Читать книгу Gesamtausgabe der "silent sea"-Trilogie - Christiane Weller / Michael Stuhr - Страница 6
Оглавление02 DIE ALTE SCHULD
Eigentlich hätte er mal wieder seine Eltern besuchen sollen, oder vielleicht wenigstens an seinem Aufsatz über präkolumbianische Kunst weiterschreiben. Eine Internetrecherche über die verschiedenen Szenarien der Golfstromentwicklung für seine Aufnahmeprüfung wäre auch eine Möglichkeit gewesen, die Zeit sinnvoll zu verbringen, aber stattdessen hatte er sich in seinen Wagen gesetzt und war einfach losgefahren. Er war sich völlig im Klaren darüber, dass es eine Flucht war. Eine Flucht vor dem Leben, das er zu führen gezwungen war, und das ihm schon lange nicht mehr behagte.
Er war nicht besonders religiös erzogen worden. Zwar hatten seine Eltern darauf bestanden, dass er an einigen wichtigen Ritualen des Alten Bundes teilnahm, aber da war es mehr um die Einhaltung gesellschaftlicher Normen gegangen, als um echten Glauben.
Es hatte ihm nichts ausgemacht, die alten Geschichten zu hören, nach deren Regeln sein Volk lebte. Sie waren voller Geheimnisse und eine zeitlang hatte er sogar mit dem Gedanken gespielt, sich selbst zum Prediger ausbilden zu lassen, um noch mehr über die Geschichte seines Volks zu erfahren, aber jetzt, kurz vor seinem zwanzigsten Geburtstag, dachte er anders darüber. Zwar waren die alten Berichte und Legenden immer noch faszinierend, aber heute war er mehr an der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Vergangenheit interessiert, als am einfachen Weitertragen von Dogmen und Vorschriften.
Er lenkte den Porsche von der Schnellstraße auf eine Nebenstrecke durch das hüglige Hinterland von Grimaud. Die Villa seiner Eltern lag keine zwanzig Kilometer von hier, aber er verwarf den Gedanken an einen spontanen Besuch sofort wieder. Zu lange waren sie seine Wächter gewesen und die Scheu, die er ihnen gegenüber empfand, war zu groß. Die Prediger hatten damals gesagt, dass er etwas von der Alten Schuld auf sich geladen habe, und so sah er sich selbst auch heute noch als den ewig Schuldigen, dem alle nur mit Misstrauen begegnen konnten.
„Schuldig!“, stieß er zwischen den Zähnen hervor und rammte das Gaspedal in einer plötzlichen Wutwallung bis zum Anschlag. Der Wagen schoss nach vorne und in den nächsten drei Kurven brauchte er die volle Straßenbreite für sich. Der Porsche krallte sich mit wimmernden Reifen auf dem Asphalt fest und das Heck fing an, zur Außenkante zu drängen. Zum Glück war die Strecke nur wenig befahren, denn bei Gegenverkehr hätte er den Wagen sofort von der Straße reißen müssen, um nicht schon wieder zu töten. Er war dazu bereit. Seine Schuld und seine Träume fraßen so sehr an ihm, dass er ohne zu zögern zwischen die Bäume gerast wäre, die die Straße säumten; und wenn er ehrlich mit sich selbst war, legte er es sogar darauf an.
Einen Kilometer weiter hatte er sich wieder etwas beruhigt und ließ den Wagen mit mäßiger Geschwindigkeit durch das Hügelland rollen. Die Schuld war immer noch spürbar, unauslöschlich in Geist und Seele eingebrannt, aber das Schicksal hatte seine Chance mal wieder gehabt, und es hatte nicht zugeschlagen. Er kniff die Lippen zusammen und wendete den Wagen, um zurück nach Port Grimaud zu fahren.
Auf der Schnellstraße fuhr er betont langsam. Was war das bloß für ein Leben, in dem jeder Baum am Straßenrand und jeder Brückenpfeiler zur Verlockung wurden?