Читать книгу Gesamtausgabe der "silent sea"-Trilogie - Christiane Weller / Michael Stuhr - Страница 17
Оглавление13 DER FELS
Nicht allzu weit von Port Grimaud entfernt gibt es ein Stück Felsküste, deren rötliches Gestein in mehreren Ausläufern dem Meer zustrebt. Hier, auf den wohl teuersten Baugrundstücken der Welt, gibt es einige Villen, die sich ein paar Superreiche haben errichten lassen. Die einzelnen Felszungen bilden viele, kleine Buchten, die von den Anwohnern als natürliche Häfen genutzt werden. Hier liegt so manche Yacht vor Anker, die um ein Vielfaches teurer ist, als ein Haus, während die Häuser wiederum teurer sind, als anderswo die kompletten Produktionsanlagen großer Fabriken. Besonders am Abend wird die Küstenstraße in dieser Gegend von den Spitzenmodellen der teuersten Automarken beherrscht. Das ist die Stunde, wo die Bewohner der Häuser ausschwärmen, um in Nobelrestaurants zu speisen, oder sonstigen Vergnügungen in den Städten nachzugehen.
So gar nicht in das Bild dieser snobistischen Umgebung passte das kleine, weiße Haus, das auf einen hohen Felsen gebaut war, der besonders weit in das Meer hineinragte. Direkt hinter dem soliden Stahlgitterzaun, mit dem hier alle Grundstücke vom Rest der Welt abgeriegelt waren, gab es einen kleinen Parkplatz, auf dem nur ein älterer Lexus stand.
Diego ließ seinen Wagen langsam die Küstenstraße entlang rollen, bog in die Zufahrt ein und stoppte vor dem Tor. Einen Moment lang blieb er noch hinter dem Steuer sitzen, um sich mit geschlossenen Augen auf das bevorstehende Gespräch vorzubereiten. Schließlich stieg er aus und gab mit schnellen Bewegungen seinen persönlichen Code in die Tastatur des Chiffreschlosses ein. Lautlos glitt das schwere Tor zur Seite und Diego stellte seinen Wagen neben dem Lexus ab.
Es war nur ein schmaler Pfad, der durch die Felsen zum Haus führte. Gerade mal so breit, dass zwei Menschen aneinander vorbeikamen. Diego machte sich auf den Weg.
Er fand Sochon auf der Terrasse des kleinen Hauses, wie er an einem Notebook saß und an irgendeinem Text arbeitete. „Hoheit!“, grüßte er und deutete eine Verbeugung an.
„Lass das!“, winkte Sochon ab, und bearbeitete weiter die Tastatur, aber Diego ließ sich nicht täuschen. Er wusste, dass der alte Mann sich gerne so anreden ließ.
Kaum, dass Diego sich gesetzt hatte, kam Elom, der einzige Diener Sochons, aus dem Haus, brachte ihm ein Glas und schenkte aus einer Karaffe Wasser ein.
Diego dankte ihm, nahm einen Schluck und stellte das Glas zurück auf den Tisch. „Köstlich!“, stellte er fest.
„Eis aus der Antarktis“, sagte Sochon nebenbei, ohne vom Bildschirm aufzuschauen. „Ein kleines bisschen Luxus.“
Diego schwieg und sah über die Gartenmauer hinweg auf das Meer hinaus. Ein Anblick, der immer gleich schien und sich trotzdem ständig änderte. Er war in jüngeren Jahren so oft hier gewesen, wie es nur ging, denn Sochon war sein Onkel. Wann immer die Yacht seiner Eltern Port Grimaud angelaufen hatte, war er zu Besuch gekommen. Wenn es je eine unbeschwerte Zeit in Diegos Leben gegeben hatte, dann war es hier, auf diesem Felsen hoch über der Brandung gewesen – und in der Brandung natürlich auch, denn keine zehn Meter von der Terrasse entfernt begann die Steintreppe, die hinab an das Wasser führte.
„So!“ Sochon schaltete das Notebook aus und klappte das Display über die Tastatur. „Eine tolle Erfindung, diese Schreibmaschinen.“
„Äh, heute nennt man die anders.“
„Ich weiß, ich weiß!“, wehrte Sochon ab. „Hallo Diego, was führt dich zu mir?“
Das war es, was Diego so sehr an dem alten Mann schätzte: Kein langes Herumgerede. Immer gleich zur Sache. Trotzdem wollte er zuerst noch etwas wissen: „Dein Opus Magnum?“, fragte er und zeigte auf die „Schreibmaschine“.
„Fast fertig!“, nickte Sochon. „Ein gutes Stück unserer Geschichte aus meiner ganz persönlichen Sicht, und zwar ohne den wissenschaftlichen und religiösen Schnickschnack, mit dem andere ihre Werke aufwerten wollen. Einfach nur so erzählt, wie ich es erlebt habe.“
„Darf ich es lesen?“, fragte Diego mit einem Grinsen, denn er kannte die Antwort bereits.
„Wenn es fertig ist“, sagte Sochon da auch schon und legte eine Hand auf das Notebook.
„Weißt du, ich habe mich verliebt“, kam Diego auf Sochons ursprüngliche Frage zurück. „In eine Fremde.“
„Oh!“ Sochon war überrascht. „Das ist zwar ungewöhnlich, aber kommt immer wieder mal vor. Ich freue mich für dich.“
„Ich habe Angst, dass es wieder passiert!“ Im Lauf der Jahre hatte Diego erkannt, dass sein Onkel ein kluger Mann war, und er hatte sich nie gescheut, in schwierigen Situationen seinen Rat einzuholen. Sie brauchten nicht viele Worte, um sich zu verstehen, und tatsächlich begriff Sochon sofort, was Diego meinte. Was er ihm zu sagen hatte, war allerdings nicht sehr tröstlich.
„Was dir als Kind widerfahren ist, war ein Unfall“, begann Sochon. „Du bist schuldlos schuldig geworden. Jetzt gehst du mit anderen Augen an die Sache heran. Du weißt, welche Macht du hast. Du weißt von der Alten Schuld, die so viele von uns tragen, also kann es nie wieder ein Unfall sein! Willst du Vergebung im Voraus? Die kann dir niemand erteilen.“
„Darum geht es nicht.“ Diego machte mit der Hand eine verneinende Geste. „Ich liebe dieses Mädchen. Ich will Lana für mich gewinnen, aber ich will ihr nicht schaden. Was, wenn ich ihr die Lebenskraft nehme?“
„Der Trick, es nicht zu tun, ist, es nicht zu tun.“
„Kein besserer Rat?“
„Der einzige Rat, den ich dir geben kann. Warum suchst du dir nicht eine der Unseren? Da wärest du sicher – und sie auch.“
„Das geht nicht.“ Diego senkte mutlos den Kopf. „Sie sind alle so, wie das Mädchen, das ich umgebracht habe: klein und schwarzhaarig und ... Es geht einfach nicht!“
„Meidest du uns deshalb? Du erträgst den Anblick unserer Frauen nicht? Darum führst du das Leben eines Einsiedlers?“
„Adriano hat dir das verraten.“ Diego hob den Kopf und sah Sochon ins Gesicht.
„Ich habe ihn gefragt und er musste mir antworten. Mach ihm keinen Vorwurf daraus, es sei denn, er hätte mich belogen. Hat er?“
„Nein“, gab Diego zu. „Es stimmt. Ich habe mich von allem zurückgezogen, was mit unserem Volk zu tun hat.“
„Vielleicht bist du klüger als ich“, sagte Sochon zu Diegos Überraschung. „Weißt du eigentlich, wie alt ich bin?“
Das Alter war ein heikles Thema in Diegos Volk. Man sprach nicht darüber, aber wenn Sochon fragte ... „Man spricht von sechshundert Jahren.“
„Wie schmeichelhaft!“ Sochon lachte kurz auf. „In Wahrheit ist es fast das Doppelte.“
„Warum erzählst du mir das?“
„Weil ich mehr als Tausend Jahre brauchte, um zu der Einsicht zu kommen, die du offenbar heute schon gefunden hast, nämlich, dass wir falsch leben. Wir benehmen uns wie Parasiten, die Lebenskraft stehlen, ohne wirklich etwas dafür zu leisten. Erst jetzt habe ich mich dazu entschließen können, damit aufzuhören.“
„Du verjüngst dich nicht mehr?“
„Ich altere und werde sterben, so wie meine Frau. Aber das soll ein Geheimnis sein zwischen dir und mir.“
„Du hattest eine Frau? Wann ist sie gestorben?“
„Vor sehr langer Zeit. Sie hat es immer abgelehnt, sich zu verjüngen. Ich habe es mit angesehen, wie sie alterte und starb, während ich ein junger Mann blieb, aber ich habe sie bis zu ihrem letzten Tag geliebt. Ich wäre ihr gern gefolgt, aber damals war meine Gier nach Leben stärker.“
„Hast du je getötet, um neue Lebenskraft zu bekommen?“
„Oh, ja! Einen Krieger, der Gefallen daran gefunden hatte, seinen Gefangenen die Augen auszustechen, einen Kaufmann, der seine Tochter geschändet und ermordet hatte – Willst du mehr wissen?“
„Aber keine Unschuldigen?“ Diego ging nicht auf die Frage ein.
„Wer kann das wissen? Unsere Prediger reden gern von der Alten Schuld. Vielleicht habe ich etwas davon auf mich geladen, vielleicht auch nicht. Würdest du mich dafür verurteilen wollen?“
„Ich denke, nein. Für mich kommt so ein Leben aber nicht in Frage. Diese Gabe, die wir haben, ist für mich ein Fluch und eine Bedrohung, aber ich werde es lernen, sie nicht anzuwenden; und ich werde mein Leben so gestalten, wie ich es will – nicht, wie mein Trieb es von mir fordert!“
„Gesprochen, wie ein König“, stellte Sochon fest. „Aber die Zeit verändert mehr als du denkst „Narren werden weise und Weise werden zu Narren. Wer kann schon sagen, wer gerade was ist?“
„Ich danke dir“, Diego erhob sich von seinem Stuhl und deutete eine Verbeugung an.
„Aber ich konnte dir nicht helfen“, wandte Sochon ein.
„Du hast mir gezeigt, dass die Lösung des Problems aus mir selbst kommen muss. Niemand sonst kann das für mich tun und es gibt auch kein Geheimrezept.“
„So ist es! Machs gut, mein Junge.“
„Hoheit!“ Mit einer letzten Verbeugung wandte Diego sich ab und ging um das Haus herum zum Parkplatz. Er startete den Wagen und das Tor öffnete sich automatisch. Langsam ließ er den Porsche auf die Straße rollen und fuhr in Richtung Port Grimaud. Lana war schon wieder in seinen Gedanken, aber es würde schwierig bleiben, sie für sich zu gewinnen, ohne sie zu gefährden. Wenn schon der König seines Volks keine Lösung kannte ...