Читать книгу "Ich fühl mich nicht als Mörder!" - Christina Ullrich - Страница 19

2. Integrationsphase I: Entnazifizierung

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Die Entnazifizierungs- und Spruchkammer-/Spruchgerichtsverfahren51 stellten die nächste Etappe auf dem Weg der Betroffenen zurück in ein ziviles Leben dar. Für diejenigen, die sich in Internierungshaft befanden, bedeuteten sie faktisch in den überwiegenden Fällen das Ende der Haft und markierten somit auch den Übergang in die Freiheit. Sie beendeten die Phase der Internierungshaft, und damit letztlich die Phase der Ausgrenzung, und gaben den Weg zur Integration und Reetablierung offiziell frei. Eine „Rehabilitierungsmaschinerie“52 nennt Niethammer sie und kommt in seiner Studie zur Entnazifizierung in Bayern zu dem Fazit, dass Säuberung und Rehabilitation Hand in Hand gegangen seien.53 In der Konsequenz konterkarierten sie das eigentliche Ziel der politischen Säuberung, nämlich die langfristige Ausschaltung und Ausgrenzung der an der NS-Gewaltherrschaft beteiligten Akteure. Diese Feststellung gilt auch für die hier untersuchten Betroffenen, die ihr Spruchkammer- oder Entnazifizierungsverfahren in Freiheit durchliefen.

Es kann und soll in diesem Abschnitt nicht darum gehen, den vielfältigen, meist regional angelegten Darstellungen und Analysen über eine gescheiterte Entnazifizierung in den Westzonen noch eine weitere hinzuzufügen.54 Auf einige Aspekte der Entnazifizierungs- und Spruchkammerverfahren, die für die ausgewählten NS-Täter relevant sind, sei im Folgenden dennoch kurz verwiesen.

Die Spruchkammerverfahren standen am Ende der maßgeblich von der US-amerikanischen Besatzungsmacht initiierten und vorangetriebenen Entnazifizierung, die in der amerikanischen Zone mit breit angelegten Entlassungen, der Überprüfung aller Inhaber von Schlüsselpositionen anhand eines 131 Fragen umfassenden Fragebogens (dem sogenannten großen Fragebogen) und der Erfassung aller Deutschen über einen reduzierten Fragebogen begonnen hatte. Die Verantwortlichen der britischen und französischen Zone legten bekanntermaßen in Sachen Entnazifizierung wesentlich weniger Eifer an den Tag, orientierten sich dennoch anfänglich an den amerikanischen Direktiven und später an den Richtlinien des Alliierten Kontrollrats. Eine flächendeckende Registrierung der Bevölkerung gab es in ihren Zonen allerdings nicht, was diese für ehemalige Nationalsozialisten, die unentdeckt bleiben und nicht erfasst werden wollten, besonders attraktiv machte. Hinzu kam noch der Umstand, dass in beiden Zonen aus pragmatischen Gründen die Überprüfung auf den Berufsstand der Beamten und Angestellten beschränkt blieb. Vollnhals bezeichnet in seiner vergleichend angelegten Arbeit über die Entnazifizierungspraxis daher die französische Zone als ein „Eldorado für Schwerbelastete“55 , der die britische in nichts nachgestanden habe.

Anhand der Fragebögen, die, basierend auf dem Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 5. März 1945, jeder Deutsche über 18 Jahre auszufüllen hatte, sollten die Spruchkammern in der amerikanischen Zone die „individuelle Verantwortlichkeit“ und die „tatsächliche Gesamthaltung“ des Einzelnen beurteilen. Verbrechen waren nur insofern zu berücksichtigen, als darin eine aktive Unterstützung der NS-Gewaltherrschaft zu erkennen war. Die Straftaten selbst zu ahnden, Ermittlungen bezüglich individueller Verbrechen einzuleiten, lag nicht im Aufgabenbereich der Spruchkammern. Das von den Amerikanern gewählte System der Spruchkammern war daher gänzlich ungeeignet, NS-Verbrecher zu überführen. „Eine nur strafrechtliche Behandlung“, so folgert Niethammer, „hätte mehr NS-Kriminalität erfassen können“56. Die NS-Täter, wie sie hier betrachtet werden, profitierten davon. Die schematischen Fragen dienten der Kategorisierung, nicht der Aufdeckung individueller Straftaten. Sie bildeten ein Raster, das NS-Verbrecher nicht unbedingt erfasste und durch das diese ihrerseits schlüpfen konnten. In den amerikanischen Internierungslagern begannen die Spruchkammerverfahren erst Anfang 1947. Diese Verfahren waren an die Lager gebunden, d.h. sie mussten dort stattfinden und waren nicht öffentlich.

In der britischen Zone hingegen war die eigentliche Bestrafung der sich in Internierungshaft befindenden Mitglieder der im Nürnberger Urteil für verbrecherisch erklärten Organisationen nicht Teil des allgemeinen Entnazifizierungsverfahrens, sondern Teil der strafrechtlichen Verfolgung von NS-Verbrechern. Die Spruchgerichte, die hier ebenfalls 1947 ihre Tätigkeit aufnahmen und bis Anfang 1949 wirkten, urteilten auf Basis der geltenden Rechtsordnung.57

Von den 19 in dieser Arbeit betrachteten Personen durchliefen sieben ein Spruchkammerverfahren während ihrer Internierungshaft, sechs von ihnen in der amerikanischen Zone (August Hä., Harder, Noa, Heinz Ta., Richard W. und Heinrich Win.) und einer (Gerhard S.) in der britischen. Drei weitere befanden sich in Freiheit, als ihr Fall vor einer Spruchkammer landete, wobei ein Fall (Rudolf Th.) in den Bereich der amerikanischen Zone, die zwei weiteren (Rath und Fritz Zi.) in den der britischen fielen. Ebenfalls in Freiheit befanden sich vier Personen, die lediglich ein Entnazifizierungsverfahren durchliefen. Dies betraf Rudolf Schl. und Schmidt-Hammer in der amerikanischen und Walter He. und Friedrich Me. in der britischen Zone. Ganz einem Verfahren entziehen konnten sich fünf der hier ausgesuchten Personen: Karl D. war nach Kriegsende unbehelligt in die britische Zone gelangt, wo es keine allgemeine Registrierung der Bevölkerung im Rahmen der Entnazifizierung gab, und umging seine Entnazifizierung durch einen Trick. E. wählte ebenfalls nach seiner Entlassung aus britischer Kriegsgefangenschaft den Weg in die britische Zone; Entnazifizierungsunterlagen konnten nicht gefunden werden.58 Theodor Gr. flüchtete aus dem Internierungslager Darmstadt in die britische Zone und entging so einem Spruchkammer- und einem Entnazifizierungsverfahren. Heuser, der unbehelligt in die britische und dann in die französische Zone gelangt war, durchlief wohl allem Anschein nach ebenfalls nie ein Entnazifizierungsverfahren, brachte sich aber in den Besitz einer Erklärung, vom Befreiungsgesetz nicht betroffen zu sein. Dies ungeachtet der Tatsache, dass ein ehemaliger Mitarbeiter beim BdS Minsk ihn bereits als Zeuge im Nürnberger Einsatzgruppenprozess schwer belastet hatte.59 Werner Schö. schließlich befand sich zu dieser Zeit in österreichischer Haft und kam erst 1951 wieder in die Bundesrepublik.

Allen genannten NS-Tätern, die ein Entnazifizierungs- oder Spruchkammerverfahren durchliefen, gelang es, relativ unbeschadet aus dem Verfahren hervorzugehen. Der Verweis auf die schon angesprochenen strukturellen Defizite und Mängel der Verfahrenspraxis allein reichen zur Erklärung dieses Phänomens nicht aus. Aus diesem Grund sollen die beteiligten Akteure und ihre Interaktionen ins Blickfeld gerückt und bei Bedarf auf die strukturellen Probleme der Verfahren verwiesen werden. Es wird nach Mechanismen zu fragen sein, die die Spruchgerichtsverfahren im Zusammenwirken der Akteure zu einem Verfahren der Selbstentschuldung werden ließen. Weil der Fokus auf Personen, den Beschuldigten, den Klägern, den Rechtsanwälten, den Zeugen und Ausstellern von „Persilscheinen“ liegt, schließt sich vor allem eine Frage an: Gab es bereits zu diesem Zeitpunkt einen übergeordneten Konsens über die Bewertung von Nationalsozialismus, Tätern und Taten, den die Akteure miteinander teilten und der zur Rehabilitierung und Integration der Betroffenen beitrug?



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