Читать книгу Die Passion Jesu im Kirchenlied - Christina Falkenroth - Страница 70
2.3.2.4 Das Anliegen Michael Weisses
ОглавлениеÜber die Absichten, die Weisse mit seinem Liedtext verfolgt, kann man aus diesem Vergleich erschließen: Über den Hymnus hinaus, den er verdeutscht aus der Tradition in seine theologisch neu bestimmte Gegenwart tragen will, liegt ihm auch daran, einen klaren Bericht von der Passion zu geben und dabei eine Evangelienharmonie zu schaffen, in der die für den Glauben bedeutsamen Elemente vorkommen. Dabei liegt bei ihm eine starke Bindung an die Schrift vor, die er an mehreren Stellen als Korrektiv an den Text des Hymnus legt.
Zwar ist es offensichtlich die Absicht Weisses, in seiner Umgestaltung des Hymnus einen Bericht der Passion ohne alle theologische Deutung zu geben, aber an drei Stellen fügt er doch selbst eine Deutung ein.
Der Zusatz „nur umb unsret willen“ (Str. 6) ist etwas unklar, denn semantisch geht der Bezug aus dem Liedtext nicht genau hervor. Bezieht er sich auf die Schrifterfüllung nach Joh 19, 36f? Man kann dann annehmen, daß er so die johanneische Identifizierung Jesu als das neue Passahlamm (vgl. Ex 12,46) und als der messianische „Durchbohrte“ aus Sach 12,10 unterstreicht. Es ist anzunehmen, daß er sich auf den von ihm eingefügten inhaltlichen Zusammenhang von „Blut und Wasser“ bezieht, und so das Abendmahl, in dem die Glaubenden Teilhaber am Geschehen werden, zum Thema der Strophe macht. Unabhängig davon, für welche Deutung man sich entscheidet, hat Weisse mit dem Hinweis auf die Schrifterfüllung die soteriologische Dimension der Passion Jesu hervorgehoben: Christus ist der messianische Vermittler des Heiles Gottes, der es durch sein Leiden, das er „nur umb unsret willen“ auf sich genommen hat, uns zueignet.
In diesem Duktus sind auch die beiden anderen deutenden Zusätze zu verstehen: das „für uns“ in der ersten Strophe betont zu Beginn und als vorausgesetzte Deutung „uns“, die Gemeinde Jesu Christi, als die Zielrichtung seines Handelns.
Im Bericht von der Geißelung in der dritten Strophe fügt Weisse einen Christustitel ein: der „Gottessohn“ muß dieses erleiden. Der darauf folgende Inthronisationsvorgang, der durch das Anlegen von Mantel und Krone symbolisiert ist, stellt in paradoxer Weise Jesus als den in seiner Verhöhnung doch herrschenden heraus, was nun als eine selbstverständliche Folge aus dem Titel „Gottessohn“ erscheint. Den Singenden wird so deutlich, daß die Peiniger an dieser Stelle meinen, ihn zu verhöhnen, aber in Wahrheit auf ihn als den Herrscher hinweisen, der er ist. Daß Jesus auch in der Situation als dem Spott und der Macht von Menschen Ausgelieferter wider allen Augenschein seine Eigenschaft als Gottessohn, also Vollbringer des göttlichen Willens in Vollmacht, nicht verloren hat, ist durch diesen Einschub den Singenden deutlich vor Augen gestellt.
Weiter lassen Weisses Ergänzungen mit Elementen aus den Berichten der Evangelisten eine weitere Betonung einzelner Aspekte erkennen.
Der Hinweis auf die Unschuld Jesu in der zweiten Strophe durch Pilatus, der auch zuvor in der ersten Strophe an herausgehobener Stelle ergeht: „Christus der … kein boess hat begangen“ unterstreicht die in der Christologie notwendige Voraussetzung der Unschuld Jesu, durch die er in der Lage ist, die schuldige Menschheit zu erretten.
Weisse formuliert in der fünften Strophe: „klaget sich verlassen“. Er formuliert hier den im Hymnus nur als „heli clamans“ angedeuteten Schrei Jesu „Eli Eli lama asabtani“, Mt und Mk folgend, aus.
In der Theologie Luthers ist der Verlassenheitsschrei ein wesentliches Element: Anders als in der spätmittelalterlichen Theologie, die vor dem Gedanken zurückschreckte, daß Jesus wirklich verlassen gewesen sein könnte und darum betonte, daß es eine rein äußerliche Verlassenheit gewesen sei, stellt Luther heraus, daß Jesus in seiner wirklichen Verlassenheit die Verlassenheit des Sünders in der Todesstunde erlebte. An dieser Stelle kommt für ihn das soteriologische Anliegen zum Tragen, daß Christus eben diese Verlassenheit im Tode stellvertretend für den Sünder auf sich genommen habe.1
Weisse hat hier also mit dieser Ausführung des „heli clamans“ gegenüber dem Hymnus eine theologische Schärfung herbeigeführt.
Der Stich mit dem Speer, der aus der Seitenwunde Jesu Blut und Wasser hervorbrachte, ist von Weisse hinzugesetzt worden. Was Johannes wohl als Erweis dessen, daß Jesus wirklich gestorben war, einfügt, ist in der Tradition bedeutsam geworden: In der röm.-kath. Feier der Eucharistie wurde – diesem Bericht folgend – dem Wein Wasser beigemischt. Was bei Johannes als Beweis der Menschheit Jesu dient, gibt dem Glaubenden Hoffnung auf die im Mahl eröffnete Gemeinschaft mit ihm. Es ist anzunehmen, daß Weisse mit diesem Einschub einen Verweis auf das Abendmahl macht. Indem er nun noch „nur umb unsret willen“ zusetzt, ist implizit das Abendmahl mit seiner Zueignung des in der Passion gewonnenen Gutes an den Kommunikanten angesprochen. Also wird auch hier das „für uns“ als Ausdruck des reformatorischen Grundanliegens herausgestellt.
In der vierten Strophe berichtet Weisse anders als der Hymnus, der dies nicht erwähnt, über die Verspottung des Gekreuzigten aufgrund seiner Hilflosigkeit. Die Spötter verbinden ihre Verachtung mit dem Zweifel an Christi Königtum (Mt, Mk) und dem Verständnis Jesu als Christus (Mk, Lk). „Andern hat er geholfen“ bezieht sich ebenso darauf; im griechischen steht das Verb σώζω, das sich auf das messianische Retten bezieht. Mit dem Hinweis auf den Spott wird also durch Weisse auch indirekt auf den Messiasanspruch hingewiesen.