Читать книгу Gesamtausgabe der "silent sea"-Trilogie - Christiane Weller / Michael Stuhr - Страница 8
Оглавление04 DER WÄCHTER
Das Strandrestaurant des Neptune war wie jeden Abend gut besucht, aber in der letzten Reihe gab es auf einer Empore ein paar Tische, die über die ganze Terrasse hinweg einen guten Ausblick auf den Strand und das Wasser boten. Wem es nicht darum ging, gesehen zu werden, sondern selbst zu beobachten, der war hier bestens platziert, deswegen hatte er sich auch heute Abend wieder diesen Tisch reservieren lassen.
Weit draußen auf Reede lagen ein paar große Yachten, die auf dem schimmernden Meer eine imposante Kulisse für den nahenden Sonnenuntergang abgaben. Er wusste nicht von allen die Namen, aber einige der Luxuskreuzer waren ihm so vertraut, dass er sie selbst aus dieser Entfernung mit Leichtigkeit erkennen konnte: Da war die Medusa, die mit ihrem hohen Aufbau fast alle Schiffe in ihrer Umgebung überragte, die gestreckte Silhouette der Habanera, einem der schnellsten Schiffe auf den Weltmeeren, und die gigantische Masse der Recife, die unter brasilianischer Flagge lief.
All das waren Yachten, die den mächtigen Familien des Alten Bundes gehörten, einschließlich des 140-Meter-Kreuzers seiner Eltern, auf dem er praktisch aufgewachsen war. Die anthrazitfarbene Manhattan mit den silbergrauen Aufbauten war jahrelang seine Heimat gewesen, der einzig feste Punkt in einer ständig wechselnden Umgebung. Auf ihren Planken hatte er an der Seite seiner Eltern sämtliche Kontinente bereist, immer auf der Flucht vor den eigenen Erinnerungen.
Erst vor zwei Jahren, kurz nach seinem achtzehnten Geburtstag, hatten seine Eltern es wieder über sich gebracht, eine Villa im Hinterland von Grimaud anzumieten. Er selbst zog es zum Ärger seiner Familie vor, in einem der besseren Hotels in der Nähe des Wassers zu wohnen.
„Bonsoir, Monsieur Montenaux!“ Der Kellner war herangekommen und stand nun mit gezücktem Bestellblock neben dem Tisch. „Was darf ich Ihnen bringen?“
Der Mann riss sich aus seiner Nachdenklichkeit heraus und sah den Kellner kurz an. „Drei kleine Medallions vom Loup de Mer mit etwas Salat“, bestellte er. „Und Wasser bitte.“
„Sehr wohl!“ Der Kellner deutete eine Verbeugung an und wandte sich dem nächsten Tisch zu.
Für so eine extrem teure Gegend wie die Côte d’ Azur war die Strandbar des Neptune-Campingplatzes eine erstaunlich gute Adresse. Wenn es auch tagsüber nur das übliche Einerlei von Beignets, Pommes frites und Panini zu den Getränken gab, so wurde die einfache Bar am Abend zu einem Restaurant, dessen Angebot sich sehen lassen konnte. Außerdem waren die Preise nicht besonders hoch und die Außenterrasse lag direkt zwischen einem hübschen, kleinen Pinienwäldchen und dem Strand. Entsprechend gut war das Lokal besucht. Sämtliche Tische waren besetzt und die Angestellten hatten alle Hände voll zu tun.
All das interessierte den jungen dunkelhaarigen Mann auf der Empore aber erst in zweiter Linie. Ihm ging es nicht nur um das vorzügliche Essen, und auf die Preise brauchte er nun wirklich nicht zu achten. Ihm war es vor allem wichtig, unauffällig unter Menschen zu sein, ohne ihnen allzu nahe zu kommen. Fast sein ganzes, bisheriges Leben hatte er isoliert auf der Yacht seiner Eltern verbracht, und er hatte sich noch nicht wirklich daran gewöhnen können, jetzt ein halbwegs normales Leben zu führen.
Normal, das war das Wort, um das seit jenem unseligen Nachmittag am Pool seiner Eltern all seine Gedanken kreisten. Wie oft hatte er sich gewünscht, wie ein ganz normaler Junge in irgendeiner Vorstadtsiedlung leben zu dürfen, mit Eltern, die einer normalen Arbeit nachgingen und einem ganz normalen Schulalltag. Warum hatte er nicht normal aufwachsen können: mit schlechten Schulnoten, Krach zuhause und vielleicht mit ersten, zaghaften Erfahrungen mit Mädchen, mit vierzehn oder fünfzehn? Warum klebte dieser Fluch an ihm, etwas Besonderes zu sein, sodass er bis jetzt fast wie ein Mönch oder wie ein Gefangener hatte aufwachsen müssen?
Er hatte nie eine Antwort auf diese Fragen gefunden, weil es keine Antwort gab. Er war in dieses Leben hineingeboren worden, ohne gefragt worden zu sein und jetzt musste er sehen, dass er irgendwie damit zurechtkam.
Andererseits gibt es aber kaum einen Schmerz, den man mit ein paar Millionen Dollar nicht erträglicher machen kann. Manchmal dachte er ernsthaft darüber nach, ob er wirklich bereit war, den Lebensstil, der ihm in die Wiege gelegt worden war, aufzugeben. Die Antwort war nein, denn sonst hätte er es ja spätestens jetzt tun können. Zudem hätte sich die Normalität ja auch nur auf gewisse Äußerlichkeiten beschränkt. Die Gabe, die er erhalten hatte, wäre doch geblieben. Sie war zum Fluch geworden und die Bedürfnisse, die sich daraus ergaben, hätte er nicht abstreifen können. Er war völlig davon durchdrungen und es gab nicht den Schatten einer Chance, diesen Aspekt aus seinem Leben auszuklammern.
Viel zu ernste Gedanken für einen so schönen Sommerabend! Fast gewaltsam riss er sich aus seinen düsteren Betrachtungen heraus und schaute auf das bunte Treiben, das im Restaurant herrschte: Die große Terrasse des Lokals war voll besetzt, nur hier und da waren Paare allein am Tisch. Teenies lehnten sich weit auf ihren Stühlen zurück und alberten mit ihren Freunden und Freundinnen an den Nachbartischen herum, während ihre kleineren Geschwister durch die Gänge flitzten und sich die Zeit vertrieben, bis das Essen serviert wurde.
Etwas störte das friedliche Bild: Der gutaussehende, sportliche Mann, der sich vom Strand her der Terrasse näherte, wäre für das abendliche Panorama durchaus verzichtbar gewesen. Noch war er recht weit entfernt, aber die kraftvollen Bewegungen und die für den Zeitgeschmack etwas zu langen, schwarzen Haare ließen keinen Zweifel zu.
Der Mann auf der Empore kniff die Lippen zusammen und bereitete sich auf den üblichen Schlagabtausch mit Adriano, seinem Cousin vor.
Adriano war es gewesen, der den Jungen an jenem Nachmittag, an dem das Mädchen hatte sterben müssen, ins Haus gezerrt hatte, und er war es auch gewesen, den die Familie als Wächter eingesetzt hatte, damit so etwas nie wieder vorkam. Es hatte Adriano zwar keinen Spaß gemacht, aber er hatte seine Aufgabe ernst genommen. Über zehn Jahre lang hatte der Junge kaum einen Schritt tun können, ohne von Adrianos Leuten beobachtet zu werden.
Mittlerweile hatte die Überwachung nachgelassen. Die Familie traute es ihm jetzt wohl zu, sich zu beherrschen, oder die Probleme selbst zu regeln, falls es wieder zu einem Zwischenfall kommen sollte. Trotzdem kam Adriano ab und zu vorbei, um nach dem rechten zu sehen. Er tat das bestimmt nicht freiwillig, und diese ständige Überwachung hatte im Lauf der Jahre auf beiden Seiten einen schwelenden Hass herangezüchtet. Bewachter und Wächter vertrugen sich nicht. Sie kamen einfach nicht miteinander aus.
Adriano hatte die Terrasse erreicht. Ein blondes Mädchen von etwa sechzehn oder siebzehn Jahren lief zwischen den Tischen hindurch, war etwas unachtsam und hätte ihn um ein Haar angerempelt. Ohne seinen Schritt auch nur für einen Sekundenbruchteil zu verlangsamen, nahm er das Mädchen blitzschnell bei den Schultern und stellte es einfach zur Seite. In diesem winzigen Moment hätte man sehen können, welch enorme Kraft und Reaktionsfähigkeit in diesem schlanken Körper wohnten, aber an den umliegenden Tischen bemerkte niemand etwas davon.
Das Mädchen sah Adriano einen Moment lang verwundert nach und ging dann langsam weiter.
„Diego! Was für ein Zufall!“ Adriano hatte den Tisch erreicht und schaute mit gespielter Freude auf seinen Cousin hinab. Sein Grinsen glich eher den hochgezogenen Lefzen eines angriffslustigen Hundes.
„Ja, die Welt ist ein Dorf“, grüßte Diego lahm. Er machte gar nicht erst den Versuch, Freude zu heucheln.
„Und das Dorf heißt Port Grimaud“, stellte Adriano fest und setzte sich. „Wie geht’s denn so, Kleiner?“
„Alles gut, bis eben.“
„Na, na!“, rügte Adriano. „Wer wird denn gleich?“
„Was willst du?“
„Nur mal sehen, wie es dir so geht.“
„Und? Wie geht’s mir so?“
„Wie üblich. Du kommst mir ein wenig vereinsamt vor. Du solltest dich enger an die Familien anschließen. Ein wenig Spaß haben, ein wenig Jugend genießen, du weißt schon.“
„Spaß!“ Diego spuckte das Wort aus wie eine angefaulte Traube. „Spaß im Hamsterrad! Jeden Tag, jeden Monat, jedes Jahr dasselbe. Ist nicht mein Ding, tut mir Leid.“
„Es ist ein wenig öde“, gab Adriano zu. „Aber du weißt, dass es sein muss, wenn man jung bleiben will.“
„Ich weiß nur, dass es nicht sein muss“, widersprach Diego. „Ihr habt alle die Wahl!“
„Richtig!“ Adriano nickte bestätigend. „Ich habe gewählt und es gefällt mir gut so. Wenn es mir mal nicht mehr gefällt, dann höre ich einfach auf damit.“
„Das sagen alle Junkies“, meinte Diego, und obwohl er sah, dass sich eine steile Falte auf der Stirn seines Cousins bildete, schob er noch nach: „Was wurde denn heute so geboten im Hamsterrad?“
„Eine Poolparty an Bord der Recife. Hernandez hatte uns eingeladen. War okay!“
„Mal wieder eine Poolparty. Wie aufregend.“ Diego hielt sich die Hand vor den Mund und täuschte ein Gähnen vor. „Und die Gäste? Alle gesund?“
„Sie werden niemals erfahren, was mit ihnen passiert ist. Danke der Nachfrage. Wir sind ja schließlich nicht so unbeherrscht, wie ein gewisser Fünfjähriger, der sich nicht unter Kontrolle hatte“, gab Adriano ärgerlich zurück.
Die Spitze glitt an Diego ab. „Du bist vielleicht nicht so gierig“, meinte er nur, „aber ...“
Adrianos Kopf ruckte herum. „Dolores hat sich im Griff!“, behauptete er mit einem grimmigen Lächeln. Er wusste genau, wohin Diego zielte. „Außerdem hat sie noch nie jemanden umgebracht.“
Diego wusste, dass das Thema seinem Cousin nicht behagte. Es hatte da mal eine Affäre gegeben. Einen Fall von plötzlicher Vergreisung im Freundeskreis der Geschwister. Ein junger Mann, der damalige Freund von Dolores, war im wörtlichen Sinn über Nacht um Jahrzehnte gealtert. Im Gegensatz zu Diego hatte sie die Sache aber erstaunlich gut weggesteckt. Nun ja, schließlich war sie auch schon ein wenig älter und viel erfahrener.
Ein etwa elfjähriger Junge kam heran und versuchte vergeblich, einen Hund anzulocken, der unter einem der Tische hastig etwas in sich hineinschlang.
„Dolores“, sagte Diego nachdenklich. „Hat sie nicht morgen Geburtstag?“
„Ja!“ Adriano sah ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an.
„Und was wünscht sie sich?“
„Was alle sich wünschen: Jugend, Schönheit, Reichtum, was weiß ich.“
„Hat sie alles! Was wünscht sie sich wirklich?“
„Du hörst jetzt besser auf!“ In Adrianos Stimme war plötzlich ein drohender Unterton.
Sie kämpften mit Waffen, die im Lauf der Jahre stumpf geworden waren. Stumpf zwar, aber immer noch schwer und mächtig genug, alte Wunden wieder aufbrechen zu lassen. Es gab Geheimnisse in den alten Familien, über Jahrhunderte hinweg gesponnene Intrigen und Gerüchte, die man besser nicht erwähnte.
„Na, egal was es ist. Du wirst es schon möglich machen. Bis auf das Eine ...“
„Oh, es wird ja schon dunkel. War nett, mit dir zu plaudern.“ Adriano lehnte sich zurück und schaute demonstrativ auf die Breitling an seinem Handgelenk. Mit einer eleganten Bewegung stand er auf und legte Diego die Hand auf die Schulter. „Ich verschwinde jetzt besser“, sagte er leise mit einem Lächeln, „bevor ich dir deinen verdammten Schädel von den Schultern reiße.“
„Stimmt!“, grinste Diego zurück. „Das würde auffallen. Ein andermal vielleicht.“
„Ein andermal bestimmt!“, meinte Adriano, hob zum Abschied grüßend die Hand und ging zwischen den Tischen hindurch in Richtung Parkplatz. Dabei kam ihm der kleine Hund in die Quere. Er schaute Adriano erschrocken an, kniff den Schwanz ein und rannte jaulend davon, ohne dass Adriano irgendetwas getan hätte. Er hatte das Tier noch nicht einmal richtig angeschaut.
Diego sah seinem Cousin nach, wie er in der Dunkelheit unter den Bäumen verschwand. Adriano war wirklich verärgert, und vielleicht hatte er jetzt die ganze Woche Ruhe vor ihm. Zufrieden wandte er sich wieder dem Treiben auf der Terrasse zu und sein Blick blieb an einer Gestalt hängen, die er zuvor nicht bemerkt hatte: Ein hübsches Mädchen mit langen, hellblonden Haaren saß mit seinen Eltern und dem Jungen von eben an einem Tisch in der Nähe. Sie schien in irgendwelchen Schwierigkeiten zu sein, denn sie diskutierte mit ihrem Vater und ging mit ihrem Besteck auf das Essen los, als gelte es, einen Feind niederzumachen. Trotzdem machte sie keinen wütenden, sondern eher einen verzagten Eindruck. Sie wollte irgendetwas erreichen, hatte aber schon halb aufgegeben.
Der Kellner kam und servierte die Seewolffilets. Dabei nahm er Diego einige Sekunden lang die Sicht, und als er wieder ging, saß das Mädchen nicht mehr am Tisch. Diegos Augen suchten das Restaurant ab, und da war sie: Sie stand am Tisch einer Freundin, die ähnliche Probleme zu haben schien, wie sie selbst. Das blonde Mädchen war ziemlich groß und sehr schlank und Diego merkte, dass sein Herzschlag sich um eine Winzigkeit beschleunigte.
Das Essen war unwichtig geworden. Er war wie hypnotisiert und sah zu, wie sie sich mit einer fließenden Bewegung auf einen Stuhl gleiten ließ. Sie sprach ein paar Worte mit dem Vater der Freundin, wobei sie mit sparsamen Gesten die Dringlichkeit ihres Anliegens unterstrich. Hier wirkte sie viel überzeugender und lockerer, als im Gespräch mit ihren Eltern, und wirklich: Der Vater der Freundin nickte schließlich, woraufhin seine Tochter aufsprang und ihm eine ganze Serie von Küssen auf die Wange gab.
Auch das hellblonde Mädchen stand auf und gemeinsam gingen die beiden zu einem dritten Tisch, wo es wohl nicht so gut lief. Diego ließ die schöne Unbekannte nicht mehr aus den Augen. Sie war einfach perfekt. Eine Frau, wie sie bislang nur in seinen schönsten und geheimsten Träumen vorgekommen war.
Schließlich verließen alle drei Mädchen und die Terrasse. Ein viertes Mädchen sprang von einem Nachbartisch auf, rief etwas, und schloss sich ihnen an.
Diego presste die Lippen zusammen. Die Nachzüglerin war schwarzhaarig und klein. Sie mochte das netteste Wesen der Welt sein, aber Diego stand sofort wieder das Mädchen aus seinem Traum vor Augen, dessen Körper sich in seinen Armen auf so unbegreifliche und schreckliche Weise verändert hatte. Warum konnte man solche Erinnerungen nicht einfach löschen, wenn sie einem doch nur das Leben vergifteten?
Die vier Mädchen verschwanden in der Dunkelheit, aber für Diego waren sie noch schemenhaft sichtbar, als sie nahe der Wasserlinie stehen blieben, sich umwandten und gebannt in den Nachthimmel schauten. Die nahe Diskothek hatte gerade mit einem Samstagabendfeuerwerk begonnen.
Was für ein Mädchen, was für eine Frau! Versonnen zerteilte Diego eines der Filets und schob sich den Bissen in den Mund. Er musste sie unbedingt kennen lernen! Vergessen war der Ärger mit Adriano. Er sah nur noch das Bild dieses Mädchens vor sich, und als die letzten Raketen ihre Ornamente an den Himmel gemalt hatten, stand sein Entschluss fest: Morgen würde er ihre Nähe suchen und sie ansprechen.