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bb) Opferverantwortung

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Bei der Opferverantwortung[60] sind zwei Fallgruppen zu unterscheiden:

(1) Freiverantwortliche Selbstgefährdung

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Da nach deutschem Recht die Teilnahme am Suizid, d. h. an der vorsätzlichen Selbsttötung straflos ist, kann die Mitwirkung an vorsätzlicher Selbstgefährdung ebenfalls nicht strafbar sein, sofern sich das bewusst eingegangene Risiko im Erfolg verwirklicht (Schutzzweck der Norm erfasst Selbstgefährdungen nicht mehr).

Beispiel 1: A und B machen im angetrunkenen, aber voll zurechnungsfähigen Zustand eine Motorradwettfahrt, bei der B tödlich verunglückt (BGHSt 7, 112). Der BGH hat hier den A nach § 222 StGB verurteilt, weil der Erfolg vorhersehbar gewesen sei. Der BGH verkennt dabei aber, dass eine Fahrlässigkeitsbestrafung beim Erfolgsdelikt nicht nur Vorhersehbarkeit, sondern auch Zurechnung verlangt.[61]

Beispiel 2: Ein Klinikseelsorger begibt sich freiwillig in eine Quarantänestation für Pest-Verseuchte, wird angesteckt und stirbt (BGHSt 17, 359).[62]

Beachten Sie aber, dass das Problem der freiverantwortlichen Selbstgefährdung beim Vorsatzdelikt schon als Täterschafts(zurechnungs)problem eine Rolle spielt, während es beim Fahrlässigkeitsdelikt nur ein allgemeines Zurechnungsproblem darstellt, weil jeder fahrlässige Beitrag im Vorfeld Täterschaft begründet (im Fahrlässigkeitsbereich herrscht also im Gegensatz zum Vorsatzdelikt der Einheitstäterbegriff vor[63]). Dies und die Tatsache, dass man bei § 222 StGB immer auch an erfolgsqualifizierte Delikte (z. B. § 227 StGB) denken sollte, veranschaulicht folgendes

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Beispiel: Der auf psychotherapeutische Behandlungen spezialisierte Arzt A führte sog. psycholytische Sitzungen durch, bei denen die Patienten im Rahmen einer Gruppensitzung durch Drogen in ein „Wachtraum-Erlebnis der Objektumgebung“ versetzt werden sollten, um unbewusste Inhalte der Psyche frei zu legen. Diese Methode ist in Deutschland wissenschaftlich nicht anerkannt. Während einer Intensivsitzung erklärten sich zwei Personen bereit, MDMA – einen in der Droge Ecstasy verwendeten Wirkstoff – einzunehmen. Aufgrund einer defekten Waage überließ A den Patienten allerdings eine viel zu hohe Dosis. Über das Volumen der abgewogenen Menge hatte A sich zwar gewundert, dennoch verließ er sich auf die Anzeige seiner Waage. Die zwei Patienten starben an einer Überdosis. Strafbarkeit des A nach dem StGB? (Psycholyse-Fall nach NStZ 2011, 341 ff.[64])

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Lösung: Da die Patienten die Rauschmittel selbst eingenommen haben, kommt keine unmittelbare Täterschaft, sondern allenfalls eine Bestrafung wegen vorsätzlicher Körperverletzung mit Todesfolge nach §§ 223, 224 I Nr. 1 und 5, 227 StGB in mittelbarer Täterschaft unter (entsprechender) Anwendung des § 25 I Alt. 2 StGB in Betracht. (Hinweis: Die Regeln der mittelbaren Täterschaft sind hier nur entsprechend anwendbar, da es sich um einen Fall der Selbstgefährdung bzw. Selbstschädigung handelt.[65]) Die Werkzeugqualität der Opfer scheitert nicht an einer freiverantwortlichen Selbstgefährdung, da diese dem BGH zufolge höchstens bezüglich der üblichen Drogenmenge vorgelegen hat, nicht aber im Hinblick auf eine Überdosis. Dennoch ist hier eine mittelbare Täterschaft abzulehnen, weil A keinen Tatherrschaftswillen hatte. Ein solcher hätte nur dann vorgelegen, wenn A die Fehldosierung selbst erkannt und das fehlende Risikowissen hätte ausnutzen wollen. Dafür liefert der Sachverhalt jedoch keinerlei Anhaltspunkte. Somit hat A sich lediglich wegen fahrlässiger Tötung nach § 222 StGB in zwei Fällen strafbar gemacht. Insbesondere handelte A beim Abwiegen der Drogen sorgfaltspflichtwidrig, weil die Überdosierung objektiv und subjektiv eindeutig erkennbar und der Erfolg angesichts der Gefährlichkeit des Konsums von Drogen auch vorhersehbar und vermeidbar war. Eine Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs aufgrund freiverantwortlicher Selbstgefährdung scheidet auch diesbezüglich aus den bereits genannten Gründen aus.

Entsprechend hat der BGH auch nur § 222 StGB in einem Fall bejaht, in dem der Verkäufer von Rauschgift versehentlich Heroin statt das vom Käufer gewünschte Kokain weiterreichte, sodass letzterer bei Einnahme der Drogen verstarb. Auch in diesem Fall wären aber (wie soeben im Psycholyse-Fall) in der Klausur zunächst §§ 223, 224 I Nr. 1 und 5, 227 StGB in mittelbarer Täterschaft zu prüfen und abzulehnen (BGH NJW 2009, 2611).

Im Falle einer freiverantwortlichen Selbstgefährdung wäre sogar der Tatbestand des § 222 StGB ausgeschieden. Dies zeigen folgende, der Rechtsprechung entstammende Beispiele:

Beispiel 1: B, der bereits Erfahrungen mit harten Drogen hatte, wollte sich Heroin spritzen. Dafür besorgte ihm A eine Spritze. B verstarb infolge der Injektion. (Heroinspritzen-Fall nach BGHSt 32, 262 ff.)

Lösung: A hat sich nicht nach §§ 223, 227 StGB in unmittelbarer Täterschaft strafbar gemacht, da B sich die Spritze selbst verabreichte. Auch mittelbare Täterschaft scheidet aus, da A kein fehlendes Risikowissen oder mangelnde Verantwortlichkeit des B ausgenutzt hat. Vielmehr hatte B bereits Erfahrung mit Drogen. Damit bleibt nur ein Gehilfenbeitrag des A, der mangels rechtswidriger Haupttat straflos ist. Ebenfalls scheidet eine Strafbarkeit nach § 222 StGB aus. Hier kommt es aufgrund der – freiverantwortlichen (s. o.) – Selbstgefährdung des B zu einer Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs. Dafür spricht hier, dass A nicht mehr als ein Gehilfenbeitrag vorzuwerfen ist. Wenn aber schon die vorsätzliche Beteiligung an einer freiverantwortlichen Selbstgefährdung und sogar Selbsttötung mangels rechtswidriger Haupttat straflos ist, dann muss dies erst recht für die fahrlässige Beteiligung an derartigen Akten gelten, sodass das Verhalten des A nicht dem Schutzbereich des § 222 StGB unterfällt.[66]

Beispiel 2: Arzt A führte seit vielen Jahren Substitutionsbehandlungen bei Heroinabhängigen durch. Als eines Tages der heroinabhängige B zu ihm kam und Schmerzpflaster auf der Basis des Opiats Fentanyl wegen Hüftgelenksschmerzen erbat, verschrieb A ihm diese, obwohl er die Suchtabhängigkeit des B erkannte und er einen Missbrauch durch Aufkochen und anschließenden Suchtgebrauch für gut möglich hielt. B kochte sich die Pflaster tatsächlich auf und verstarb durch versehentliche Eigenverabreichung einer Überdosis. (Substitutionsarzt-Fall nach BGH StV 2014, 601[67] und BGH NStZ-RR 2014, 147[68])

Lösung: Auch hier scheidet eine unmittelbare Täterschaft nach §§ 223, 227 StGB aus, da B sich die Drogen selbst verabreichte. Auch scheidet eine mittelbare Täterschaft durch Handlungsherrschaft kraft überlegenen Wissens des A aus, da B über eine schon sehr lange Suchtkarriere verfügte, sodass ihm die Risiken des Suchtmittelgenusses bewusst waren. Die Betäubungsmittelabhängigkeit hob die Freiverantwortlichkeit nicht auf. Wegen freiverantwortlicher Selbstgefährdung scheitert daher auch eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung nach den §§ 222, 229 StGB.

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Überregionale Aufmerksamkeit hat der sog. Zugspitzlauf-Fall erregt. Auch bei ihm stand die Frage der freiverantwortlichen Selbstgefährdung im Vordergrund. Dazu das folgende

Beispiel: K ist professioneller Veranstalter von Bergläufen. Im April 2008 organisierte er zum wiederholten Male den sog. Zugspitz-Lauf. In seinen Anmeldebedingungen wies er die Läufer auf mögliche gesundheitliche Gefahren des Berglaufs hin. Zudem informierte er die Teilnehmer unmittelbar vor dem Start zutreffend über die Wetteraussichten, insbesondere über ein mögliches Unwetter und die Schneefallgrenze. Eine Kontrolle der Ausrüstung der Läufer erfolgte allerdings nicht. Während des Laufs begann es heftig zu schneien. Die Temperaturen sanken rapide ab. Wegen Unterkühlung und Erschöpfung erlitten zwei Teilnehmer einen tödlichen Kreislaufzusammenbruch (nach AG Garmisch-Partenkirchen v. 1.12.2009).

Lösung[69]: Das AG Garmisch-Partenkirchen lehnte hier eine Strafbarkeit des K nach § 222 StGB ab. Der Tod der Läufer sei K nicht zurechenbar, da der Zurechnungszusammenhang durch eine freiverantwortliche Selbstgefährdung der Teilnehmer unterbrochen wurde. Im Ergebnis ist dieser Entscheidung zuzustimmen. Die fehlende Kontrolle der Laufausrüstung durch K schließt die Freiverantwortlichkeit jedenfalls nicht aus, denn wer trotz der negativen Wetterprognose nicht auf die Teilnahme verzichtet bzw. seine Laufkleidung den Verhältnissen nicht anpasst, obwohl er Kenntnis vom Risiko hat, handelt freiverantwortlich. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass K den Zugspitz-Lauf nach dem Unwettereinbruch fortgesetzt hat. Wenn die Läufer gleichwohl weiterliefen, so waren sie sich dennoch aller Risiken und Gefahren bewusst und handelten wiederum eigenverantwortlich. Die Überlegung, ein Wettbewerb führe gewöhnlicherweise zu einer Gruppendynamik mit der Folge, dass die Teilnehmer nicht bereit seien, aus dem Lauf auszusteigen, kann ebenfalls nicht überzeugen. Übertriebener sportlicher Ehrgeiz – zumal hier von Hobby-Läufern – kann nicht so weit reichen, dass sich die Teilnehmer in einem verantwortungsausschließenden Zustand befunden haben.

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Jedoch kann es an einer Freiverantwortlichkeit der Selbstgefährdung fehlen, wenn sich das Opfer in einem verantwortungsausschließenden Zustand befunden hat oder einem (rechtsgutsbezogenen) Irrtum unterlag.[70] Ob dabei mit der sog. Schuldlösung die §§ 19, 20, 35 StGB; 3 JGG oder mit der sog. Einwilligungslösung § 216 StGB entsprechend heranzuziehen sind, ist umstritten und soll erst später näher untersucht werden (vgl. dazu u. Rn. 347). Hier soll für eine Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs zunächst nur auf das Erfordernis der verantwortungsfreien Selbstgefährdung hingewiesen und die Bedeutung veranschaulicht werden durch folgendes, auch die Brandstiftungsdelikte erläuterndes

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Beispiel: A zündete das Haus der Familie H an. Als der 22-jährige Sohn M der Eheleute H mit 2,17 Promille von der Gaststätte nach Hause kam und das Feuer bemerkte, entschloss er sich in das Haus zu gehen, um dort Sachen oder Menschen – etwa den 6-jährigen Bruder B, der sich aber schon selbst gerettet hatte – in Sicherheit zu bringen. M starb im Feuer. Strafbarkeit des A? Wie, wenn der Feuerwehrmann F beim Löschen des Brandes starb? (Retter-Fall, abgewandelt und verkürzt nach BGHSt 39, 222[71])

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Lösung: Während zunächst eine schwere Brandstiftung nach § 306a I Nr. 1 StGB erfüllt ist, fehlt es für eine besonders schwere Brandstiftung nach § 306b II Nr. 1 StGB an einer durch die Tat vorsätzlich bewirkten Todesgefahr für einen anderen Menschen,[72] nachdem bezüglich B der Sachverhalt nicht hinreichend klar ist, bezüglich M ein hinreichender, auf die Herbeiführung der Todesgefahr bezogener Vorsatz nicht feststeht.[73] Gegeben ist jedoch eine Brandstiftung mit Todesfolge gem. § 306c StGB, nachdem seit Inkrafttreten des 6. StrRG nur noch irgendein durch die Brandlegung verursachter Tod eines Menschen gefordert wird, der sich nicht zwingend schon vorher in den Räumlichkeiten befunden haben muss. Ein qualifizierter Zurechnungszusammenhang im Sinne eines spezifischen Gefahrzusammenhangs liegt vor, da M stark alkoholisiert war und zur Rettung seines Bruders tätig wurde, sodass eine Freiverantwortlichkeit bei der Selbstgefährdung mit Blick auf §§ 21 und 35 StGB nicht gegeben war.[74] Die ebenso verwirklichte schwächere Erfolgsqualifizierung des § 306b I StGB[75] tritt hinter § 306c StGB im Wege der Gesetzeskonkurrenz zurück. Im Ergebnis hat sich A nach §§ 306c, 306 StGB strafbar gemacht. Die Taten stehen zueinander in Tateinheit. §§ 303, 305 StGB treten zurück. Ebenso § 222 StGB.

Hinweis: Machen Sie sich schon hier das Stufenverhältnis der §§ 306a I, 306a II, 306b I, 306b II und 306c StGB klar. Sie erkennen dann, dass der Gesetzgeber systematischer vorgegangen ist, als dies vielleicht zunächst den Anschein hat. Behält man die Stufung im Auge, so lassen sich viele Klausuren schon durch aufmerksame Lektüre des Gesetzestextes lösen. Zumindest aber verlieren die Brandstiftungsdelikte auf diese Weise ihren Schrecken (näher zu den Brandstiftungsdeliken Jäger, BT, Rn. 739 ff.).

Achtung Klausur: Wenn der Feuerwehrmann F bei seinem Einsatz stirbt, soll dagegen nach der h. M. der Schutzzweckzusammenhang stets aufrecht erhalten bleiben. Denn dann realisiere sich die typische Gefahr, weil der Feuerwehrmann zum Einsatz verpflichtet sei und es daher auch unabhängig von §§ 20, 21, 35 StGB grundsätzlich an einer freiverantwortlichen Selbstgefährdung fehle (dagegen allerdings früher Roxin, demzufolge auch beim Feuerwehrmann die Übernahme der Berufspflichten freiverantwortlich erfolgt;[76] nach der Änderung der Gesetzesfassung des § 306c StGB ist diese Auffassung im Hinblick auf Brandgefahren freilich fraglich geworden, da der Gesetzgeber wohl gerade Feuerwehrleute angesichts der berufstypischen Gefahr, das bereits brennende Haus betreten zu müssen, unter erhöhten Schutz stellen wollte[77]). Eine wichtige Einschränkung hat jedoch das OLG Stuttgart[78] auch für Berufsretter formuliert. Danach sollen dem Verursacher eines Brandes zwar grundsätzlich auch die Schädigung oder gar Tötung von Feuerwehrmännern zuzurechnen sein, die auf überobligatorischen, d. h. über die beruflichen Pflichten hinausgehenden Rettungshandlungen beruhen; die Grenzen der Zurechnung seien allerdings dort überschritten, wo sich der Rettungsversuch als von vornherein sinnlos, mit offensichtlich unverhältnismäßigen Wagnissen verbunden und damit als erkennbar unvernünftig darstellt. Die Entscheidung betraf § 222 StGB, muss aber auch für §§ 306b I, 306c StGB gelten, da dort sogar ein spezifischer Zurechnungszusammenhang gefordert wird, der folgerichtig bei offensichtlich unvernünftigen Rettungshandlungen erst recht verneint werden müsste (vgl. auch Jäger, BT, Rn. 515). Überhaupt ist fraglich, ob man zwischen Berufsrettern (nicht freiverantwortlich) und sonstigen Rettern (freiverantwortlich) unterscheiden kann. Immerhin hat jedermann Hilfspflichten aus § 323c StGB, sodass von einer gänzlichen Freiverantwortlichkeit des Privaten nicht ausgegangen werden kann, zumal die Fehleinschätzung von Gefahren gerade bei Laienhelfern naheliegend ist. Auch bei privaten Rettern sollte der Zurechnungszusammenhang daher grundsätzlich bejaht werden und die Grenze der Verantwortungsverlagerung auf das Opfer erst bei offensichtlicher Unvernünftigkeit überschritten sein. Letztlich vertritt auch der BGH diese Auffassung, wenn er davon ausgeht, dass bei einer Brandstiftung das Eingreifen von Rettern prinzipiell vorhersehbar sei.

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Zu beachten ist, dass die Rspr. das Rechtsinstitut der „freiverantwortlichen Selbstgefährdung“ bei tödlichen Arbeitsunfällen mit Blick auf § 618 BGB einschränkt. So hat das OLG Naumburg[79] einen Arbeitgeber wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen nach §§ 222, 13 StGB bestraft, weil dieser seinen Arbeitnehmern für eine Tätigkeit im Bereich von ausströmendem Gas nicht die erforderliche Zahl von Atemschutzmasken zur Verfügung gestellt hatte. Obwohl ein Arbeitnehmer in Kenntnis des Risikos Arbeiten im Bereich des ausströmenden Gases vorgenommen hatte und dabei gestorben war, hat das OLG eine Zurechnung des Erfolges zur Person des Arbeitgebers bejaht, da die Pflicht aus § 618 I BGB zu einer Überlagerung der Eigenverantwortlichkeit des Arbeitnehmers durch die Fremdverantwortung des Arbeitgebers führe.[80] Zu einer solchen Überlagerung soll es jedoch nach einer Entscheidung des OLG Rostock[81] nicht kommen, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer hinsichtlich seines selbstgefährdenden Verhaltens bereits abgemahnt und damit deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass er mit einem solchen selbstgefährdenden Verhalten nicht einverstanden ist. Das OLG Rostock betont dabei, dass maßgeblich die Art der Beeinflussung der Willensbildung sei, sodass man entgegen dem OLG Naumburg auf die Verwendung des Begriffs der allgemeinen „Überlagerung“ verzichten sollte. Entscheidend sei vielmehr, wie sich im konkreten Einzelfall das Fehlverhalten des Arbeitnehmers im Erfolg ausgewirkt hat. Dabei liege auf der Hand, dass es einen Unterschied macht, ob ein Arbeitgeber Sicherheitsgeräte überhaupt nicht zur Verfügung stellt (so im Fall des OLG Naumburg) oder ob er unter Bereitstellung der Sicherheitsgeräte auf eine Einhaltung der Gefahrvorschriften drängt und nur eine persönliche Kontrolle unterlässt (so im Fall des OLG Rostock).

(2) Einverständliche Fremdgefährdung

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Hier gefährdet sich das Opfer nicht selbst, sondern lässt sich im Bewusstsein des Risikos von einem anderen gefährden.

Beispiel: Ein fahruntüchtiger Fahrer nimmt einen Party-Teilnehmer auf dessen ausdrückliche Bitte hin in seinem Auto mit. Der Party-Teilnehmer erkennt zwar eindeutig, dass der Fahrer betrunken ist, möchte aber auf die Vorzüge einer Autofahrt nicht verzichten.

Nach einer starken Literaturauffassung scheitert hier eine Einwilligung in die Rechtsgutsverletzung, weil nicht in den Erfolg (sondern nur in die Gefahr!) eingewilligt wird.[82] Dennoch geht ein ernstzunehmender Teil der Literatur davon aus, dass in solchen Fällen der Schutzzweck der Norm einzuschränken sei. Eine Gleichstellung der einverständlichen Fremdgefährdung mit der freiverantwortlichen Selbstgefährdung mit der Konsequenz, dass der Zurechnungszusammenhang unterbrochen wird, nimmt etwa Roxin unter drei Voraussetzungen an:[83]

- der Schaden muss die Folge des eingegangenen Risikos und nicht hinzukommender anderer Fehler sein,
- dazu muss der Gefährdete, wie schon bei der Selbstgefährdung, das Risiko im selben Maße überschauen (tatsächlich) wie der Gefährdende. Nur dann hat er die Eigenverantwortung,
- schließlich wird man eine einverständliche Fremdgefährdung (ähnl. wie eine Einwilligung) bei Allgemeingütern nicht zulassen dürfen, weshalb im Bsp. zwar ein Zurechnungsausschluss im Hinblick auf § 222 StGB, nicht aber in Bezug auf § 315c StGB in Frage kommt[84], da diese Vorschrift dem Schutz des Straßenverkehrs dient.

Die Rechtsprechung hat sich allerdings der Auffassung, wonach die einverständliche Fremdgefährdung einer freiverantwortlichen Selbstgefährdung dogmatisch gleichzustellen sei, niemals angeschlossen. Vielmehr geht sie davon aus, dass sich die einverständliche Fremdgefährdung nach den Regeln der rechtfertigenden Einwilligung zu richten habe. Dabei zeigt sich, dass die Rspr. eine einverständliche Fremdgefährdung nicht zulassen will, wenn es um die Einwilligung in konkret lebensgefährdende Handlungen geht (Rechtsgedanke des § 216 StGB). Die Rspr. prüft dies im Rahmen der rechtfertigenden Einwilligung und wendet §§ 216 und 228 StGB als Rechtfertigungsausschlüsse an (näher u. der Müllcontainer-Fall, Rn. 65 f., sowie vor allem der Autosurfer-Fall, Rn. 202 f. und der Beschleunigungstest-Fall, Rn. 204 f.).

Im Ergebnis wird man der Rechtsprechung zustimmen müssen. Denn zwar ist es richtig, dass die fahrlässige Mitwirkung an einer Selbsttötung straflos ist und daher die fahrlässige Beteiligung an einer vorsätzlichen Selbstgefährdung erst recht straflos sein muss. Jedoch kann eine Fremdgefährdung eben nicht mit einer Selbstgefährdung gleichgesetzt werden. Vielmehr weist die Selbstgefährdung eine Nähe zur Selbsttötung auf, während die Fremdgefährdung durch eine Nähe zur Fremdtötung gekennzeichnet ist. Dann aber lässt sich bei der Fremdgefährdung der Schluss von der fahrlässigen Mitwirkung an einer Selbsttötung nicht ohne Weiteres auf die Fremdgefährdung übertragen. Wollte man dies anders sehen, so würde die Unterscheidung zwischen einverständlicher Fremdgefährdung und freiverantwortlicher Selbstgefährdung letztlich obsolet, wie dies überhaupt der Fall ist, wenn man einverständliche Fremdgefährdung und Selbstgefährdung identisch behandelt.[85] Insofern erscheint es sinnvoller, die Regeln der Einwilligung prinzipiell anzuerkennen, wobei diese allerdings lediglich auf das Handlungsunrecht und nicht auch auf das Erfolgsunrecht des Fahrlässigkeitsdelikts zu beziehen sind. Gerade bei Anwendung der Einwilligungsregeln ist der Rechtsgedanke der §§ 216, 228 StGB zu berücksichtigen. Konkret lebensgefährdende Handlungen sind daher nicht einwilligungsfähig. Vielmehr wird man eine Einwilligung immer nur dann annehmen können, wenn die Eingehung des Fremdrisikos aus der ex ante-Sicht lediglich zu leichteren Körperverletzungen führen kann oder aber objektiv erkennbare Gründe vorliegen, die aus der Sicht ex ante für eine spezifische Beherrschung des Risikos (Bsp.: die Artistin, die sich im Zirkus an ein sogenanntes Teufelsrad binden und mit Messern bewerfen lässt, kann deshalb einwilligen, weil der Messerwerfer durch langjährige Übung Bedingungen geschaffen hat, die ex ante ein Vertrauen rechtfertigen, dass er die Artistin nicht tödlich treffen wird) oder allenfalls für eine abstrakte Lebensgefährdung sprechen. Das oben genannte Beispiel ist ein Grenzfall. Man wird jedoch die Einwilligung in eine Fahrt eines betrunkenen Fahrzeuglenkers nicht ohne Weiteres als sittenwidrig bezeichnen dürfen, weil § 316 StGB deutlich macht, dass die Trunkenheitsfahrt ex ante grundsätzlich nur als abstrakt gefährlich einzustufen ist. Auch wenn sich später ein tödlicher Unfall ereignet, sollte daher eine Strafbarkeit nach § 222 StGB ausscheiden, da das Opfer in das Handlungsunrecht wirksam eingewilligt hat. An der Strafbarkeit nach § 315c StGB ändert dies freilich nichts, da dieser wegen des Schutzgutes „Straßenverkehr“ nicht einwilligungsfähig ist. Dagegen ist die Einwilligung eines Autosurfers, der sich von einem Fahrer auf dem Dach eines Wagens mitnehmen und in gefährlicher Weise durch eine Kurve fahren lässt wegen der schon ex ante bestehenden konkreten Lebensgefährdung als unwirksam anzusehen (vgl. dazu später Rn. 202 f.).

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Achtung Klausur: Es ist darauf zu achten, dass das Problem der einverständlichen Fremdgefährdung (ebenso wie das Problem der freiverantwortlichen Selbstgefährdung; vgl. o. den Gewitterfall, Rn. 38) erst dann aufzuwerfen ist, wenn zuvor festgestellt wurde, dass überhaupt eine unerlaubte Gefahr geschaffen wurde.

Das zeigt folgender

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Fall 3: A, der – wie er weiß – HIV-positiv ist, schläft mit der B, ohne ihr etwas von seiner Krankheit zu sagen. Stattdessen verwendet A nur sicherheitshalber ein Kondom. Bei einem HIV-Test stellt sich heraus, dass die B HIV-positiv ist. Sie wurde von A angesteckt. Strafbarkeit des A? (HIV-Fall)

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Lösung:

I. Versuchte Tötung gem. §§ 212, 22, 23 StGB

1. Strafbarkeit des Versuchs und Nichteintritt des Todeserfolges liegen auf der Hand.

2. Es fehlt aber jedenfalls am notwendigen Tatentschluss hinsichtlich einer Tötung, da A durch die Verwendung eines Kondoms Vorkehrungen gegen eine Ansteckung getroffen hat, sodass von einem Vermeidewillen auszugehen ist.

II. In Betracht kommt jedoch Strafbarkeit wegen gefährlicher Körperverletzung nach §§ 223, 224 I Nr. 1 und 5 StGB.

1. Zunächst stellt die Infizierung mit dem Aids-Virus eine Körperverletzung dar, da durch sie – selbst wenn die Krankheit noch nicht ausgebrochen ist – eine negative Abweichung vom körperlichen Normalzustand bewirkt wird. Auch erfüllt das Verhalten den Qualifikationstatbestand des § 224 I Nr. 1 und 5 StGB, da Viren „andere gesundheitsschädliche Stoffe“ im Sinne der Nr. 1 darstellen und der Vollzug des Geschlechtsverkehrs von Seiten eines HIV-Infizierten auch eine lebensgefährdende Behandlung im Sinne der Nr. 5 darstellt (zu Recht lässt sich laut BGH der gefährliche Erfolg, d. h. die Ansteckung nicht von der grundsätzlich ungefährlichen Handlung, nämlich dem Geschlechtsverkehr als solchem, trennen). Auch ist festgestellt, dass A die Infizierung kausal bewirkt hat.

2. Der subjektive Tatbestand würde allerdings voraussetzen, dass A Vorsatz hinsichtlich der Körperverletzung gehabt hat. Ausreichend ist insoweit auch bedingter Vorsatz, der hier jedoch nicht gegeben ist, da A durch die Benutzung eines Kondoms Schutzvorkehrungen gegen eine Infizierung getroffen hatte. Er hat daher Vermeideaktivitäten entfaltet, die die Annahme rechtfertigen, dass er auf ein Ausbleiben einer Ansteckung vertraute.

Strafbarkeit wegen vollendeter gefährlicher Körperverletzung nach §§ 223, 224 StGB scheidet daher mangels Vorsatzes aus.

III. Nach dem Gesagten scheitert auch ein Versuch einer gefährlichen Körperverletzung nach §§ 223, 224, 22, 23 StGB, da es dem A hierfür – wie gesehen – jedenfalls am notwendigen Tatentschluss fehlte. Denn zwar stellt die Infizierung mit dem Aids-Virus – wie gesehen – eine gefährliche Körperverletzung dar, jedoch hatte A angesichts der von ihm getroffenen Schutzvorkehrungen keinen Vorsatz hinsichtlich des Körperverletzungserfolges.

Achtung Klausur: Sie sehen, dass Sie beim Versuch die objektiven Tatbestandsmerkmale einschließlich etwaiger Qualifikationsmerkmale im Rahmen des Tatentschlusses zunächst objektiv begutachten und anschließend den diesbezüglichen Tatentschluss prüfen müssen. Vergegenwärtigen Sie sich dies bitte schon hier (näher u. Rn. 405)!

IV. In Betracht kommt daher im konkreten Fall allenfalls Strafbarkeit wegen fahrlässiger Körperverletzung nach § 229 StGB.

1. Der Erfolg der Körperverletzung ist eingetreten (vgl. o.).

2. A ist für diesen Erfolg laut Sachverhalt auch kausal geworden.

3. Fraglich ist allerdings, ob A sich überhaupt sorgfaltspflichtwidrig verhalten hat, was nicht der Fall wäre, wenn er sich im Rahmen des erlaubten Risikos gehalten hat.[86]

– An der Unerlaubtheit des Risikos ließe sich schon deshalb zweifeln, weil die Ansteckungsgefahr bei einmaligem heterosexuellem Kontakt lediglich 0,1–1 % beträgt[87] und dieses Risiko durch die Verwendung eines Kondoms zusätzlich reduziert wird. Insofern könnte es an der rechtlichen Relevanz des Risikos fehlen.

Indessen ist zu berücksichtigen, dass die Ansteckung bei jedem Geschlechtskontakt allein vom Zufall abhängt. Berücksichtigt man zusätzlich, dass auch die Verwendung von Kondomen keinen absoluten Schutz gewährleistet (zumal das Virus keine Empfängniszeiten kennt), so kann man von einer Irrelevanz der Gefahrschaffung nicht mehr sprechen.

– Darüber hinaus gehen aber auch manche Autoren im Beispielsfall von einer erlaubten Risikoschaffung aus, weil die staatlichen Aufklärungskampagnen den Geschlechtsverkehr unter Verwendung von Kondomen geradezu empfehlen („Gib Aids keine Chance“).[88]

Dem ist jedoch mit der h. M. entschieden zu widersprechen, denn die Kampagnen bedeuten keinen Freibrief für HIV-Infizierte, sondern sollen nur klarstellen, dass Nichtinfizierte sich vor einer Ansteckung schützen sollen.[89] Von einem erlaubten Risiko kann daher bei geschütztem Geschlechtsverkehr durch den bereits Infizierten nicht gesprochen werden.

4. Denkbar wäre daher allenfalls, dass der Zurechnungszusammenhang durch Einverständlichkeit hinsichtlich des Geschlechtsverkehrs unterbrochen wurde. Dies ist hier jedoch gerade abzulehnen, da sich der Täter den Geschlechtsverkehr erschlichen hat und dem Opfer daher die Kenntnis hinsichtlich des Umfangs der Gefahr fehlte.

5. Rechtfertigungs- und Schuldausschließungsgründe sind im Übrigen nicht ersichtlich.

6. Ergebnis: A ist wegen fahrlässiger Körperverletzung nach § 229 StGB strafbar.

Hinweis: In der Praxis ist inzwischen bereits nachweisbar, ob das Opfer gerade durch den Sexualkontakt mit dem Täter infiziert worden ist. Für ca. ein halbes Jahr trägt das Virus nämlich die genetische Information des Überträgers. Erst dann verändert sich das Virus im Körper des neuen Trägers, sodass ein Nachweis nicht mehr mit der erforderlichen Sicherheit geführt werden kann. In der theoretischen Klausur muss aber der Nachweis der Ansteckung unterstellt werden, wenn der Sachverhalt dies anordnet!

Zu beachten ist darüber hinaus, dass die Rspr. die Rechtsfigur der einverständlichen Fremdgefährdung bis heute nicht anerkennt und stattdessen immer wieder auf das Institut der rechtfertigenden Einwilligung zurückgreift. Das ist problematisch, weil dies die Einwilligung in den Erfolg voraussetzt und nicht nur in die Gefährdung. Näher dazu u. bei der Einwilligung, Rn. 202 ff.

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Die höchstrichterliche Rspr. hatte sich zweimal mit Sachverhalten zu beschäftigen, in denen das Opfer sterben wollte und den Täter dadurch zu einem tödlichen Verhalten bewog, dass es ihn über die tödlichen Wirkungen seines Verhaltens täuschte. Das Problem zeigen folgende Beispiele:

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Beispiel 1: Der Schwerstbehinderte B, der nur noch Mund und Zunge bewegen konnte, bat den Zivildienstleistenden A, ihn unbekleidet und in Müllsäcke verpackt in einen Abfallcontainer zu legen. Dabei log B dem A, der wegen der Gefahren Zweifel äußerte, vor, dass dies für ihn ein sexuell erregendes Erlebnis sei, das er schon öfter gehabt habe und bei dem er stets von den Müllfahrern gefunden und geborgen werde. Tatsächlich sehnte B seinen Tod herbei und hoffte, auf diese Weise sterben zu können. A folgte der Aufforderung des B, wobei er darauf vertraute, dass B von den Beschäftigten der Müllabfuhr entdeckt werde. Tatsächlich starb B durch Erstickung und Kälteeinwirkung (die Temperaturen lagen – wie A wusste – um den Gefrierpunkt). Strafbarkeit des A? (Müllcontainer-Fall nach BGH NStZ 2003, 537).

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Lösung: Eine Strafbarkeit wegen Tötung auf Verlangen nach § 216 I StGB ist zu verneinen, da es hierfür an einem ausdrücklichen Verlangen des B zur Tötung fehlt. Auch scheitert eine Bestrafung am fehlenden bedingten Vorsatz, da A den Angaben des B vertraute. Jedoch hat sich A wegen Aussetzung mit Todesfolge nach § 221 I Nr. 1 i. V. m. III StGB strafbar gemacht. Die Zurechnung scheitert nicht am Vorliegen einer freiverantwortlichen Selbstgefährdung, da die Herrschaftsmacht hinsichtlich des Versetzens in eine hilflose Lage und der Gefahrschaffung für Leib und Leben allein bei A lag. Eine einverständliche Fremdgefährdung wird man deshalb verneinen müssen, weil § 221 StGB ein Lebensgefährdungsdelikt darstellt, hinsichtlich dessen ein tatbestandsausschließendes Einverständnis bzw. nach der Rspr. eine rechtfertigende Einwilligung ausgeschlossen sind (Rechtsgedanke des § 216 StGB, vgl. schon o. Rn. 60).[90] Auch der subjektive Tatbestand ist gegeben. A wusste, dass B sich nicht aus eigener Kraft aus dem Container befreien konnte. Auch handelte A mit dem notwendigen Gefährdungsvorsatz (bzgl. Leib und Leben des B). Er nahm zwar nicht den Tod des B in Kauf, jedoch erkannte er die Umstände, aus denen sich Gefahren für dessen Leib und Leben ergeben konnten. Als Folge der Aussetzung ist B auch gestorben, sodass auch eine Aussetzung mit Todesfolge nach §§ 221 III, 18 StGB gegeben ist. Zusätzlich hat sich A wegen Körperverletzung mit Todesfolge nach §§ 223, 227 StGB strafbar gemacht. Auch hier scheitert eine Einwilligung des B, da die Körperverletzung vorliegend eine konkrete Lebensgefährdung des B mit sich brachte und der BGH für derartige Fälle eine Einwilligung wegen Sittenwidrigkeit nach § 228 StGB ausschließt. Der BGH folgert dies daraus, dass der Gesetzgeber in § 216 StGB dem Lebensschutz Priorität eingeräumt hat und daher auch eine körperliche Verfügung, die diesen Lebensschutz gefährdet, nicht akzeptabel sei (näher zu dieser Rspr. u. Fall 24, Rn. 185, sog. Sado-Maso-Fall). Gleichzeitig hat A eine fahrlässige Tötung nach § 222 StGB verwirklicht, die hinter §§ 221 III, 227 StGB zurücktritt.

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Beispiel 2: Ehemann E forderte seine Ehefrau F dazu auf, mit einer Schrotflinte auf ihn zu schießen. Dabei versicherte er F, wider besseren Wissens, dass die Flinte nicht geladen sei. F folgte dem Wunsch ihres Mannes, es wurde ein Schuss ausgelöst und E war sofort tot. (Flinten-Fall nach OLG Nürnberg JZ 2003, 745 ff.)

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Lösung: Vorliegend hat das OLG Nürnberg eine fahrlässige Tötung nach § 222 StGB bejaht. Der Kritik der Lit., dass E in Wahrheit Selbstmord begehe und dabei F als unvorsätzliches Werkzeug für sein Vorhaben einsetze,[91] ist entgegenzuhalten, dass eine mittelbare Täterschaft lediglich eine Strafbarkeit der F aus §§ 212, 216 StGB beseitigen kann. Diesbezüglich hat F keinen Vorsatz, sodass E hier tatsächlich mittelbarer Täter ist. Mittelbare Täterschaft hindert aber nicht die Bestrafung aus dem Fahrlässigkeitsdelikt (so ist z.B. eine Fahrlässigkeitsbestrafung einer Krankenschwester möglich, auch wenn ein Arzt sie als unvorsätzliches Werkzeug dafür einsetzt, einem Patienten eine tödliche Spritze zu verabreichen, etwa weil ihr die ungewöhnliche Farbe in der Infusion hätte auffallen müssen). Der Fahrlässigkeitsvorwurf gegenüber F liegt vorliegend darin begründet, dass sie bereits wegen der völlig unsinnigen Aufforderung des E stutzig werden und sich vergewissern hätte müssen, ob die Flinte geladen ist.[92]

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Wie Sie gesehen haben, schränkt die Lit. die rechtliche Zuordnung von Erfolgen über die soeben unter 2. a)-e) genannten Fallgruppen ein. Aus diesen einzelnen Fallgruppen hat sich dann im Laufe der Zeit die Lehre von der objektiven Zurechnung entwickelt,[93] die nicht mehr nur danach fragt, ob der Erfolg auch ohne die Handlung eingetreten wäre (so die Äquivalenztheorie), sondern weiterfragt, ob die konkrete Handlung im Erfolg auch rechtlich wirksam geworden ist. Dabei wird nach Stratenwerth die Haftung für einen Erfolg immer vermittelt durch die Haftung für die Gefahr, auf der er beruht.[94]

Auch wenn in neuerer Zeit wieder zunehmend Kritik an der Lehre von der objektiven Zurechnung geübt wurde (vor allem wird darauf hingewiesen, dass es sich bei den einzelnen Zurechnungseinschränkungen um ganz heterogene Kriterien handle, die vielfach auch auf Rechtswidrigkeitsebene lösbar wären),[95] sollte man in der Klausur auf die Beiziehung dieser Lehre nicht verzichten. Im Anschluss an die Bejahung der Kausalität ist daher nach der Lehre von der objektiven Zurechnung weiterzufragen, ob der Täter eine unerlaubte Gefahr für das Rechtsgut geschaffen oder erhöht hat und ob sich diese Gefahr auch im Erfolg realisiert hat.[96]

Achtung: Machen Sie sich klar, dass in diesem Satz alle – ggf. in der Klausur zu bringenden – Einschränkungen von oben 2. a)-e) enthalten sind, nämlich:

- Gefahr geschaffen oder erhöht → keine Zurechnung bei Risikoverringerung
- unerlaubt → keine Zurechnung bei Fehlen rechtlicher Relevanz
- unerlaubte Gefahr, die sich im Erfolg realisiert hat → nach h. M. Zurechnung nur, wenn Erfolg bei rechtmäßigem Alternativverhalten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeblieben wäre → keine Zurechnung, wenn die Unerlaubtheit den konkreten Erfolgsbezug vermissen lässt, d. h. die konkrete Erfolgsbewirkung darf nicht außerhalb des Schutzbereichs der Verbotsnorm liegen. Außerhalb des Schutzbereichs der Norm liegt insbesondere auch die Teilnahme an freiverantwortlicher Selbstgefährdung, denn wenn schon die Teilnahme an freiverantwortlicher Selbsttötung straflos ist, so muss dies erst recht für die Teilnahme an freiverantwortlicher Selbstgefährdung gelten.
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