche Kenntnisse zu einer unerlaubten werden kann.

Beispiel: A schickt B zum Spazierengehen (erlaubt). Zur unerlaubten Gefahrschaffung wird diese Aufforderung aber, wenn A weiß, dass auf dem Spazierweg der Mörder für B lauert.

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