Читать книгу Gesamtausgabe der "silent sea"-Trilogie - Christiane Weller / Michael Stuhr - Страница 4
ОглавлениеPROLOG
Wie immer wusste er, dass es ein Traum war, aber schon das erste Bild erzeugte eine solche Panik in ihm, dass er verzweifelt versuchte, aufzuwachen.
Es würde nicht gelingen. Es konnte nicht gelingen, weil es nie gelang. Die Bilder würden an ihm vorbeirasen, wie ein Schnellzug in voller Fahrt, und es war sinnlos, erwachen zu wollen, bevor der letzte Waggon vorbeigerauscht war.
Er war den Bildern völlig ausgeliefert. Er kannte sie alle, aber das machte es nicht besser. Er wusste, wie der Traum zu Ende gehen würde. Er kannte das letzte Bild, das er fürchtete, wie nichts sonst auf der Welt: Das Bild, auf dem er sich in Adrianos Griff wand und zurückschaute in den sonnendurchfluteten Garten, wo sich die Strahlen der Sonne vieltausendfach in der leicht gekräuselten Wasserfläche des Pools brachen.
Es begann wie immer ganz friedlich: Er schwamm allein im Pool. Obwohl er erst fünf Jahre alt war, war er ein ausgezeichneter Schwimmer und durfte schon lange allein ins Wasser. Eigentlich war das immer schon so gewesen. Er konnte sich jedenfalls nicht erinnern, dass seine Eltern ihm je das Schwimmen verboten hätten – außer in Gesellschaft natürlich.
Waren Fremde in der Nähe, durfte er nicht ins Wasser. Seine Eltern hatten ihm erklärt, dass er so gut schwamm, dass die Fremden neidisch und ärgerlich werden könnten, wenn sie ihn im Wasser sahen, aber auch da gab es Ausnahmen. Es gab nämlich einerseits die Fremden, vor denen man nicht angeben durfte, und dann gab es da auch noch die Menschen vom Alten Bund. Mit deren Kindern durfte man im Wasser spielen, und das machte dann auch richtig Spaß.
Was die Fremden so unter Schwimmen verstanden, war für den Jungen sowieso uninteressant. Das war kaum mehr als ein müdes Geplansche, und sie waren auch viel zu schnell erschöpft. Die vom Alten Bund dagegen waren stark und es machte Spaß, sich mit ihnen im Wettkampf zu messen.
In seinem Traum war das Wetter immer schön, und unter all seiner Panik spürte er den Frieden des Augenblicks, das Salzwasser des Pools, die Sonne auf der Haut, die Ruhe ringsum.
Die bis zum Boden reichenden Terrassenfenster waren geöffnet, und leise Musik drang aus dem Haus. Es war ein Augenblick ungetrübten Glücks, ein unvergesslicher Moment, besonders hervorgehoben durch die Katastrophe, die gleich unausweichlich folgen musste.
Mit kraftvollen Bewegungen durchschnitt er das Wasser wie ein Delfin, tauchte ab, umrundete das Becken unter Wasser, und als er auftauchte, war sie da.
Er hatte es vorher gewusst, dass dieses kleine Mädchen am Beckenrand stehen würde, aber er erschreckte sich trotzdem jedes Mal. Sie hatte ihn beobachtet, als er getaucht war und das durfte eigentlich nicht sein. Hoffentlich hatte sie nicht bemerkt, dass er viel zu lange unter Wasser geblieben war. So lange, wie sie selbst es niemals auch nur ansatzweise schaffen würde.
Hatte sie es bemerkt? Es schien nicht so. Sie stand nur am Beckenrand und sah ihn mit tränenfeuchtem Gesicht an. Sie hatte irgendeinen Kummer. Er kannte das Mädchen vom Sehen. Der schwarze Haarschopf, die gebräunte Haut und das winzige, orangerote Bikinihöschen waren unverkennbar. Es war die Tochter der Nachbarn, die er hin und wieder aus dem Fenster seines Zimmers im ersten Stock gesehen hatte. Sie hatte in etwa sein Alter, aber sie hatten noch nie ein Wort miteinander gesprochen.
Betont langsam schwamm er auf die Leiter zu, aber trotzdem bildete sich vor seiner Brust eine Welle, die sich teilte und als hoch aufgewölbtes Dreieck aus Wasser und Lichtreflexen den ganzen Pool durchzog. Das Mädchen bemerkte es nicht. Die Kleine war ganz in ihrem Kummer gefangen und starrte mit leeren Augen über die Wasserfläche.
Der Erwachsene in ihm wollte ihr zurufen, dass sie weggehen sollte, ihm nicht zu nahe kommen, sich in Sicherheit bringen; aber er musste hilflos zusehen, wie der Junge in seinem Traum den Griff der Leiter erfasste und sich aus dem Wasser zog.
Das Mädchen sprach nicht. Das tat es nie, aber trotzdem wusste er, warum es hergekommen war: Der neue Hund der Kleinen war plötzlich gestorben und es waren nur die Dienstboten im Haus. Mürrische, ungeduldige Leute die sich weder für den Welpen noch für das Kind interessierten. Ihre Eltern waren unterwegs und sie hatte dort keinen Trost finden können, darum war sie über die Mauer geklettert, hin zu dem Nachbarjungen, den sie hier entdeckt hatte.
Unschlüssig stand der Junge am Rand des Pools und sah das Mädchen an. Er war so erzogen worden, sich nicht zu sehr mit Fremden einzulassen, und dieses hübsche, kleine Mädchen war ganz ohne Zweifel eine Fremde, das konnte er sofort erkennen. Aber sie war doch ungefährlich, so klein, wie sie war. Sie musste ungefährlich sein, denn sie war vor der Gleichgültigkeit im eigenen Haus in seinen Garten geflohen, um seinen Trost und seinen Schutz zu suchen. Und sie war sehr traurig. Stand einfach nur da und sah ihn mit ihren großen, dunklen Augen an, die immer noch in Tränen schwammen.
Der Junge spürte, wie allein und hilflos sie war. Sie wollte sich bloß bei einem menschlichen Wesen ausweinen. Sie suchte seine Nähe und sein Mitgefühl, und auf einmal war alles ganz einfach: Mit einem raschen Blick zum Haus vergewisserte er sich, dass niemand sie beobachtete, machte einen Schritt auf sie zu und legte ihr einen Arm um die Schultern.
Die Kleine atmete mit zitternden Lippen ein und legte scheu ihren Kopf an seinen Brustkorb. Sie war wirklich klein. Ihr Kopf reichte ihm gerade mal bis zum Kinn.
Er spürte ihr tränenfeuchtes Gesicht auf seiner Haut und wie ihr schmaler Körper unter kleinen Schluchzern vibrierte. Er zog sie ein wenig dichter an sich heran, weil sie ihm unendlich Leid tat, wie sie sich so an ihn lehnte und leise weinte. Irgendetwas in ihm gab nach und wurde plötzlich ganz weich. In einer schützenden Geste legte er auch noch den anderen Arm um sie und hielt sie fest.
Jetzt kam der Traum zu der Stelle, wo der Geist des Jungen den Körper kurz verließ. Er erhob sich ein Stück weit über die Szene und sah die beiden Kinder eng umschlungen auf dem Rasen an der Kante des Pools stehen. Für einen Moment war das hier der Mittelpunkt der Welt. Eine Oase der Ruhe, des Trostes und der unschuldigen Zuneigung. Kurz schwebte er über dem friedlichen Bild und sank wieder in den Körper des Jungen zurück.
Etwas hatte sich verändert.
Das tröstende Gefühl, das er ihr hatte geben wollen, war weit in den Hintergrund getreten und er spürte, dass die innige Berührung ihm selbst genauso gut tat wie ihr.
Er gab nicht nur, er konnte auch nehmen. Diesem völlig unerwarteten Überfluss an Wohlgefühl konnte er nicht widerstehen. Es war so, als würde er ein Geschenk erhalten, als würde das Mädchen ihm ihre ganze Kraft und Energie schenken, und er begann zu nehmen. Er spürte, wie ihre nackte, sonnenwarme Haut mit seiner zu verschmelzen schien. Er spürte wie die Energie, die sie ihm gab, in seinen Körper überströmte. Eigentlich hatte er sie nur trösten wollen, und jetzt das! War das die Belohnung dafür, wenn man sich gütig zeigte, und warum gab es dann das Verbot, sich mit Fremden abzugeben? Es war so ein gutes, übermächtiges Gefühl. Was konnte daran schlecht sein?
Er wollte mehr davon. Seine Arme umschlangen das Mädchen fester. Es gab nach und es war, als würde der Fluss der Energie zu einem gewaltigen Strom anschwellen. Er schloss die Augen. Machtvoll und unaufhaltsam ergoss sich dieses neue, unglaubliche Gefühl in seinen Körper, und er wollte mehr davon, immer mehr. Um nichts in der Welt wollte er dieses Mädchen je wieder loslassen.
Langsam ebbte der gewaltige Strom ab, wurde zu einem Fluss, einem Bach, einem Rinnsal, aber es war immer noch erregend und schön.
Er verstand es nicht, als er plötzlich Hände auf seinen Schultern spürte, die versuchten, ihn gewaltsam von dem Mädchen zu trennen. Er wehrte sich und hielt weiter fest. Er wollte auch noch den letzten Tropfen aus dieser wunderbaren Quelle genießen. Er spürte, wie etwas in seinen Armen zerbrach. Es fühlte sich an, als habe er ein dürres Bündel Holz zu stark an sich gepresst. Er öffnete die Augen und ließ los. Das Mädchen glitt zu Boden. Eine kräftige Hand schloss sich um seinen Oberarm und riss ihn von der Kleinen fort, bevor er sie noch einmal hatte ansehen können.
Es war sein Cousin Adriano, und er ging alles andere als sanft mit ihm um. Schnell und gewaltsam wurde er zum Haus geschleift, so sehr er sich auch wehrte, aber auf der Schwelle zum Salon gelang es ihm doch, sich noch einmal kurz umzudrehen.
Seine Mutter hatte sich auf den Rasen gekniet und die Hände vor das Gesicht gelegt, während sein Vater sich auf ein Knie herabgelassen hatte und fassungslos auf das aschgraue Bündel starrte, das zwischen ihm und seiner Frau lag.
Was konnte das sein, und wo war nur das Mädchen geblieben? Es war fort, und da war nur dieses kleine, dürre Etwas auf dem Rasen, das eine entfernte Ähnlichkeit mit einer menschlichen Gestalt hatte.
Der Vater sah zum Haus herüber. Rasch stand er auf und versuchte das, was da auf dem Rasen lag, vor dem Blick des Jungen zu verbergen, aber der hatte schon genug gesehen. Es war der völlig ausgedörrt wirkende Körper des kleinen Mädchens, der in seiner grotesk verrenkten Stellung wie eine zerbrochene Mumie wirkte. Das orangerote Bikinihöschen spannte sich immer noch um die grau und faltig gewordenen Hüften. Es leuchtete in der Sonne und sandte ihm ein letztes, höhnisches Signal der Lebensfreude und der Unbeschwertheit hinterher; aber das Letzte, was er mit seinem kurzen Blick wahrnahm, war der kleine, graugesichtige Schädel, um den herum ganze Büschel ausgefallener, schwarzer Haare lagen. Das Gesicht war nach oben gewandt, und es war die Maske des Todes, die da mit blicklosen Augen in den makellos blauen Himmel starrte.
Keuchend wachte er auf.
Früher war er oft schreiend aus seinem Bett hochgefahren, wenn der Traum ihn wieder mal ereilt hatte. aber mittlerweile war er älter und hatte sich fast an den Schrecken gewöhnt. Trotzdem raste sein Herz wie wahnsinnig und er merkte, dass seine Hand zitterte, als er das Deckbett zur Seite schlug und aufstand. Die grünen Leuchtziffern auf dem Wecker zeigten drei Uhr an.
Einige Minuten stand er am offenen Fenster und sah über die Küstenstraße auf das Meer hinaus. Weit draußen konnte er einige Lichter erkennen. Dort, weit vor Port Grimaud, lagen die wirklich großen Yachten auf Reede, die im Hafen niemals Platz gefunden hätten. Wie immer waren auch einige dabei, die Mitgliedern des Alten Bundes gehörten.
Die Unruhe in ihm hatte sich noch nicht gelegt. Er wandte sich vom Fenster ab und zog sich an, um das Hotel zu verlassen. Er musste hinab zum Strand. Nur das Meer konnte die alte Schuld von ihm abwaschen. – Für eine Weile wenigstens.