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bb) Stellungnahme

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Bei allem scholastischen Scharfsinn, mit dem die Diskussion um die Risikoerhöhungslehre seit Jahrzehnten geführt wird, wird man ihr im Ergebnis doch nicht zustimmen können. Denn wenn der Erfolg sicher, d. h. hundertprozentig oder jedenfalls mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, auch bei rechtmäßigem Alternativverhalten eingetreten wäre, so verneinen selbst die Vertreter der Risikoerhöhungslehre die Zurechnung.[49] Dann aber darf die Zurechnung nicht bejaht werden, wenn der Erfolg im Falle rechtmäßigen Alternativverhaltens nur möglicherweise ausgeblieben wäre, weil dies auf eine Beweislastumkehr hinausliefe, die das Strafrecht nicht kennt. Bei der von der Risikoerhöhungslehre befürworteten Konstruktion liegt nämlich die Beweislast dafür, dass es bei rechtmäßigem Alternativverhalten sicher zu dem gleichen Erfolg gekommen wäre, beim Täter. Denn da sich nach der Risikoerhöhungslehre der Staat für die Begründung der Zurechnung mit der Berufung auf die Möglichkeit eines guten Ausgangs begnügen könnte, liegt es nach dieser Lehre beim Täter, den Nachweis zu erbringen, dass im Falle rechtmäßigen Alternativverhaltens der Erfolg sicher ebenso eingetreten wäre (der Täter müsste sich also – verkürzt gesprochen – um den Nachweis der 100 % kümmern). Dies aber widerspricht dem Grundsatz „in dubio pro reo“.[50]

Freilich ist auch der BGH bei der Vertretung seines Standpunktes bisweilen wenig konsequent und versucht, täterfreundliche Ergebnisse, die das Schuldprinzip in diesem Bereich an sich fordert, aus diffusen Gerechtigkeitserwägungen durch Hilfskonstruktionen zu umgehen. Das zeigt folgender, in der Darstellung auf die Problemschwerpunkte begrenzter

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Fall 1: Der stark angetrunkene A, der sich seiner Alkoholisierung und der Beeinträchtigung seiner Fahrtüchtigkeit bewusst war, befuhr nachts mit einer Geschwindigkeit von 40–60 km/h eine Hauptstraße. An einer unübersichtlichen Stelle betrat der dunkel gekleidete B die Fahrbahn, ohne sich zu vergewissern, dass die Straße frei war. A erfasste ihn ungebremst. B wurde schwer verletzt. B war erst eine Sekunde vor dem Aufprall überhaupt zu sehen. A hatte ihn gar nicht wahrgenommen. Er setzte seine Fahrt fort, wobei er billigend in Kauf nahm, den in Lebensgefahr befindlichen B zurückzulassen. Er berief sich unwiderlegbar darauf, dass der Unfall auch für einen nüchternen Fahrer möglicherweise nicht zu vermeiden gewesen wäre. Strafbarkeit des A? (Trunkenheitsfahrt-Fall I abgewandelt nach BGH NStZ 2013, 231[51])

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Lösung:

A. Das Geschehen bis zum Unfall

I. A hat sich jedenfalls wegen vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr nach § 316 I StGB strafbar gemacht. Da sich A von vorneherein seiner Fahruntüchtigkeit bewusst war, hat bereits während der Fahrt vor dem Unfall eine vorsätzliche Trunkenheit im Verkehr nach § 316 I StGB vorgelegen.

II. In Betracht kommt auch eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Körperverletzung nach § 229 StGB.

Fraglich ist, ob ein Pflichtwidrigkeitszusammenhang (Zurechnungszusammenhang) zwischen Sorgfaltspflichtverstoß und Verletzung des B zu bejahen ist.

Nach der Vermeidbarkeitslehre ist zu prüfen, ob der Erfolg bei pflichtgemäßem Alternativverhalten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermieden worden wäre. Nur dann beruht der Verkehrsunfall auf der Pflichtwidrigkeit des Verhaltens des A. Dabei ist problematisch, welches pflichtgemäße Alternativverhalten zugrunde zu legen ist.

Dem BGH zufolge ist zu prüfen, bei welcher geringeren Geschwindigkeit A – abgesehen davon, dass er als Fahruntüchtiger überhaupt nicht am Verkehr teilnehmen durfte – noch seiner durch den Alkoholeinfluss herabgesetzten Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit bei Eintritt der kritischen Verkehrslage hätte Rechnung tragen können und ob es auch bei dieser Geschwindigkeit zu dem Unfall gekommen wäre. Es liege vorliegend daher nahe, dass A bei einer seiner alkoholbedingt herabgesetzten Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit angepassten, geringeren Geschwindigkeit selbst im Falle eines auch dann unvermeidbaren Anstoßes zumindest geringere Verletzungen des B bewirkt hätte.

Allerdings verkennt der BGH damit, dass es keine für eine Alkoholisierung angemessene Geschwindigkeit gibt, da eine Teilnahme am Straßenverkehr im Falle der Alkoholisierung gänzlich unzulässig ist. Der BGH ersetzt auf diese Weise die Rechtsfigur des rechtmäßigen Alternativverhaltens durch die Rechtsfigur des weniger rechtswidrigen Alternativverhaltens.

Im Übrigen muss beim rechtmäßigen Alternativverhalten derjenige Gesichtspunkt hinweg gedacht werden, der die Gefahr zu einer unerlaubten gemacht hat. Dies jedoch ist die Trunkenheit und nicht die Geschwindigkeit, da die Zurechnung bei einem nüchternen Fahrer mit gleicher Geschwindigkeit ausgeschlossen gewesen wäre.[52] Darüber hinaus besteht der Schutzzweck des Verbots des Fahrens bei Trunkenheit nicht in der Gewährleistung einer Fortbewegung im Straßenverkehr mit einer bestimmten Geschwindigkeit, sondern darin, dass der Fahrer in der kritischen Situation das zu leisten vermag, was er als nüchterner Fahrer leisten könnte. Richtigerweise wäre daher vorliegend eine Strafbarkeit nach § 229 StGB entgegen dem BGH zu verneinen gewesen, sofern Zweifel daran bleiben, dass der Erfolg in nüchternem Zustand zu vermeiden gewesen wäre. Dagegen gelangt die Risikoerhöhungslehre vorliegend ohne Weiteres zur Strafbarkeit, weil für sie ausschlaggebend ist, dass der Erfolg im Falle rechtmäßigen Alternativverhaltens auch nur möglicherweise ausgeblieben wäre. Gegen sie spricht jedoch, dass dann dem Täter die Beweislast für den Nachweis träfe, dass der Erfolg auch bei rechtmäßigem Verhalten sicher bzw. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ebenfalls eingetreten wäre.

Ergebnis: Verlangt man mit der Vermeidbarkeitstheorie für den Zurechnungszusammenhang, dass der Erfolg bei rechtmäßigem Alternativverhalten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeblieben wäre, so scheidet hier richtigerweise eine Bestrafung wegen fahrlässiger Körperverletzung aus. Zum gegenteiligen Ergebnis kann man nur gelangen, wenn man mit dem BGH – verfehlt – beim rechtmäßigen Alternativverhalten auf eine an die Alkoholisierung angepasste Geschwindigkeit abstellt oder mit einem Teil der Lit. den Ansatz der Risikoerhöhungslehre wählt.

III. Eine Strafbarkeit wegen vorsätzlicher Straßenverkehrsgefährdung nach §§ 315c I Nr. 1a, III Nr. 1; 11 II StGB scheitert mangels Zurechnungszusammenhang zwischen missbilligtem Verhalten und Gefahrerfolg (§ 315c StGB wird daher zutreffend als Gefahrerfolgsdelikt bezeichnet).[53] An einem derartigen Zurechnungszusammenhang fehlt es hier aber – sofern man nicht die Risikoerhöhungslehre zugrunde legt – aus den bereits bei § 229 StGB angeführten Gründen. Interessant ist dabei, dass auch die Rechtsprechung bei § 315c I Nr. 1a StGB nicht auf den Gesichtspunkt der möglichen Reduzierung der Geschwindigkeit, sondern allein auf die unerlaubte Alkoholisierung abstellt. Grund hierfür ist wohl der eindeutige Wortlaut dieser Vorschrift, wonach gerade durch die Alkoholisierung die Gefahr für Leib und Leben entstanden sein muss (vgl. Wortlaut: „… und dadurch …“). Die Vorschrift gibt damit klar vor, dass die Gefahr hier gerade durch die Trunkenheit eingetreten sein muss, weshalb beim rechtmäßigen Alternativverhalten diese Trunkenheit auch wegzudenken ist.

IV. Ergebnis: Da nicht sicher ist, ob bei Nüchternheit der Unfall vermeidbar gewesen wäre, ist danach jedenfalls eine Strafbarkeit nach § 315c StGB abzulehnen und nur § 316 StGB zu bejahen.

B. Das Geschehen nach dem Unfall

I. Denkbar ist hier eine Strafbarkeit wegen versuchten Mordes durch Unterlassen nach §§ 212, 211, 13, 22, 23 StGB.

Die Annahme einer Verdeckungsabsicht ist hinsichtlich der Trunkenheitsfahrt nach § 316 I StGB möglich, sofern man hier nur die Verknüpfung von Unrecht mit weiterem Unrecht fordert (vgl. näher zu dieser Problematik Jäger, BT, Rn. 42 ff.). Allerdings lässt sich auch eine Ablehnung einer Verdeckungsabsicht gut vertreten, wenn man davon ausgeht, dass das bloße Nichtaufdecken einer Straftat mit dem aktiven Zudecken einer solchen nicht vergleichbar ist und daher die notwendige Modalitätenäquivalenz fehlt (auch dazu näher Jäger, BT, Rn. 52 ff.). Folgt man jedoch dem BGH, so läge hier sogar eine Verdeckungsabsicht vor.

Eine Garantenstellung aus Ingerenz ist hier dagegen nach einem Teil der Literatur unter Zugrundelegung der von A vorgestellten Umstände zu verneinen. Der BGH hat hierfür bereits in einer Entscheidung aus dem Jahre 1986[54] schlicht das Vorliegen eines pflichtwidrigen Vorverhaltens (hier die Trunkenheitsfahrt) genügen lassen und keine weitere Verknüpfung zwischen Sorgfaltspflichtwidrigkeit und Gefahr verlangt. Dagegen geht die Literatur zu Recht davon aus, dass eine Garantenstellung aus Ingerenz nur dann gegeben sein kann, wenn dem Unterlassenden aufgrund seiner pflichtwidrigen Vorhandlung die abzuwendende Gefahr und damit auch die sich aus ihr entwickelnde Rechtsgutsverletzung objektiv als fahrlässig bewirkt zugerechnet werden kann[55] (näher dazu Rn. 523 ff.). Gegen die Ansicht des BGH spricht, dass diese allein an der Gefährlichkeit des Vorverhaltens anknüpft und letztlich gegen allgemeine Zurechnungsregeln verstößt, wenn sie einerseits Pflichtwidrigkeit des Vorverhaltens verlangt, dann aber nicht für entscheidend hält, ob sich tatsächlich das rechtlich missbilligte Risiko im konkreten Taterfolg niedergeschlagen hat. Auf diese Weise wird dem Täter etwas als Unterlassungstat vorgeworfen, was ihm nicht als durch fahrlässige Aktivtat herbeigeführt angelastet werden könnte.[56]

II. Ebenso scheitert mangels Garantenstellung (zur Begründung siehe soeben) eine versuchte Aussetzung mit Todesfolge nach § 221 I Nr. 2, III, 22, 23 StGB (vgl. zur Möglichkeit eines Versuchs bei § 221 I, III StGB näher Jäger, BT, Rn. 89).

III. Eine Strafbarkeit wegen vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr nach § 316 I StGB durch Fortsetzung der Trunkenheitsfahrt sowie wegen unterlassener Hilfeleistung nach § 323c StGB und unerlaubten Entfernens vom Unfallort nach § 142 StGB ist zu bejahen.

C. Gesamtergebnis: Im ersten Sachverhaltskomplex hat sich A nach BGH-Auffassung wegen fahrlässiger Tötung, nach richtiger Literaturansicht dagegen nur gem. § 316 StGB strafbar gemacht. Im zweiten Sachverhaltskomplex hat sich A nach der Ansicht des BGH wegen versuchten Mordes nach §§ 212, 211, 13, 22, 23 StGB sowie wegen versuchter Aussetzung mit Todesfolge nach § 221 I Nr. 2, III StGB strafbar gemacht. Darüber hinaus sind auch die §§ 316 I, 323c sowie § 142 StGB verwirklicht. Nach der Literaturauffassung wären dagegen im zweiten Komplex nur die §§ 316 I, 323c und 142 StGB zu bejahen. Die Delikte des ersten und zweiten Tatkomplexes stehen zueinander in Tatmehrheit, da der Unfall eine Zäsur schafft (dazu näher Rn. 589). Die jeweils im ersten und zweiten Sachverhaltskomplex verwirklichten Delikte stehen dagegen zueinander in Tateinheit.

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