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Die Täter

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Die Entscheidung, Einsatzgruppentäter in den Mittelpunkt einer biografischen Studie zu stellen, beruht maßgeblich auf einem vorausgegangen intensiven Quellenstudium und dem Vergleich mit anderen Tätergruppen, insbesondere dem Personal der Konzentrations- und Vernichtungslager. Auffallend war, dass im Vergleich mit dieser Tätergruppe die Verbrechen der Einsatzgruppen wesentlich später von der bundesdeutschen Justiz wahrgenommen und systematisch verfolgt wurden, und sie sich offensichtlich schwer damit tat, integrierte und etablierte Bürger als NS-Täter zu begreifen und zu verurteilen. Während der KZ-Täter untrennbar zunächst mit dem Konzentrationslager als Symbol des Terros gegen die Opposition, später mit dem Vernichtungslager als Symbol der Judenvernichtung verbunden war und assoziiert wurde, und leicht(fertig) in die Kategorien Sadist, Judenhasser oder Exzesstäter eingeordenet und somit abseits des Gros der Gesellschaft gestellt werden konnte, gelang dies mit Einsatzgruppentätern in der Regel nicht so einfach. Statistische Daten stützen diese Beobachtung1: Im Zeitraum von 1946 bis 1950 gab es 15 Verurteilungen wegen KZ-Verbrechen gegenüber zwei Verurteilungen in Einsatzgruppenprozessen. Zwischen 1951 und 1960 sind 34 Verurteilungen wegen KZ-Verbrechen und 13 wegen Einsatzgruppenverbrechen zu verzeichnen. Für den Zeitraum von 1961 bis 1965 lassen sich 62 Verurteilungen wegen KZ-Verbrechen und 54 wegen Einsatzgruppenverbrechen feststellen. Die Mehrheit aller Einsatzgruppenverfahren fand damit erst in der ersten Hälfte der 1960er Jahre statt. Insgesamt stehen im Zeitraum von 1946 bis 1965 69 Verurteilungen in Einsatzgruppenprozessen 111 Verurteilungen in KZ-Prozessen gegenüber.

Nicht nur quantitativ, auch qualitativ gibt es signifikante Unterschiede zwischen Prozessen gegen Angehörige des KZ-Personals und von Einsatzgruppen, die den besonderen Umgang der Justiz mit Einsatzgruppentätern belegen2: KZ-Täter erhielten häufig höhere Strafen als Einsatzgruppentäter und wurden zur Hälfte als Täter und zur Hälfte als Gehilfen verurteilt, während Einsatzgruppentäter fast zu 90% als Gehilfen verurteilt wurden. Darüber hinaus blieben KZ-Täter wesentlich länger in Haft als Einsatzgruppentäter. Für beide Prozesstypen galt: Kam ein soziales bzw. schichtenspezifisches Gefälle zwischen den Juristen auf der einen und den Angeklagten auf der anderen Seite hinzu, wirkte sich das, wie Falko Kruse bereits 1978 herausfand, negativ auf das zu erwartende Urteil aus.3

Obwohl mit Martin Weiß 1950 von einem bundesdeutschen Gericht ein erster Einsatzgruppentäter verurteilt worden war, und das zu lebenslanger Haft, spielten die Einsatzgruppenverbrechen bis Ende der 1950er Jahre in der Öffentlichkeit keine Rolle mehr. Diese Diskrepanz zwischen den Verbrechen der Einsatzgruppen auf der einen und dem Umgang mit ihren Tätern auf der anderen Seite ließ diese Tätergruppe besonders interessant erscheinen, an ihrem Beispiel Integrationsprozesse zu untersuchen. Daneben weist ihr Personal eine große Heterogenität an Lebensläufen und Organisationszugehörigeiten auf, die es erlaubte, exemplarisch möglichst unterschiedliche Biografien – vor allem mit Blick auf die Nachkriegszeit – aufzugreifen und zu untersuchen. Bewusst wurden keine Angehörigen der sogenannten Funktionseliten ausgesucht, da hier schichtenspezifische Integrationsmechanismen vermutet wurden, sondern Angehörige einer mittleren Charge, einer 2. oder 3. Garde, deren Weisungs- und Entscheidungskompetenzen nicht zwangsläufig an Dienstgrade gekoppelt waren und die direkt an Massenverbrechen beteiligt gewesen waren. Sie wurden aus dem Personalpool aller Einsatzgruppen unter dem Aspekt der biografischen Heterogenität ausgewählt. Obwohl dahinter der nicht zu leugnende Versuch stand, exemplarische Täterbiografien heranzuziehen, stellt sich gleichwohl die Frage, inwiefern 19 Täterbiografien überhaupt exemplarisch sein können. Festzuhalten ist, dass ein biografischer Ansatz immer das Problem der Verallgemeinerbarkeit in sich trägt und das unabhängig von der Quellendichte. Dennoch können die für diese Arbeit aus vielen ähnlichen Biografien ausgesuchten Einsatzgruppentäter beispielhaft zeigen, wie die Reetablierung dieser Tätergruppe in der bundesdeutsche Gesellschaft funktionierte. Gerade weil Einsatzgruppentäter zumeist problemlos nach 1945 zurück in die Zivilgesellschaft fanden und erst spät juristisch verfolgt wurden, lassen sich an ausgesuchten Beispielen die allgemeingültigen, der Reetablierung zugrunde liegenden Mechanismen und Bedingungen herausarbeiten, die nicht nur für Einsatzgruppentäter, sondern letztlich auch für die anderen Tätergruppen galten.

Auch wenn die Täter nicht unter dem Kriterium des gleichen Einsatzkommandos ausgewählt wurden, gibt es doch Querverbindungen zwischen einem Teil der Täter und zwar sowohl während der NS-Zeit als auch danach. Sie hatten entweder der gleichen Dienststelle bzw. Einheit angehört, waren sich während ihrer Ausbildung bei der Kripo bzw. Gestapo oder während ihres Studiums als Anwärter des leitenden Dienstes begegnet. Nach Kriegsende konnten sie sich zusammen in Internierungshaft befinden, bewusst wieder Kontakt miteinander aufnehmen oder ablehnen und sich bei der Reetablierung und dem Wiedereintritt in die zivile Arbeitswelt unterstützen. Schließlich konnten sie gemeinsam mit ihren ehemaligen NS-Kollegen auf der Anklagebank eines bundesdeutschen Gerichts sitzen. Alle diese Berührungspunkte lassen sich zwischen einem Teil der ausgesuchten Täter bzw. zwischen ihnen und anderen NS-Kameraden feststellen und werden in der Arbeit thematisiert. Eine besondere Rolle nimmt das Netzwerk zwischen Angehörigen der Dienststelle des KdS/BdS Minsk ein. In Minsk begegneten sich Angehörige zunächst verschiedener Einsatzkommandos, wobei es zum Teil zu engen Arbeits- und Freundschaftsverhältnissen kam, die auch die jeweiligen Partnerinnen einbezogen und über die NS-Zeit hinaus wirksam waren – bis hin zum Prozess gegen Georg Heuser und seine einstigen Kameraden. Dies umso mehr, als die beruflichen Wege der Angehörigen der Einsatzgruppen nicht selten wieder in die Kriminalpolizei der Bundesrepublik führten.

Wenngleich die Auswahl nach dem Kriterium der Heterogenität der Lebensläufe geschah, sind, darauf wurde bereits in der Einleitung hingewiesen, Gemeinsamkeiten zwischen den 19 Tätern festzustellen. Mehrheitlich entstammten sie den Jahrgängen 1909 – 1913 und gehörten damit jener Generation an, der der Nationalsozialismus schnelle Aufstiegs- und Profilierungsmöglichkeiten bot. Ausnahmen sind der 1902 geborene Fritz Zi., der 1904 geborene Wilhelm E. sowie Richard W. (1906), Karl D. und Schmidt-Hammer (beide 1907). Die älteste der 19 Personen war bei Kriegsbeginn damit 37 Jahre alt, die jüngsten waren 26 Jahre. Die meisten von ihnen, und dazu zählten auch die älteren Jahrgänge, schlossen sich früh dem Nationalsozialismus an; lediglich einer suchte keinen Kontakt zu NS-Organisationen. Erste Berührungspunkte waren das Engagement in der örtlichen HJ, Mitgliedschaft in der NSDAP, der SA, der SS, im SD sowie im Verein Lebensborn. Der 1902 geborene Fritz Zi. engagierte sich bereits Anfang der 1920er Jahre im Grenzschutz Baltikum-Oberschlesien und schloss sich ab 1923 der nationalsozialistischen Bewegung an. Arthur Harder trat 1929 in NSDAP und SA ein; ein Jahr später wechselte er zur SS und war außerdem Mitglied in Himmlers Verein Lebensborn. August Hä. gehörte ebenfalls dem Verein Lebensborn an und war 1932 in NSDAP und SA eingetreten, 1933 gehörte er der Hitlerjugend an, trat der SS bei und schloss sich den Politischen Bereitschaften und der SS-Grenzüberwachung an. Theodor Gr. führte 1933 die SA in seinem Heimatort und baute eine örtliche HJ auf, bevor er sich 1939 zum SD nach Berlin meldete und in die SS eintrat. Die Berufsausbildung bzw. der Schulabschluss der Täter fiel mehrheitlich in den Zeitraum zwischen der zweiten Hälfte der 1920er und der ersten Hälfte der 1930er Jahre. Ausnahmen bilden die älteren Jahrgänge sowie diejenigen Angehörigen der Jahrgänge 1909 – 1913, die Abitur machten und ein Studium begannen. Der Großteil der hier betrachteten Täter absolvierte eine Ausbildung (u.a. zum Kaufmann, Gewerbelehrer, Automechaniker, Optiker, Journalist und Küfer); von den Jüngeren stieg nur Gerhard S. direkt in den Polizeidienst ein. Fünf hatten zunächst ein Studium begonnen (Walter He.: Jura; Friedrich Me.: Theologie; Heinrich Noa: Medizin; Heinrich Win.: Jura; Fritz Zi.: Jura und Volkswirtschaftslehre), es jedoch vorzeitig abgebrochen. Nur drei erlangten tatsächlich einen Universitätsabschluss: Heuser kam mit einem ersten juristischen Staatsexamen zur Kriminalpolizei, Werner Schö. hatte ein Volkswirtschaftsstudium abgeschlossen, bevor er zur Gestapo ging, und Rudolf Schl. ging als Gewerbelehrer zum SD. Ihre Biografien zeigen unterschiedliche Bildungshintergründe; sie alle verbindet aber wiederum, dass sie es bis spätestens 1939 geschafft hatten, im Dienst des NS-Staates zu stehen, genauer gesagt im Dienste von SD, Gestapo und Kriminalpolizei. Zwei Personen begannen ihren Polizeidienst noch in der Weimarer Republik: Karl D. trat 1926 in den Dienst der Schutzpolizei ein und gehörte 1936 der Politischen Polizei an, bevor er 1938 auf eigenen Wunsch hin zur Gestapo kam. Auch Wilhelm E. begann seinen Polizeidienst nach einer Ausbildung zum Mechaniker bereits 1925 bei der Anhaltinischen Schutzpolizei und gehörte 1936 der Politischen Polizei an, bevor er zur Kriminalpolizei wechselte. Über hauptamtliche Tätigkeiten für den SD gelangten Rudolf Schl. sowie Fritz Zi. zu einem Einsatzkommando.

Wer in den Status eines Anwärters des leitenden Dienstes bei der Sicherheitspolizei gehoben wurde, dem bot sich die Möglichkeit eines Jurastudiums bzw., ein zuvor abgebrochenes Studium doch noch nachzuholen. Gerhard S., der sich bei der Gestapo beworben hatte und auch genommen worden war, konnte so ein juristisches Studium absolvieren, genauso wie beispielsweise Werner Schö., der bereits VWL studiert hatte, Heinrich Win., der Anfang der 1930er Jahre ein Jurastudium abgebrochen hatte und ebenso Friedrich Me., der vor seinem Einstieg bei der Kriminalpolizei ein Theologiestudium abgebrochen hatte.

Der Sozialisierung in den Reihen der Polizei folgte jene in den Einsatzgruppen. Einige der ausgesuchten Täter gehörten bereits den ersten Einsatzgruppen an, die im Sudetenland oder in Polen zum Einsatz kamen. Zu ihnen gehören Arthur Harder, Heinrich Noa, Theodor Gr., Richard W. und Rudolf Th. Keine Exekutiverfahrungen vor dem Angriff auf die Sowjetunion hatten Werner Schmidt-Hammer und Fritz Zi. Während Werner Schmidt-Hammer auch sonst keine nennenswerte NS-Sozialisation vorzuweisen hatte und als Optiker 1939 zur Polizei einberufen wurde, war Fritz Zi. zuvor als „Reichsredner“ tätig gewesen und hatte als Journalist dem SD zugearbeitet.

Sie verbindet, dass sie fast alle in den jeweiligen Einsatzkommandos Teilkommandos führten, Dienstabteilungen oder aber Exekutionskommandos leiteten, Georg Heuser gar die Abteilung Gestapo beim KdS/BdS Minsk. Ihre Tätigkeit bei den Einsatzkommandos (bzw. dem Sonderkommando 1005) ist jedoch nur ein Teilausschnitt ihrer NS-Lebensläufe, auch wenn sie sich primär deswegen später vor Gericht verantworten mussten. Wegen ihrer Tätigkeiten, die zeitlich vor ihren Einsätzen bei Einsatz- und Sonderkommandos lagen, haben sie nie vor Gericht gestanden und entsprechend wenig ist darüber bekannt. Was genau beispielsweise hatte Heinz Ta. beim Devisenfahndungsamt Feldkirch gemacht, was Harder bei der Umwandererzentralstelle in Lissa? Es war nicht Zielstellung der Arbeit, die NS-Lebensläufe zu vervollständigen, und obwohl dennoch versucht wurde, sie nach Möglichkeit zu ergänzen, bleiben Fragen offen. Das gilt nicht nur für die Zeit vor ihren Einsätzen im Osten, sondern auch für die Zeit danach. Nachdem sie aus den Einsatzgruppen abgezogen worden waren, konnten sie ihre „Erfahrungen“ an anderer Stelle wieder einsetzen: So beispielsweise August Hä. bei der Stapo-Stelle Innsbruck und wahrscheinlich dem Grenzkommissariat Bregenz, bei einer weiteren Einsatzgruppentätigkeit, beim BdS Griechenland und KdS Wien. In der Slowakei leitete Heuser das Einsatzkommando 14, Werner Schö. den Stützpunkt Sillein (Zilina) des Einsatzkommandos 13, Fritz Zi. tauchte beim z.b. V. Kommando 15 auf und Rudolf Th. und Heinz Ta. gehörten dem ebenfalls in der Slowakei operierenden z.b. V. Kommando 27 an.

Ihnen oblagen Entscheidungen über Leben und Tod jener Menschen, die in der nationalsozialistischen Ideologie zu Staats- und „Volksfeinden“ geworden waren. Sie funktionierten pflichtbewusst und überzeugt innerhalb des Systems, das ihnen schnelle Aufstiegs- und seine ganz eigenen Profilierungschancen geboten hatte. Als das System aufhörte zu existieren, passten sie sich in der Mehrheit dem neuen System an, suchten dort entweder einfach nur ein Auskommen oder aber wieder berufliches Fortkommen und damit verbundene Vorteile. Ein Blick auf ihre biografischen Kontinuitäten in der bundesdeutschen Kriminalpolizei zeigt, dass ihre vorherigen Erfahrungen kein Hindernis sein mussten, um im neuen System erneut eine Karriere im Polizeidienst machen zu können. Georg Heuser brachte es sogar bis zum Leiter des Landeskriminalamtes in Rheinland-Pfalz. Die „Erfahrungen“ dieser Bewerber wurden geschätzt in einer Behörde, die massiv daran arbeitete, der Öffentlichkeit eine weiße Weste zu präsentieren und sich gleichzeitig immer noch auf Lehrmeinungen der 1920er und 1930er Jahre berief.

Welchen beruflichen Weg sie in dem neuen Staat einschlugen, hing von dem Grad ihrer „formalen“ NS-Belastung, von vorhandenen Kontakten, aber auch von ihrem ganz individuellen Charakter ab. Während sich Rudolf Th. bewusst beruflich nicht exponieren wollte und sich für ein zurückgezogenes Leben in der schwäbischen Provinz als Mitarbeiter einer Obstverarbeitungsfabrik entschied, suchte Heuser mit vielen Täuschungsmanövern wieder eine Karriere bei der Kriminalpolizei. Beim Betrachten ihrer Nachkriegslebensläufe reduziert sich die Wahl, vor der sie standen, auf zwei Wege: Den Weg in die Privatwirtschaft und den Weg zurück in den Staatsdienst. Nur wenige Lebenswege dieser Personengruppe und während der anfänglichen Recherche parallel gelesenen Lebensläufe führten in eine Tätigkeit im sozialen oder kirchlichen Bereich. Meist bauten die Täter auf vor der NS-Zeit erlernten Berufen auf oder bemühten sich darum, wieder bei Polizei oder Kripo einsteigen zu können.

Probleme, sich an den neuen Staat anzupassen, hatte die Mehrheit von ihnen nicht. Lediglich August Hä. verteidigte offen und unverhohlen das System und seine Kameraden und Vorgesetzten von einst. Die anderen arbeiteten aktiv an ihrer sozialen und beruflichen Etablierung und überlagerten die Vergangenheit mit sie selbst entschuldenden Lebensläufen und Deutungen.

Als 1958 eine systematische Verfolgung nicht zuletzt der Einsatzgruppenverbrechen einsetzte, mussten sie sich der Vergangenheit, die sie hinter sich gelassen glaubten, wieder stellen. Sie taten es mehrheitlich, indem sie auf ihre bereits während der Spruchkammerverfahren eingeübten Selbstentschuldungen zurückgriffen. Dass auch Gesellschaft und Justiz im Umgang, besonders aber in der Deutung der NS-Verbrechen und der Verurteilung der ganz konkreten Täter aus ihrer bürgerlichen Mitte nicht selten noch in alten Denkmustern verhaftet waren, kam ihnen in dieser Situation zunächst durchaus entgegen.



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