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4. Sonderproblem: Mauerschützenprozesse[61]

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Die Problematik ist heute wohl allenfalls noch für mündliche Prüfungen relevant, sollte aber dennoch wegen ihrer juristisch-historischen Bedeutung bekannt sein.

Beispiel: Grenzsoldat A hatte – entsprechend dem ihm gegebenen Befehl, den er für bindend hielt – mit seinem Maschinengewehr unter Abgabe von Dauerfeuer auf den Grenzflüchtling B geschossen und dabei dessen Tod billigend in Kauf genommen. Das zuständige Landgericht hatte nach der Wiedervereinigung Deutschlands die Strafbarkeit des A zu beurteilen. (Mauerschützen-Fall nach BGHSt 39, 1; stark verkürzt[62])

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Lösung: A könnte sich wegen Totschlags nach § 212 StGB strafbar gemacht haben. Mit der staats- und strafrechtlichen Vereinigung Deutschlands ist für die Anwendung der internationalen Strafrechtsanwendungsregeln (§§ 3 ff. StGB) grundsätzlich kein Raum mehr. Nach § 315 IV EGStGB gilt bundesdeutsches Strafrecht für DDR-Alttaten nur dann, wenn für diese Taten auch schon vor dem Beitritt das Strafrecht der BRD anzuwenden war. Dies wäre nur dann der Fall, wenn Täter oder Opfer stets als Deutsche i. S. des § 7 II Nr. 1 bzw. § 7 I StGB zu betrachten gewesen wären, wovon aber Art. 315 I EGStGB ersichtlich nicht ausgeht.[63] Es gelten vielmehr nach Art. 315 I EGStGB i. V. m. § 2 StGB die intertemporären Strafrechtsanwendungsregeln. Danach ist grundsätzlich DDR-Strafrecht anwendbar (§ 2 I StGB), es sei denn, das bundesdeutsche Strafrecht hat die mildere Rechtsfolge (§ 2 III StGB). Bei den Tötungsdelikten ist dies wegen der in der DDR ausgeschlossenen, aber im bundesdeutschen Strafrecht vorgesehenen Milderungsmöglichkeit nach § 213 StGB der Fall. Deshalb kommt eine Anwendung des § 212 StGB in Betracht.

Was den Tatbestand des § 212 StGB anbelangt, so wurde der Erfolg – Tod des B – von A kausal und zurechenbar verwirklicht. Die subjektive Tatseite ist ebenfalls erfüllt, da der Mauerschütze bei der Abgabe der Schüsse zumindest mit bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt hat (vgl. zu seiner Prüfung später Rn. 93 ff.).

Fraglich ist, ob der Schießbefehl nach § 27 II DDR-GrenzG einen Rechtfertigungsgrund für die tödlichen Schüsse abgibt (auch dieser könnte als milderes Recht grds. anwendbar sein).

Der BGH geht diesbezüglich jedoch davon aus, dass eine Rechtfertigung der Todesschüsse durch das Recht der DDR wegen Verstoßes gegen den Kernbereich universal anerkannter Rechtsgrundsätze keine Anerkennung verdient. Dem Einwand des Verstoßes gegen das Rückwirkungsverbot, das grundsätzlich auch auf Rechtfertigungsgründe anwendbar ist,[64] weicht der BGH dadurch aus, dass er die Frage aufwirft, ob § 27 II DDR-GrenzG mit Auslegungsmethoden, die der DDR eigentümlich waren, auch so hätte ausgelegt werden können, dass die Todesschüsse als rechtswidrig anzusehen waren („menschenrechtsfreundliche Auslegung“). Der BGH bejaht dies, da er der Auffassung ist, dass die in der DDR anerkannten Rechts- und Verfassungsgrundsätze, insbesondere der Schutz der Persönlichkeit und Freiheit des Bürgers sowie der 1972 erfolgte Beitritt zum Internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte eine solche menschenrechtsfreundliche Interpretation zugelassen hätten, sodass die sofortige gezielte Tötung des Flüchtlings unter Einsatz von Dauerfeuer ohne vorhergehenden Warnruf oder den Versuch eines Beinschusses auch unter Zugrundelegung des damaligen Grenzgesetzes unter keinen Umständen zu rechtfertigen war. Ob in der DDR eine solche Auslegung stattgefunden hat, spiele demgegenüber keine Rolle; maßgeblich sei allein, dass es die richtige ist.[65] Art. 103 II GG (Rückwirkungsverbot) verlange nur, dass die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Die Auslegung eines Gesetzes werde vom Rückwirkungsverbot dagegen nicht erfasst und der Soldat in seinem Vertrauen auf Straflosigkeit nicht geschützt.[66] A war daher nicht gerechtfertigt.

Auch Entschuldigungsgründe kommen nicht in Frage. Nach dem für Bundeswehrsoldaten geltenden § 5 I WStG, den der BGH zugunsten der DDR-Grenzsoldaten entsprechend anwenden will, trifft den Befehlsempfänger nur dann eine Schuld, wenn er die Rechtswidrigkeit der Tat erkennt oder diese offensichtlich ist. Letzteres bejaht der BGH, da der Verstoß gegen das elementare Tötungsverbot unter den konkreten Umständen (unbewaffneter Flüchtling und Dauerfeuer) auch für einen indoktrinierten Menschen ohne Weiteres einsichtig gewesen sei.

Sollte der Soldat einem Verbotsirrtum (hier als Erlaubnisirrtum wegen Annahme eines nicht existierenden Rechtfertigungsgrundes) unterlegen sein, so ist dieser nach Auffassung des BGH zumindest vermeidbar gewesen, da maßgeblich nicht die Anschauung der ehemaligen DDR-Machthaber, sondern die des DDR-Volkes seien[67] und die Handlungsweise gegen universal anerkannte Rechtsgrundsätze verstieß, die jedermann hätten einleuchten müssen.

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Bei sonstigen Taten ehemaliger DDR-Bürger hat die höchstrichterliche Rspr. jedoch die Möglichkeit einer Bestrafung teilweise eingeschränkt:

Beispiel 1: Einschränkend zur Strafbarkeit wegen Spionage BVerfG NJW 1995, 1811:[68]

Eine allgemeine Regel des Völkerrechts als Bestandteil des Bundesrechts (Art. 25 GG), nach der die strafrechtliche Ahndung nachrichtendienstlicher Tätigkeiten ausgeschlossen ist, die im Auftrag und vom Territorium eines Staates aus begangen wurden, der danach dem ausgespähten Staat friedlich und einverständlich beigetreten ist, kann nicht festgestellt werden. Art. 31 der Haager Landkriegsordnung ist Sonderrecht des Krieges und kann daher nicht analog angewendet werden. Jedoch ergibt sich unmittelbar von Verfassungs wegen, nämlich aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, ein Verfolgungshindernis für diejenigen Personen, die als Staatsbürger der DDR Spionagestraftaten gegen die Bundesrepublik Deutschland allein vom Boden der DDR aus begangen haben und dort im Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Einheit ihren Lebensmittelpunkt hatten.

Beispiel 2: Einschränkend zur Strafbarkeit wegen Rechtsbeugung ehemaliger DDR-Richter auch BGHSt 40, 30:[69]

Rechtsbeugung ist auf Fälle zu beschränken, in denen die Rechtswidrigkeit der Entscheidung so offensichtlich war, dass sie sich als Willkürakt darstellt.

Begründung: Der Rechtsbeugungsparagraph der DDR sprach von „Gesetzwidrigkeit“ der Entscheidung und für diese Frage müssen laut BGH die Auslegungsmethoden der ehemaligen DDR maßgeblich sein. In der ehemaligen DDR war aber der Einzelne immer nur Teil des Ganzen, sodass es (im entschiedenen Fall) keine Rechtsbeugung darstellte, wenn eine Richterin die Kündigung eines Arbeitnehmers bestätigt, der nicht mehr staatszielkonform war.

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