Читать книгу "Ich fühl mich nicht als Mörder!" - Christina Ullrich - Страница 15
1.1. Verhaltensmuster der Täter bei Kriegsende
ОглавлениеFür die Mehrheit der hier betrachteten Angehörigen von NS-Organisationen endete ihre NS-Karriere in der letzten Kriegsphase mit Kriegsgefangenschaft und anschließender amerikanischer oder britischer Internierungshaft. Wie lange diese Etappe für sie sein würde, wussten sie damals nicht. Aus heutiger Perspektive und mit Blick auf ihre Lebensläufe steht fest, dass diese Phase relativ kurz war, verglichen mit einer russischen Kriegsgefangenschaft. Auch wenn die Betroffenen das damals selbst noch nicht absehen konnten, sie war mittel- und langfristig keine Hürde, die den Weg zurück in ein ziviles Leben erschwert oder gar verhindert hätte – vorausgesetzt, sie wussten ihre Vergangenheit möglichst unverfänglich zu präsentieren.
Von den 19 in dieser Arbeit betrachteten Personen wurden 11 gefangen genommen und zwar alle im Frühjahr 1945 kurz vor oder nach Kriegsende. Wer wie Fritz Zi. die Möglichkeit hatte, seine Einsätze während des Krieges zu verschleiern, der tat das. Als absehbar war, dass er in britische Gefangenschaft kommen würde, will er gemeinsam mit einem Kameraden noch Soldbücher und Wehrpässe gefälscht haben. So ging er nicht als Angehöriger des Sk 1005 und der Einsatzgruppe H, sondern als Angehöriger der SS-Führerreserve der SS-Panzerdivision Wiking – seine letzte Einheit – in Gefangenschaft.3
Als einzige unter ihnen kamen Rudolf Th. in russische und Werner Schmidt-Hammer in jugoslawische Kriegsgefangenschaft. Alle anderen befanden sich in von Briten oder Amerikanern geführten Spezial- oder Internierungslagern in Deutschland, Italien und in Großbritannien. Die Mehrheit, nämlich sechs von ihnen, wurde in den Jahren 1947 / 48 wieder freigelassen. Heinrich Win. und Wilhelm E. kamen nach eigenen Angaben bereits 1945 wieder frei und einem, Theodor Gr., gelang in der Nacht vom 7. auf den 8. April 1947 die Flucht aus dem Internierungslager Darmstadt. Während Rudolf Th. ebenfalls 1945 aus russischer Gefangenschaft zurückgekommen sein will, endete für Schmidt-Hammer die Zeit in jugoslawischer Kriegsgefangenschaft erst 1949. Das Gros befand sich also zwei bis drei Jahre in Internierungshaft. Von denen, die einer Gefangennahme hatten entgehen können, unterschied sich ihre Situation nicht nur darin, dass sie sich nicht in Freiheit befanden und damit auch nur eingeschränkt handlungsfähig waren, sondern vor allem durch die Tatsache, dass diejenigen in Internierungslagern der amerikanischen und britischen Zone keine Möglichkeit hatten, einem Spruchkammerverfahren bzw. einem Spruchgerichtsverfahren auszuweichen, wenn man einmal von einer Flucht wie der Theodor Gr.s absieht. Das galt natürlich auch für diejenigen, die wie Gerhard S., Heinz Ta. und Rath erst später in ein Internierungslager kamen. Als Gestapo-, SD- und SS-Angehörige zählten sie zur Personengruppe, die auf Grund des „automatical arrest“ in Internierungshaft zu nehmen waren, weil die Amerikaner in ihnen eine Gefahr für ihre Truppen und ihre Arbeit sahen.4 Die Phase der Kriegsgefangenschaft und vor allem die der Internierungshaft war die einzige Zeitspanne, in der die Betroffenen, stigmatisiert durch die Bestimmungen des „automatical arrest“, faktisch vom Rest der Gesellschaft ausgegrenzt waren.
Den ihnen verbliebenen Handlungsspielraum nutzten sie intensiv, um sich und ihre Vergangenheit in das ihrer Meinung nach rechte Licht zu rücken und somit die Phase der Ausgrenzung zu beenden. Kontakte sicherten ihnen eidesstattliche Erklärungen von Mitgefangenen, die allesamt selbst an ihrer eigenen Darstellung der Vergangenheit interessiert waren. Diese Haltung galt zum einen im Hinblick auf die drohenden Spruchkammerverfahren, als auch für die Verhöre und Befragungen durch Briten und Amerikaner. Harder, Fritz Zi. und Walter He. als ehemalige Angehörige des Sk 1005 und der Einsatzgruppe z.b. V. Iltis waren gemeinsam in einem britischen Speziallager in Tarent interniert. Dass sie sich nicht über ihre jüngste Vergangenheit unterhalten haben wollen, wie sie später angaben, darf durchaus bezweifelt werden. Letztlich war die Internierungshaft für die Betroffenen die einzige Phase der temporären Ausgrenzung, während der sie in Vorbereitung auf ihre Spruchkammerverfahren aktiv an der Aufhebung dieser Desintegration arbeiteten.
Weil eine Gefangenschaft aber Handlungsunfreiheit, Ungewissheit, Trennung von der Familie bedeutete, ergriffen acht der 19 Personen bei Kriegsende die Möglichkeit zum Untertauchen. Sie entfernten sich von der Truppe, bei der sie zuletzt eingesetzt waren, entledigten sich ihrer Uniformen und versuchten, in Zivilkleidern einer Gefangennahme zu entgegen. Dokumente, die Auskunft über ihre Kriegstätigkeiten geben konnten, vernichteten sie und ersetzten sie durch gefälschte Papiere. Das geschah vor allem in den Reihen hoher Kader zum Teil sehr systematisch.5 Wer sich noch nicht in dem von den Westalliierten eroberten Teil Deutschlands befand, versuchte, sich dorthin durchzuschlagen. Wer sich bereits dort befand, den trieb es fast automatisch in seine Heimatregion und/oder in die Nähe der Familie, was auch ein völlig fremder Ort sein konnte, wenn die Familie geflüchtet war oder der Heimatort in den sowjetisch besetzten Gebieten lag.
Karl D., der von 1942 bis 1944 der Dienststelle des KdS/BdS in Minsk angehört hatte, gelang es bei Kriegsende, sich in Zivilkleidern unbehelligt von Prag in seine norddeutsche Heimat nach Bremen abzusetzen. Ob er dabei von gefälschten Papieren Gebrauch machte, ist nicht bekannt. Heinz Ta. befand sich Anfang März in einem Lazarett in Dessau, als er den Entschluss zur persönlichen Kapitulation fasste. In der Nacht des 7. März flog die britische Luftwaffe einen Angriff auf Dessau. Ihr Mann hätte die Aussichtslosigkeit der Lage erkannt, gab später seine Frau an, die bis dahin als Schreibkraft für die Gestapo in Dessau gearbeitet hatte. Gemeinsam verließen sie daraufhin die Stadt und machten sich auf den Weg nach Hersfeld in Hessen, wo seine Großeltern gelebt hatten. Am 12. Juni 1945 meldeten sie sich ordentlich an. Bis dahin hatte Heinz Ta. Gefangenschaft und Internierung umgehen können; welcher Methoden er sich dabei bediente, ist den Quellen leider nicht zu entnehmen. Doch der Erfolg war nur vorläufig. Im Dezember 1945 wurden er und seine Frau an ihrem neuen Wohnsitz von den Amerikanern verhaftet und in das Internierungslager Darmstadt gebracht: Heinz Ta., weil gegen ihn Vorwürfe wegen seiner Zeit bei der Gestapo Nauheim erhoben wurden, seine Frau wegen ihrer Beschäftigung bei der Gestapo Dessau. Während sie in das Internierungslager Ludwigsburg verlegt und im September 1946 wieder freigelassen wurde, blieb er bis September 1948 im Internierungslager Darmstadt.
Weil sein Heimatort Dresden in sowjetisch besetztem Gebiet lag, war für Rudolf Schl. eine Rückkehr dorthin ausgeschlossen. Nach seinem Einsatz beim KdS in Minsk war er 1943 zunächst nach Prag und dann zu einem Kommando in Tirol versetzt worden. In Prag hatte er seine dort beschäftigte zweite Ehefrau kennengelernt. Bei Kriegsende setzte er sich in Zivilkleidern ab und gelangte unbehelligt bis in die Nähe von München, wo er sich mit seiner Ehefrau traf. In der Gemeinde Neumarkt-Sankt Veit fand er gemeinsam mit seiner Frau bis 1949 Unterkunft und Arbeit – zunächst in der Landwirtschaft, dann in einer örtlichen Ziegelei.6 Ob er dort Verwandte oder Bekannte und damit einen konkrete Anlaufstelle hatte, ist nicht bekannt. Ein Blick auf seinen späteren Lebenslauf bestätigt, dass seine Taktik aufging. Rudolf Schl. entging tatsächlich einer Gefangennahme und damit einer sicheren Internierungshaft. Bedingung dafür war, dass es ihm später auch gelang, sich mit unwahren Angaben zu seinem Lebenslauf durch die weiten Maschen des Entnazifizierungsnetzes zu winden.
Auch Rudolf Schl.s ehemaliger Minsker Kamerad Georg Heuser verstand es, durch geschicktes Verhalten bei Kriegsende die Weichen für das Leben danach zu stellen. Der ehemalige Gestapoleiter in Minsk flüchtete bei Kriegsende in Zivilkleidern mit Auto und Fahrer von seinem letzten Einsatzort Krems an der Donau bis nach Bayern. Erst dort wurde ihr Wagen von den Amerikanern beschlagnahmt. Heuser und sein Fahrer blieben unbehelligt, was vermuten lässt, dass beide im Besitz unverfänglicher Papiere gewesen sein müssen. Trotz seiner exponierten Stellung während des Krieges nahm Heuser keine andere Identität an. Heuser, dem es nicht an Selbstvertrauen mangelte, scheint sich in gewisser Weise sicher gefühlt zu haben. Dennoch ging er nicht zurück in seine Heimatstadt Berlin, in der seine Eltern wohnten, sondern begab sich zu seiner Schwester nach Goslar. Am 18. August 1945 meldete er dort seinen Wohnsitz an und trug als letzten Wohnort Waltershausen bei Königshofen in das Formular ein. Kurz darauf folgte ihm seine Verlobte nach Goslar, und auch sie gab an, zuletzt in Waltershausen gelebt zu haben.7 Seine zukünftige Ehefrau hatte er in Minsk kennen gelernt, wo sie als Reichsbahnbedienstete gearbeitet hatte.8 In Goslar waren sie beide nicht bekannt.
Heusers Plan, unbehelligt ein Nachkriegsleben aufzubauen, ging ebenso auf wie der von Rudolf Schl. Während Letzterer allerdings bis 1949 möglichst unscheinbar in seinem neuen Wohnort Neumark-Sankt Veit lebte und sich zunächst mit Hilfsarbeiten ernährte, ging Heuser in der direkten Nachkriegszeit dubiosen Geschäften nach. Um Gesetze und Ehrlichkeit kümmerte er sich bei seinen Nachkriegsaktivitäten wenig, wenn es um seinen persönlichen Vorteil und um Weichenstellungen für seine Zukunft ging. Unter falschem Namen fuhr er nach Berlin und brachte von diesen Fahrten Waren mit, führte weiterhin einen falschen Doktortitel und gab sich offiziell als Rechtsanwalt aus, obwohl er sich nie als solcher betätigte. Er nahm Kontakt mit ehemaligen Angehörigen des KdS in Minsk auf – Rudolf Schl. besuchte er kurz nach Kriegsende sogar in Neumarkt-St. Veit – und führte ein Leben, das alles andere als leise und zurückgezogen war. Ganz im Gegenteil, er agierte offensiv. Zwar traf er Vorsichtsmaßnahmen, gab später auf Briefen, die er verschickte, nie seine Adresse, sondern immer nur „postlagernd Mannheim“ an. Bei seinen Fahrten nach Berlin trat er zeitweilig unter falschem Namen auf. Aber die Kontaktaufnahmen mit ehemaligen Kameraden, die Beibehaltung seines alten Namens, die ordentliche polizeiliche Anmeldung an seinem neuen Wohnort Goslar unter seinem richtigen Namen, seine undurchsichtigen Geschäfte, die die Mitbewohner in seinem Wohnhaus durchaus wahrnahmen – das alles waren Risiken. Für ihn, den ehemaligen SS-Führer, scheinen es kalkulierbare Risiken gewesen zu sein.
Friedrich Me., ehemaliger Teilkommandoführer beim Sk 7a, war ebenfalls mit seinem Versuch, einer Gefangennahme zu entgehen, erfolgreich. Kurz vor Kriegsende befand er sich in Prag, wo er an der Reichsschule der Sipo und des SD Anwärter des leitenden Dienstes betreute. Wie Rudolf Schl. hatte auch er seine Frau in Prag kennen gelernt und 1943 geheiratet.9 Mit einer Gruppe von Schülern setzte er sich bei Kriegsende von Prag nach Österreich ab. In Zivil gelangte Friedrich Me. in den von den Westalliierten besetzten Teil Deutschlands, ging allerdings nicht in seine Heimatstadt Dortmund, sondern begab sich zu Verwandten in Freudenberg bei Siegen, die ihn bei sich aufnahmen. In einer Siegener Fabrik fand er Arbeit als Holzschnitzer.10 Erst Mitte 1948 zog er wieder in seine Heimatstadt Dortmund. Ob seine Frau ebenfalls mit ihm in Freudenberg lebte, ist nicht bekannt. In Dortmund erhielt Friedrich Me. ohne Probleme eine Anstellung bei der britischen Besatzungsmacht, erst als Angestellter in der Fahrbereitschaft einer britischen Einheit und anschließend beim Civil Labour Office des 10. Anti-Tank-Regiments der britischen Rheinarmee. Parallel dazu war er beim YMCA als Deutschlehrer tätig. Spätestens zu diesem Zeitpunkt fühlte auch er sich wieder sicher, und ähnlich wie Heuser kam auch ihm sein ausgeprägtes Selbstbewusstsein zugute.
Bis auf Heinz Ta. war es den Genannten jeweils auf ihre eigene Weise gelungen, einer Festnahme und einer Internierungshaft zu entgehen. Ihr Erfolg hing von ihrem eigenen „Geschick“, aber auch von der Unterstützung anderer ab, sei es die der Familie, wie bei Friedrich Me. und Heuser, oder die eines desinteressierten Umfeldes wie bei Karl D. und Rudolf Schl. Sie befanden sich die nächsten Jahre in einer Art Wartestellung, sicherten sich mit Aushilfsarbeiten ihre Existenz und tricksten sich um Entnazifizierungsverfahren herum oder lavierten sich durch diese Verfahren. Sie warteten darauf, beruflich wieder ein- und aufzusteigen. Physische Freiheit und Handlungsfreiheit waren dabei ihre Vorteile gegenüber denen, die interniert waren. Das war aber auch schon der entscheidende und vielleicht auch einzige Vorteil. Denn was den Wiedereinstieg in ein geregeltes Berufsleben betraf, verfügten sie über keine wesentlich bessere Startposition als jene, die in Internierungshaft waren. Oder umgekehrt formuliert: Internierungshaft und Spruchkammerverfahren verhinderten oder erschwerten die Rückkehr in einen zivilen Beruf nicht, wie im weiteren Verlauf der Arbeit noch gezeigt wird.
Noch einen Schritt weiter als Karl D., Heinz Ta., Rudolf Schl., Heuser und Friedrich Me. gingen Rath, Gerhard S. und Werner Schö. Aus Furcht vor Konsequenzen nahmen sie gleich eine falsche Identität an.11 Rath erklärte diesen Schritt später so: „Nach dem Zusammenbruch im Jahre 1945 habe ich mir, weil ich zur Geheimen Staatspolizei gehörte, einen anderen Namen zugelegt und zwar nannte ich mich Arnold Rabe.“12 Das Kriegsende erlebte er in Bad Eilsen, wo er seit 1944 bei der Gestapo war, und damit in direkter Nähe zu seiner Familie in Bückeburg. In diesen zwischen Bielefeld und Hannover gelegenen Ort war er als Zehnjähriger mit seinen Eltern gezogen; hier hatte er eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann gemacht, ein Geschäft für NSDAP-Artikel geführt und später die Stapo-Außenstelle geleitet. Er kannte die Gegend und die Menschen, und die Menschen kannten ihn, was gleichzeitig Vorteil und Nachteil war: Vorteil, weil er beim Untertauchen auf bestehende soziale Netzwerke zurückgreifen und auf Unterstützung hoffen konnte, Nachteil, weil ihm genau das gefährlich werden konnte. Denn Rath war bekannt, und wer Rath alias Rabe hätte anzeigen wollen, hätte dies problemlos tun können. Er verließ daher Bad Eilsen und Bückeburg und tauchte in der nicht sehr weit von seinem Heimatort entfernten kleinen Ortschaft Pohle bei Langenau unter, wo er sich seinen Lebensunterhalt als Hilfsarbeiter verdiente. Dass er dort bei Verwandten oder Bekannten Zuflucht fand, ist aufgrund der Heimatnähe sehr wahrscheinlich, aber nicht belegt. Drei Jahre hielt Rath sein Leben als Untergetauchter aus, bevor er sich schließlich im August 1948 unter seinem richtigen Namen bei der britischen Besatzung in Bielefeld meldete. Ob, und wenn ja, wie oft und unter welchen Umständen er in dieser Zeit seine Familie traf, geht aus den Quellen nicht hervor.
Hier zeigt sich der Unterschied zu denjenigen, denen ebenfalls die Flucht vor dem Feind in Zivilkleidern gelungen war, die aber ihre Identität beibehalten hatten. Ein Leben unter falschem Namen bedeutete ungeachtet der Normalität, um die sich die Betroffenen nach außen hin bemühten, ein Leben im Ausnahmezustand. Der Kontakt zur Familie musste, wenn nicht ganz abgebrochen, so doch verborgen stattfinden; ein neuer Aufenthaltsort und eine möglichst unauffällige Beschäftigung mussten gefunden werden, und über allem schwebte die Gefahr, entdeckt oder angezeigt zu werden. Rath setzte diesem Zustand bewusst ein Ende. Als er im August 1948 entschied, sich den britischen Behörden zu melden, lag das Kriegsende drei Jahre zurück. Der Unsicherheit über das, was kommen sollte, stand nun mit der Währungsreform vom 20. Juni 1948 eine ganz konkrete Zukunftsperspektive gegenüber.13 Vielleicht war dies das ausschlaggebende Ereignis, um sein Leben als Arnold Rabe aufzugeben und sein altes Leben neu aufzubauen. Es ist anzunehmen, dass er nur noch mit einer geringen Strafe rechnete. Nachdem er sich unter seinem richtigen Namen gemeldet hatte, ging er zurück zu seiner Familie nach Bückeburg, wo er einen Monat darauf verhaftet und ins Internierungslager Fallingbostel gebracht wurde. Nach einem Monat Internierungshaft kam er wieder frei und überstand mit Hilfe eines erlogenen Lebenslaufes und Dank der sogenannten Weihnachtsamnestie 1949 unbeschadet sein Spruchkammerverfahren.
Gerhard S., ehemaliger Teilkommandoführer des Ek 9, legte sich ebenfalls eine Zusatzversicherung in Form eines falschen Namens zu: „Da mir durch meine militärischen Aufgaben […] bekannt war, welche Behandlung ein in SS-Uniform Angetroffener bei seiner Gefangennahme durch die Russen zu erwarten hatte, und die Engländer u.a. in ihrer Presse verkündeten, dass Angehörige der SS für ihr restliches Leben auf eine einsame Insel verbannt werden sollten, zog ich es einem Selbsterhaltungstrieb folgend vor, in Zivil und unter einem anderen Namen vorübergehend unterzutauchen.“14 Wo er sich bei Kriegsende genau aufhielt, ist unklar; er will aber in Zivilkleidern nach Lübeck gekommen sein. Statt Gerhard S. nannte er sich nun Waldeck und fand südlich von Hamburg im Kreis Harburg für ein Jahr bei einem Bauern Zuflucht, der ihn bereitwillig aufgenommen und ihm Arbeit auf seinem Hof angeboten hatte. Anschließend arbeitete Gerhard S. alias Waldeck illegal in einer Gärtnerei im nahe gelegenen Gebiet Vierlande. Es gelang ihm währenddessen, Kontakt zu seiner Frau und seinen beiden Kindern aufzunehmen, die Anfang 1945 als Flüchtlinge in die zwischen Oldenburg und Bremen gelegene kleine Gemeinde Schwanenwede im Landkreis Osterholz gekommen waren. Weil ihn im Ort niemand als Ehemann von Frau S. kannte, suchte er seine Frau in Schwanenwede unter dem Vorwand auf, sie vom Tod ihres Mannes unterrichten zu wollen.15 Sein Versteckspiel endete bereits im November 1946, als ihn die britische Militärpolizei nach einem Hinweis verhaftete.16
Was als Befreiung gedacht war, konnte zur psychischen Belastungsprobe ausarten. Denn die, die sich selbst eine neue Identität als Allheilmittel zum unbeschadeten Überstehen der Nachkriegszeit verordnet hatten, verboten sich damit selbst, bei und mit ihren Familien zu leben.17 Sie mussten vorsichtiger sein als jene, die auf ihrer Flucht nur Kleider und Papiere und nicht auch ihren Namen gewechselt hatten. Sie mussten sich mehr auf sich, aber auch weit mehr auf die Unterstützung und Verschwiegenheit anderer verlassen: Gerhard S. auf den Landwirt, der ihm Arbeit und Unterkunft bot, Rath als Raabe auf die Solidarität derer, die ihn in seiner Heimat als Rath kannten. Den Vorteil der Freiheit und der Handlungsmöglichkeiten teilten sie mit denen, die sich ebenfalls einer Internierung entzogen, aber ihren Namen behalten hatten – solange jedenfalls, wie sie den Preis für diese Freiheit bezahlen konnten und wollten oder bis sie einen Fehler machten oder ihr Umfeld sie verriet.