Читать книгу "Ich fühl mich nicht als Mörder!" - Christina Ullrich - Страница 22
2.1.1.2. Argumentationsmuster und Rechtfertigungen
ОглавлениеDie Angaben über den eigenen NS-Lebenslauf, eingetragen in den tabellarischen Vordruck der Fragebögen, waren das Grundgerüst, auf dem die Einzelnen ihre weitere Selbstdarstellung und Verteidigung errichteten. Im nächsten Schritt ging es darum, auf die Klage der Spruchkammer zu reagieren und den Lebenslauf mit Argumenten für die Lauterkeit der eigenen Person auszukleiden. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die meisten der Betroffenen eine Ausbildung bei der Kriminalpolizei oder Gestapo und zum Teil eine juristische Ausbildung besaßen. Auch wenn sie sich jetzt in der umgekehrten Position wiederfanden, so waren Befragungen doch keine unbekannte Situation für sie. Sie kannten die Spielregeln. Mit Blick auf die Veränderungen in den Lebensläufen, die, wie gezeigt, in erster Linie darauf gezielt hatten, Einsätze und Positionen zu verschleiern, brauchten sie nun Argumente, die die verbliebenen „formalen“ Belastungen und Aspekte ihres NS-Lebenslaufs, die sich negativ auf ihre Gesamtbewertung auswirken konnten, ausräumen sollten. Ziel war es überdies immer, Distanz zwischen sich und NS-Verbrechen zu bringen. Fester Bestandteil dieser Argumentation war, an solchen Verbrechen nicht beteiligt gewesen zu sein, von ihnen nichts gewusst zu haben oder maximal davon gehört zu haben. Selbst in den vorgestellten Beispielen, in denen die Einsatzgruppen erwähnt wurden, folgte sofort der Versuch, diese Etappe zu marginalisieren – entweder, indem sie als kurzfristige und daher zu vernachlässigende Station beschrieben oder die eigene Stellung und Aufgabe innerhalb dieser Einheiten verharmlost wurde.
Die Bandbreite des Materials, mit dem die Betroffenen ihre persönlichen Lebensläufe stützten, reichte von Lügen und Verleugnung über Verharmlosung und vorgeschütztes Unwissen bis hin zur Selbststilisierung zu betrogenen Idealisten und letztlich Opfern des Systems. Jeder schätzte dabei für sich selbst ein, wo die Linie verlief zwischen den nun gültigen Bewertungskategorien und den ehemaligen; was nicht sagbar und – viel wichtiger – was mit Blick auf die Entscheidungsträger der Spruchkammern konsensfähig und somit kommunizierbar schien. Alle erwiesen sich schließlich als mehr oder weniger anpassungsfähig an die neuen Maßstäbe. Anpassungsfähiger waren jene Personen, die größere opportunistische Fähigkeiten besaßen, die klar erkannten, dass ihr NS-Leben vorbei war und sie künftig nur wieder eine Rolle spielen konnten, wenn sie sich nach außen hin davon distanzieren konnten. Sie vertrauten selbstbewusst darauf, dass ihre Fähigkeiten und ihre Persönlichkeiten auch im neuen Deutschland wieder gebraucht würden und entwickelten eine geradezu ausschweifende Entschuldungsprosa. Als weniger anpassungsfähig erwiesen sich jene, die auch nach außen hin dem NS-Gedankengut nicht abschwören konnten oder wollten, die immer noch im NS-Weltbild verhaftet waren. Mit einem gewissen Trotz standen sie zu ihrer Vergangenheit, wenn auch wie im Fall August Hä. in letzter Konsequenz nur halbherzig, denn auch sie wollten sich nicht zur Rechenschaft ziehen lassen für Verbrechen, für die sie sich nicht verantwortlich fühlten.
Und so unterschieden sich die Argumente und Rechtfertigungen, mit denen sie ihre „offiziellen“ Lebensläufe ausfüllten. Jeder setzte in seiner Darstellung eigene Schwerpunkte. Friedrich Me. beispielsweise rückte geschickt sein achtmonatiges Theologiestudium in den Mittelpunkt, das für seine antinationalsozialistische Haltung, die er für sich beanspruchte, Pate stehen musste.75 Wichtig waren auch die zur Entlastung vorgebrachten Umdeutungen und Erklärungen hinsichtlich der Mitgliedschaften. So erklärten die Betroffenen SS-Mitgliedschaft mit erzwungener Überführung in die SS und anschließender Dienstgradangleichung oder sprachen nur von einer automatisch erfolgten Dienstgradangleichung, ohne eine SS-Mitgliedschaft zu erwähnen. Keinesfalls wollten sie den Eindruck erwecken, ihr Dienstgrad sei Verdienst für besondere Leistungen gewesen. Wer sich darauf berief, berief sich nicht selten auch darauf, unpolitisch gewesen zu sein. Mitgliedschaften in NSDAP und anderen NS-Organisationen belasteten zwar die Lebensläufe, aber die Betroffenen versuchten sie zu rein formalen Zugehörigkeiten zu stilisieren, die aus Opportunismus, Karrieregründen oder Zwang erfolgt seien, nicht aber ihre innere Haltung widerspiegelten.
Dahinter stand bereits zu diesem Zeitpunkt das Konstrukt des unpolitischen, korrekten Polizei- und Kriminalbeamten, mit dem eine fiktive Tradition „unbeirrter Rechtsstaatlichkeit und unpolitischer Professionalität“76 , so Patrick Wagner in seiner Studie über die Kriminalpolizei der 1950er Jahre, beschworen wurde. Die Betroffenen machten sich ganz einfach das Bild der sauberen Polizei, das die Gestapo ausschloss, zu Nutze, das nicht nur in ihren Köpfen existierte. Das Argument, rein polizeiliche oder militärische Aufgaben erledigt zu haben, zieht sich von den Spruchkammerverfahren bis zu den späteren Verfahren vor bundesdeutschen Gerichten. Für Gestapo-Beamte war die Argumentationsführung in dieser Hinsicht schon wesentlich schwieriger. Wie die SS war auch sie im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess als verbrecherische Organisation klassifiziert worden. Mit ihr war in der Bevölkerung eine besondere Assoziation verbunden. Die Geheime Staatspolizei wurde als gleichbedeutend empfunden mit Repressalien gegen die eigene Bevölkerung, wobei in dieser Logik Juden ausgeschlossen waren, und sie rief das Bild des brutalen, dumpfen Exzesstäters hervor. Für große Teile der Bevölkerung bedeutete die Klassifizierung von SS und Gestapo als verbrecherische Organisationen die Möglichkeit, NS-Verbrechen institutionell zu verorten und sich gleichzeitig von ihnen freizusprechen.77 Betroffene wie Gerhard S. beriefen sich meist auf eine Zwangssituation, die sie zur Gestapo gebracht habe, darauf, keine Gestapo-Methoden angewandt oder von ihnen gar nichts gewusst zu haben. Sie versuchten, sich von einem fiktiven Kernbereich der Gestapo, der „Ermittlungsarbeit“, abzusetzen.
Osteinsätze bedurften ebenfalls einer Erklärung. Wer sie an- oder zugab, bemühte sich, den vorgeblich rein „militärischen“ Charakter des Einsatzes und eine vorgebliche Unterstellung unter die Wehrmacht zu betonen. Dahinter stand das Bemühen, nicht mit NS-Verbrechen, vor allem nicht mit Einsatzgruppenverbrechen, in Verbindung gebracht zu werden. Einsätze mit der Waffen-SS, zumal wenn man zu ihr versetzt worden sein wollte, erschienen ihnen dagegen kommunizierbar. Es war der Versuch, den Einsatz rein „militärisch“ aussehen zu lassen, was wiederum implizieren sollte, dass er nicht verbrecherisch gewesen war. Das setzte wiederum ein weiteres Konstrukt der Nachkriegszeit voraus, das von da an fester Bestandteil von Schuldabweisung werden sollte, nämlich, dass der Krieg hinsichtlich der Kriegsführung als normal und nicht spezifisch nationalsozialistisch betrachtet wurde.
Aber auch Idealismus schien manchem ein Argument, das das Potential besaß, auf Verständnis stoßen zu können und in dem schon das nächste Argument angelegt war: nämlich verführt und betrogen worden zu sein. Die eigene Begeisterung für die nationalsozialistische Bewegung und ihre Ziele, der Beitritt zur NSDAP, zur SA oder zur SA – alles eine Folge ideologischer Irreführung. „Idealismus“ lautete der Begriff, wahlweise noch mit dem Attribut „jugendlicher“ versehen, der als Selbstentschuldung von da an herhalten musste. Gemeint war damit, ungeachtet aller philosophischer Definitionen des Begriffs, dass man etwas Ideales, etwas Vollkommenes, etwas Positives für sich oder sein Land als Wunschziel vor Augen gehabt habe, was, so der Umkehrschluss, nicht verwerflich sein könne. Verantwortlichkeit für das eigene Handeln wurde damit grundlegend negiert. Würde man diese Argumentation konsequent weiterdenken, ließe sich mit ihr auch Antisemitismus rechtfertigen. Und tatsächlich scheute beispielsweise Fritz Zi. nicht davor zurück, in seinen Selbstdarstellungen auch diesen Weg zumindest teilweise und mit Einschränkungen zu beschreiten. Harder versuchte es sogar mit der Kombination, unpolitisch und Nationalsozialist gewesen zu sein. An diese Argumentationen schloss sich die an, dass man, anstatt die NS-Gewaltherrschaft unterstützt zu haben, was es zu widerlegen galt, vielmehr selbst dem Zwang dieses Systems ausgeliefert gewesen sei. Die vermeintliche eigene Handlungsunfähigkeit ergänzte damit die negierte Verantwortlichkeit für das eigene Handeln. Wie sahen ihre Selbstdarstellungen und Argumentationen nun konkret aus?
Gerhard S., der zunächst unter dem falschen Namen Waldeck bei Bauern in der Umgebung Hamburgs untergetaucht war, dann aber gefasst und ins Internierungslager Neuengamme gebracht worden war, gehört ohne Zweifel zu denen, die ohne Skrupel der Spruchkammer Lügen über ihre NS-Vergangenheit präsentierten und noch dazu NS-Verbrechen verharmlosten. Von ihm sind die Akten eines Spruchgerichtsverfahrens78 vor dem Spruchgericht Bergedorf sowie die Unterlagen seines Entnazifizierungsverfahrens79 vor dem Entnazifizierungshauptausschuss Stade (beides britische Zone) überliefert. Auf fast fünf eng beschriebenen Schreibmaschinenseiten legte er dem Spruchgericht Bergedorf detailliert und versiert seine Version seines Lebenslaufs vor. Selbstsicher und auf Details bedacht, schilderte er sich darin als unpolitischer Verwaltungsbeamter, der eine Laufbahn bei der Kriminalpolizei eingeschlagen hatte, kriegsbedingt als Anwärter des leitenden Dienstes dann im Amt I des RSHA aber „neben dem Kennenlernen der Aufgaben eines Landratsamtes und einer Regierung auch alle Zweige der Sicherheitspolizei und des SD zur Information durchlaufen“80 musste. Er versuchte damit bereits, seine Stellung als Anwärter des leitenden Dienstes, die eigentlichen Ausbildungsinhalte und Einsätze zu marginalisieren und zu entpolitisieren.
Er betonte des Weiteren, 1933 lediglich SS-Bewerber gewesen zu sein, weil ihm das die Schulleitung der Franckeschen Stiftungen in Halle als Leiter eines neu aufzustellenden Schülerbataillons nahe gelegt habe. Bereits noch ihm selben Jahr habe er diese Bewerbung wieder zurückgezogen, weil er zur Reichswehr gewollt habe. Der SS sei er danach nicht wieder beigetreten; sein SS-Dienstrang sei lediglich ein Angleichungsdienstgrad gewesen – ein in die Irre führendes Argument, das nicht nur Gerhard S. gebrauchte und das sich auch in den späteren NS-Prozessen noch reger Beliebtheit erfreute, diente es doch als Argument für die unpolitische, in rechtsstaatlicher Tradition stehende Kriminalpolizei. Tatsächlich war Gerhard S. 1934 aus der SS ausgetreten, weil er zur Reichswehr ging, danach hatte er aber sofort wieder seine Aufnahme in die SS beantragt. Bei der Spruchkammer kam er damit letztlich nicht ganz durch, denn dem Kläger lagen die BDC-Unterlagen und damit auch ein Heiratsgesuch Gerhard S.s vor. Darin hatte Gerhard S. 1937 oder 1938 in seinem Lebenslauf geschrieben: „Infolge meines Eintritts in die Reichswehr musste ich s.[einer] Zt. aus der SS austreten. Das Wiederaufnahmeverfahren läuft z. Zt. und da der Wiederaufnahme nichts entgegensteht, unterwerfe ich mich betr. Heiratsgenehmigung bereits jetzt den SS-Gesetzen.“81 Ergänzend hatte er in einem späteren Schreiben hinzugefügt, dass er am 2. Juli 1938, an dem Tag, an dem er seine Kommissarsprüfung bestand, unter seiner alten SS-Nummer wieder aufgenommen worden sei.82 Vehement versuchte er, einen Sicherheitsabstand zwischen sich und die SS zu bringen.
Dass er auch Parteimitglied gewesen war, leugnete er nicht, wies aber darauf hin, dass er erst 1941 (richtig: 1940) auf Anraten Parteianwärter geworden sei. Und ergänzend fügte er hinzu, „dass ich entsprechend meinem Alter keine andere Partei bewusst erlebt habe und von ihren programmatischen Ideen gefangen wurde, sodass ich mich innerlich als Nationalsozialist fühlte und den Eintritt in die Partei als eine unwichtige äußere Formsache ansah“83. Diese angebliche politische Ahnungslosigkeit hinsichtlich anderer Parteien darf als Schutzbehauptung gewertet werden, schließlich war Gerhard S. 1933 bereits 20 Jahre alt. Ebenso schwer wie seine SS-Mitgliedschaft wog seine Gestapozugehörigkeit. In seinem Lebenslauf, den er in Bergedorf vorlegte, war er darauf bedacht, dieses Thema nicht explizit anzusprechen und seine Zugehörigkeit zur Staatspolizei als obligatorische Ausbildungsetappe darzustellen. Zwar erfuhr er seine Ausbildung tatsächlich bei der Stapo-Stelle Potsdam, allerdings hatte er sich auch zuvor bei der Gestapo beworben. Erst 1938 sah die Ausbildung zum Kriminalkommissar ein zweimonatiges Praktikum bei einer Stapo-Stelle und eine dreimonatige Ausbildung beim SD vor.
Den Schwerpunkt seiner schriftlichen Darstellung legte Gerhard S. auf sein juristisches Studium, wobei er, wie bereits erwähnt, die Zeit beim Ek 9 ausließ, und sich bemühte, die Zeit von 1941 bis 1945 als Ausbildungszeit erscheinen zu lassen, in der er nur passiver Beobachter und Lernender gewesen sei und in der er immer wieder versucht habe, zur Wehrmacht zu kommen. Und so verwundert es nicht, wenn er am Ende seiner Ausführungen zu dem Fazit gelangte: „Wenn ich von dem kurzen militärischen Einsatz am Ende des Krieges absehe, bin ich während meiner fast 9jährigen Tätigkeit bei der Sicherheitspolizei ständig in der Ausbildung, Schulung oder Vorbereitung gewesen – habe 5 Prüfungen durchmachen müssen, von denen die eine immer wieder die Voraussetzung für die andere war, unterlag ständiger dienstlicher Beurteilung und Beaufsichtigung und durfte im Laufe des Jahres 1945 damit rechnen, mit der Einweisung in eine Planstelle als Regierungsrat diese Zeit zu beschließen.“84 Das Kriegsende durchkreuzte schließlich seine Beamtenpläne, so stellte er es jedenfalls mit nicht zu überlesender Verbitterung fest: „Der Abschluss war nun nicht ‚plangemäß’, sondern führte mich als landwirtschaftlicher Arbeiter zum Bauern, wo ich mir den täglichen Lebensunterhalt verdienen musste, bis ich am 21. 11. 46 festgenommen und interniert wurde.“85 Letztlich war er also, so seine Sichtweise, ein Opfer des Systems geworden, das sich nun nach Kriegsende auch noch zu Unrecht in Internierungshaft befand.
Im weiteren Verlauf ging es für ihn vor allem darum, glaubwürdig zu machen, dass er keinerlei Berührung mit NS-Verbrechen gehabt hatte. Wegen seiner Gestapozugehörigkeit musste er sich Fragen zu NS-Verfolgungsmaßnahmen und NS-Verbrechen stellen, gegenüber denen er sich unwissend und naiv gab. Vom Staatsanwalt am 8. Dezember 1947 danach gefragt, was er über die Judenverfolgung gewusst habe, antwortete er, dass ihm „selbstverständlich“ die antisemitische Einstellung der NSDAP und ihrer Gliederungen bekannt gewesen sei.86 Von den Novemberpogromen habe er in Halle damals „gehört“. Dass Juden den Davidstern tragen mussten, habe er gewusst und auch „Einzelne mit dem Abzeichen“ gesehen; ebenso sei ihm bekannt gewesen, dass „Juden in Berlin in ihrem Wohnraum beschränkt wurden dergestalt, dass mehrere Familien in eine Wohnung zusammengelegt wurden“. Er wusste, dass ihm diese Angaben, die Allgemeingut waren, und von ihm in gleichsam belangloser und verharmlosender Weise vorgebracht wurden, letztlich nicht schaden konnten. Dann begann er aber zu leugnen und bestritt, gewusst zu haben, „dass man im 3. Reich im Osten Judenghettos neu geschaffen hatte und man diese Juden aus dem Reich zwangsweise evakuierte und später vernichtete“. Gefragt nach den Einsatzkommandos, reagierte er ähnlich. Ja, er habe gewusst, dass es sie gab, aber nur, „weil ich kurzfristig im Rahmen der Aktion Zeppelin einmal im Osten war und bei diesen Einsatzkommandos übernachtete. Von dem Zweck dieser Kommandos war ich nicht unterrichtet, wusste insbesondere nichts von den Maßnahmen, die jetzt gerichtsbekannt [sic] geworden sind und auf die massenweise Vernichtung von Juden und Zivilbevölkerung [sic] besetzter Gebiete hinzielten“. Auch beim Thema Konzentrationslager gab er sich unwissend und unbedarft. Zwar habe er das Konzentrationslager Oranienburg während seiner Ausbildung einmal besucht, von Verbrechen habe er aber nichts feststellen können. „Ich bestreite gewusst zu haben, dass man die Leute etwa durch Arbeit zu vernichten beabsichtigte und sie Behandlungsmethoden unterwarf, die sich nach meiner Überzeugung jetzt als Verbrechen darstellten.“ Er beschrieb Konzentrationslager als reguläre Gefängnisse: „Es mag sein, dass man bei besonders gefährlichen Leuten auf Kriegsdauer einwies, betrachte diese aber als eine reine Sicherheitsmaßnahme für besonders Gefährliche.“
Der Kläger der Spruchkammer Bergedorf, dies sei an dieser Stelle vorweggenommen, schenkte Gerhard S.s vorgeblichem Unwissen vor allem angesichts seines Rangs keinen Glauben.87 Gerhard S. reichte ein weiteres Schreiben mit der Überschrift „Meine Verbindung mit der Geheimen Staatspolizei und dem SD und die Bemühungen, aus diesen Organisationen auszuscheiden“88 ein, um seine Position zu stärken und seine Gestapozugehörigkeit zu relativieren. Darin stilisierte er sich nun zum unbequemen und nicht linientreuen Gestapobeamten, der wiederholt versuchte, von der Gestapo (für die er sich ebenso wie für die Kriminalpolizei beworben hatte) wegzukommen, obwohl ihm angeblich mit Einweisung in ein Konzentrationslager gedroht worden sei. Hier widersprach er sich selbst, hatte er doch zuvor die Konzentrationslager als harmlose Einrichtungen beschrieben. Gerhard S. berief sich hinsichtlich seiner Tätigkeit bei der Gestapo auf Zwang und Notstand: „Zusammenfassend darf ich heute sagen“, endete er sein Schreiben, „dass ich […] die Erkenntnis gewann, in ein unduldsames und rücksichtloses System einer Diktatur eingespannt zu sein, und dieser Erkenntnis Rechnung tragend unter Inkaufnahme schwerster Bestrafung, Berufsverlust und Schädigung der Familie nichts unversucht ließ, mein Ausscheiden zu erzwingen. Wenn mir das trotz allem nicht immer gleich und in vollem Maße gelungen ist, so bitte ich doch zu bedenken, dass ich, dem Militärstrafgesetzbuch unterstehend, trotz klarer Kenntnis der Gefahren zwar viel gewagt und in Kauf genommen habe, letztlich aber vor meiner Familie nicht verantworten konnte, offenen [im Original unterstrichen] Ungehorsam, Befehlsverweigerung und Meuterei zu betreiben. Tod oder lange Freiheitsentziehung wäre die Folge gewesen.“89 Es war der Hinweis an die Spruchkammer, dass man mehr wohl nicht verlangen könne.
Während seines anschließenden Entnazifizierungsverfahrens, zu dem er sich bereits wieder in Freiheit befand, legte er in seinen schriftlichen Ausführungen über seinen „politischen Lebenslauf“ vor allem Wert darauf, sich als betrogenen Idealisten zu geben. Die Argumentation lief damit auf ein Sowohl-als-auch hinaus. So schrieb er: „[Ich habe] damals die nach außen wirkenden Erfolge des Nationalsozialismus, wie die einheitsstaatliche Form, die Beseitigung der Arbeitslosigkeit und die Beseitigung des Klassenkampfes gut geheißen. Erst viel später – ja zu verschiedenen Fragen erst nach der Kapitulation, ist mir das innere Wesen dieses Systems klar geworden, insbesondere als sich während des Krieges eine Parteidiktatur entwickelte, die mit Korruption, Byzantinismus und Gewalt eigensüchtigen Zielen nachstrebte.“90 Damit reihte er sich ein in die Mehrheit der deutschen Bevölkerung, die den schnellen Erfolgen des NS-Regimes zugejubelt hatte. Seine Kritik war ebenfalls mehrheitsfähig, beschränkte sie sich doch auf die als marode empfundene Seite des Systems und ließ NS-Verbrechen außen vor. Wie er seine eigene Situation empfand, brachte er bei seinem Entnazifizierungsverfahren zum Ausdruck, schließlich ging es dabei um seine berufliche Zukunft: „Mit dem äußeren Zusammenbruch Deutschlands lief mein innerer parallel. Ich sah mich verraten, betrogen und verlassen und fühle heute nur noch eine tiefe Verachtung gegenüber den Personen und dem System, das Deutschland in dieses Unglück geführt hat.“91 Passend zu seiner vorangegangenen Argumentation fügte er noch hinzu: „Diese Einstellung ist nicht etwa allein dadurch bedingt, dass dem System der Erfolg versagt blieb, sondern besonders durch die Kenntnis und Erkenntnis von den inneren Zusammenhängen, den begangenen Verbrechen und der geistigen Intoleranz. Diese Erkenntnisse habe ich mir aber leider erst nach der Kapitulation infolge genügender Aufklärung verschaffen können.“92 Er selbst sah sich nicht als Teil dieses Systems.
Und exakt seiner Argumentation entsprechend stellte er sogleich klar, was er über seine Verhaftung nach Kriegsende dachte: „Zum Zwecke der kollektiven Haftung für das begangene Unrecht durch einzelne NS-Formationen wurde ich am 21. 11. 46 vom englischen I.S. [Intelligence Service] festgenommen und ins Internierungslager Neuengamme eingeliefert.“93 Er machte schließlich keinen Hehl daraus, dass er die Spruchgerichtsverfahren und auch den Spruch, den er erhalten hatte, ebenfalls als zutiefst ungerecht empfand und bat am Ende darum, in die Gruppe der „Unbelasteten“ eingereiht zu werden.94 Es war für ihn aber nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, sondern vielmehr ging es darum, die Entnazifizierung möglichst erfolgreich hinter sich zu bringen, um seine berufliche Zukunft gesichert zu sehen.95 Schließlich, so ließ er den Entnazifizierungsausschuss in Stade im Januar 1949 wissen, stünde er in „aussichtsreichen Verhandlungen zwecks Wiedereinstellung in die Polizei“96 , weshalb das Verfahren doch schnellstens abgeschlossen werden solle.
Zu denen, die ohne Skrupel logen und beinahe ein Recht auf Entnazifizierung einforderten, gehörte auch Walter He. Seine NSDAP-Mitgliedschaft gab er zwar an, berief sich aber auf Opportunismus; seinen SS-Rang erklärte er mit Dienstgradangleichung und Karrieregründen.97 Grund dafür ist ohne Zweifel, dass Walter He. die Strategie verfolgte, sich während des gesamten Verfahrens als unpolitischer Kriminalbeamter zu präsentieren. Zu dieser Legende gehörte, dass sein aus beruflichen Gründen erfolgter Eintritt in die NSDAP nur durch die Fürsprache des Kreisbauernführers seines Heimatortes überhaupt erst möglich gewesen sei, dass sein Einsatz in Russland rein „militärisch“ gewesen sei und der Hinweis, dass er in Breslau nur „unpolitische“ Delikte bearbeitet habe und stets ein korrekter und toleranter Vorgesetzter gewesen sei.98 Als er damit nicht durchkam und zunächst als Unterstützer der NS-Gewaltherrschaft in die Gruppe IV eingereiht wurde, verschärfte sich sein Ton, und er wurde genauer in seiner Selbstdarstellung, in der er nun einerseits verstärkt seine Unschuld und charakterliche Anständigkeit betonte und andererseits gleichzeitig den Spieß umdrehte und den Entnazifizierungsausschuss wegen seiner vermeintlichen „konstruierten Belastung“ und Fehleinschätzung angriff.
Seine Berufungsbegründung99 ist ein schriftlicher Gegenangriff auf die Sichtweise des Entnazifizierungsausschusses. Und sie zeigt unverhüllt, wie Walter He. nicht nur sich darstellen wollte, sondern vor allem auch, wie er sich tatsächlich selbst sah. Er verwies darauf, dass er „als Ausbilder und Führer einer russischen Freiwilligen-Einheit […] nur nach den allgemein gültigen Regeln der Kriegsführung gehandelt“ und sich „keiner Verstöße gegen international anerkannte Rechtssätze schuldig gemacht“ habe. Sein Verhalten sei „stets korrekt“ gewesen, was er dadurch bewiesen sah, dass er 1947 aus britischer Gefangenschaft ohne Probleme entlassen worden war. Und er bestritt energisch die „vom Kläger vorgebrachten, nur auf Vermutungen gestützten Beschuldigungen, an Greueln und Repressalien gegenüber der Ostbevölkerung beteiligt gewesen zu sein“. Der Kammer warf er zudem „unzureichende Sachkenntnis“ vor, weil sie seine erfundene Stelle als Ordonnanzoffizier bei der Waffen-SS als wichtig beurteilte, und hielt ihr vor, dass „viele Offiziere und Unteroffiziere in gleichen und ähnlichen Stellungen verwendet worden sind, ihnen diese Betätigung aber heute auch nicht besonders zur Last gelegt wird“. Der Verweis auf die unbehelligte Wehrmacht im Gegensatz zu Einheiten der SS, der Sipo und des SD ist bedeutend, weil er auch in den späteren NS-Prozessen immer wieder auftauchte. Selbstsicher sagte Walter He. am Ende seiner Ausführungen über sich selbst: „Da keinerlei Tatsachen gegen mich sprechen, die Beweisaufnahme vielmehr ein makelloses Bild meiner Vergangenheit in Frieden und Krieg entworfen hat und mir keine politische Aktivität zur Last gelegt werden kann, ist die Einstufung als ‚Unterstützer des Nationalsozialismus’ unbegründet.“ Und wieder scheute er nicht den Vergleich und den Verweis auf die Masse, wenn er seine Vergangenheit, so wie er sie darstellte und sah, pathetisch rechtfertigte: „Ich habe als Beamter und als Soldat nur meine Pflicht als Deutscher erfüllt, ebenso gut und so schlecht wie andere Staatsbürger, die nach den zahlreichen Entscheidungen als ‚entlastet’ angesehen werden.“ Was Walter He. präsentierte, war keine aufgesetzte Selbstsicht; er sah und beurteilte sich und seine Vergangenheit tatsächlich so.
Wie alle bislang aufgeführten Beispiele verlegte auch Harder sich auf eine Umdeutung seines Lebenslaufs, allerdings machte er keinen Hehl daraus, Nationalsozialist gewesen zu sein. Er versuchte gleichzeitig, sich als Nationalsozialisten und als unpolitisch darzustellen. Weil dem Kläger der Spruchkammer Darmstadt-Lager eine BDC-Auskunft vorlag, wurde Harder zunächst in der Verhandlung am 2. Juli 1948 mit den offensichtlichen Falschangaben in seinem Lebenslauf, nämlich dem falschen Beitrittsdatum zur NSDAP und der nicht erwähnten SD-Tätigkeit, konfrontiert. Das Sitzungsprotokoll zeigt einerseits Harders im Gegensatz zu den vorher genannten Beispielen zum Teil sehr unbeherrschte Begründungsversuche und andererseits seine Selbstpositionierung. So beteuerte er, keine falschen Angaben gemacht zu haben, sich aber vielleicht in den Daten geirrt zu haben. Hinsichtlich der SD-Tätigkeit verstrickte er sich in widersprüchliche Aussagen, gab dann aber indirekt zu, sie bewusst verschwiegen zu haben: „Die SD-Leute, die in Gefangenschaft gingen hat man in der ersten Zeit in ziemlich übler Form behandelt. Ich war mir keiner Schuld bewusst, und warum sollte ich mich da in ein übles Licht stellen?“100 Auf den Vorhalt, dass er laut BDC-Unterlagen 1940 zum SS-Hauptsturmführer befördert wurde, reagierte er mit vorgetäuschtem Unwissen und blieb bei seiner Falschdarstellung, zu diesem Zeitpunkt noch bei der Wehrmacht gewesen zu sein und nun zum ersten Mal von dieser Beförderung zu hören. Seinen Eintritt in die SS 1930 begründete er mit Verweis auf Kameradschafts- und Elitegedanken.101
Am Ende ließ er die Kammer wissen, wie er sich selbst sah: „Ich war Soldat gewesen und habe eine Kompanie geführt und hatte auch keinen politischen Weitblick und musste glauben, dass wir den Krieg gewinnen würden.“102 Als unpolitisch, mit einer unbedeutenden Position und, so machte er noch deutlich, auch unwissend, wollte er sich verstanden wissen: „Von Grausamkeiten oder Verbrechen, die von der SS begangen worden sind, ist mir nichts bekannt und habe von solchen während des Krieges auch nichts gehört.“103
NS-Verbrechen zu verharmlosen und sich unwissend zu geben, darauf setzte auch Rath. Allerdings konnte und wollte er seine Einschätzung der Verbrechen nicht verbergen, so dass seine Einlassungen eine deutliche Kontinuität von NS-Ideologie, -Sprache und entsprechenden Bewertungskategorien offenbaren. In seinem Verfahren vor dem Spruchgericht Bielefeld104 ging es zum einen um seine Dienstzeit bei der Gestapo und zum anderen um seine Tätigkeit in Russland; schließlich hatte er das Ek 9 genannt. Diesen Einsatz spielte er als unbedeutendes Zwischenspiel herunter, und mit der unwahren Behauptung, im weiteren Kriegsverlauf bei diversen Waffen-SS-Einheiten gewesen zu sein, zielte auch er darauf ab, den Eindruck zu erzeugen, er sei nur an „militärischen“ Einsätzen beteiligt gewesen. Für Rath ging es darum, seinen Dienst bei der Gestapo harmlos erscheinen zu lassen und sich nicht in Zusammenhang mit NS-Verbrechen zu bringen. Er gab in seiner staatsanwaltschaftlichen Vernehmung am 8. Oktober 1948 freimütig zu, der NSDAP aus Überzeugung beigetreten zu sein und verwies auf den schon angesprochenen Idealismus. Im weiteren Verlauf der Vernehmung verlegte er sich darauf, beinahe sämtliches Wissen über Verfolgung und Verbrechen zu leugnen. So zog er sich auf die Position zurück, in Konzentrationslagern hätten sich „kriminelle Verbrecher“, „arbeitsscheue Elemente“ und Personen befunden, „die ein politisches Delikt begangen hatten“105. „Keineswegs ist mir jedoch bekannt gewesen, dass in den Lagern politische Häftlinge saßen, die nur wegen ihrer antinationalsozialistischen Gesinnung und weil sie von der Gestapo als eine Gefahr für den NS-Staat angesehen wurden, dort in den Lagern inhaftiert wurden. […] Dass Geistliche in den Lagern saßen, war mir unbekannt. Ich habe nicht gehört, dass Juden in Konzentrationslagern saßen. Ich wüsste auch nicht, warum.“ Nach Arbeitserziehungslagern gefragt, gab er zu, davon gewusst zu haben, dass es solche Lager für „Arbeitsbummelanten“ gegeben habe. Dass es Zwangsarbeiter gab, bestritt er gegenüber dem Staatsanwalt, indem er den Zwang bezweifelte und hinzufügte: „Ich hörte auch, dass auch Ausländer in Arbeitserziehungslagern saßen. Ich nehme an ebenfalls wegen Arbeitsbummelei und Arbeitsvertragsbruch.“106 Die Tatsache, dass polnische Zwangsarbeiter ein „P“ auf ihrer Kleidung tragen mussten, ließ er den Staatsanwalt zudem wissen, habe er nicht als entwürdigende Maßnahme, sondern einfach als Kennzeichnung betrachtet, „damit jeder Deutsche gleich sehen konnte, wenn er einen Polen vor sich hatte“.
Beim Thema Judenverfolgung bestritt er, jemals den Begriff Sonderbehandlung gehört zu haben. Er erklärte aber, gewusst zu haben, dass es bei der Gestapo ein Judenreferat gegeben habe, mit der Funktion, „die Juden zu überwachen“. Unrecht konnte er darin ebenso wenig erkennen wie in der Bestimmung, dass Juden den Davidstern tragen mussten: „Ich hielt diese Kennzeichnung für durchaus berechtigt, weil das Weltjudentum uns den Krieg erklärt hatte.“ Er beeilte sich aber hinzuzufügen, dass er die Dinge heute anders betrachte. Mit Blick auf seine Sprache und seine Argumentation darf dies als eine eher unglaubwürdige Bemerkung bewertet werden. Rath bestritt gegenüber dem Staatsanwalt auch, jemals etwas von Judendeportationen gehört zu haben: „Ich hörte nur davon, dass die Juden, als die Lage an den Fronten kritisch wurde, in Internierungslager gekommen sein sollen.“ In der Konsequenz leugnete Rath auch, davon gehört zu haben, dass Einsatzgruppen mit Vernichtungsbefehl im Osten eingesetzt gewesen waren. Allerdings traf er hier auf das Problem, dass der Kammer seine BDC-Unterlagen bekannt waren, in denen seine Zugehörigkeit zu seinem Einsatzkommando erwähnt wird. Und so fügte er noch schnell hinzu: „Ich habe auch niemals vernommen, dass dort Juden vernichtet worden sein sollen. Ich will mich berichtigen. Ich habe wohl etwas gerüchteweise gehört. Es sollen Juden erschossen worden sein, ich weiß aber nicht von wem. Bei der Einheit, bei der ich mich befand, ist niemals ein Jude erschossen worden.“
Weil er der Ansicht war, dass er seine Sichtweisen und Erklärungen in der Vernehmung nicht richtig hatte ausbreiten können, verfasste Rath gleich nach seiner Vernehmung ein Schreiben an das Spruchgericht, in dem er nochmals zu allen Punkten Stellung nahm. Er betonte, von einer Vernichtungsaufgabe der Einsatzkommandos nichts gewusst zu haben: „Ich habe nicht nur solche Befehle betreffend die Juden nicht gekannt, sondern auch während meiner ganzen Einsatzzeit in Russland niemals Weisungen erhalten, die sich besonders auf Juden bezogen hätten. Soweit ich mit Juden im Rahmen der Bandenbekämpfung in Berührung gekommen bin, sind diese nicht anders als die übrigen Bandenangehörigen behandelt worden.“107 Darüber hinaus blieb er dabei – von einer rassistischen Verfolgung der Juden durch die Gestapo sei ihm nichts bekannt. Er ließ sich lediglich darauf ein, gewusst zu haben, „dass im Kriege eine Reihe polizeiliche Maßnahmen gegen die Juden ergriffen wurden, da sie mehr und mehr als aktive Kriegsfeinde angesehen wurden“108. Auch in Sachen Zwangsarbeiter blieb er bei seiner Verteidigungslinie. „Zwangs- bzw. Sklavenarbeiter“ habe es nicht gegeben; alles sei mit rechten Dingen abgelaufen und zur Bestätigung fügte er hinzu: „Ich weiß, dass die fremden Arbeiter sich in Deutschland frei bewegen konnten und sogar Urlaub in die Heimat bekamen und dass es umfangreiche Betreuungseinrichtungen für diese gab.“ Auch auf den Komplex Konzentrationslager kam er wieder zu sprechen und betonte noch einmal, von Misshandlungen und Grausamkeiten in Konzentrationslagern nichts gewusst zu haben, weil er, so seine Begründung, nie ein KZ besichtigt habe. Ebenso wie Gerhard S. verteidigte er den ‚Schutzhaftbefehl’ und gab sich darüber hinaus einmal mehr unwissend: „Dass die bloße religiöse, rassische oder politische Gesinnung zur Inhaftnahme genügen soll, war mir nicht bekannt.“ Und ganz im Sinne der NS-Ideologie fügte er hinzu: „Was die Arbeitserziehungslager betrifft, so ist mir bekannt, dass sie dazu dienen sollten, asoziale Elemente der Besserung zuzuführen bzw. Arbeitsscheue zur Arbeit anzuhalten.“ Seine Aussagen gingen damit weit über das hinaus, was zu seiner eigenen Verteidigung nötig gewesen wäre. Sie rechtfertigten letztlich den NS-Staat und seine Maßnahmen.
Die Haupttopoi der Verteidigung und Rechtfertigung standen damit fest. Sie wurden nicht erst während der NS-Verfahren in der Bundesrepublik generiert, sondern wurden direkt in der Nachkriegszeit geschaffen, wenn sie nicht sogar bereits vorher, während der Zeit des Nationalsozialismus, zur Selbstentschuldung und Selbstvergewisserung der eigenen Anständigkeit und Menschlichkeit kreiert worden waren. Sie wurden danach lediglich weiter argumentativ ausgebaut und systematisiert, bis sie zum Verteidigungsbollwerk derer wurden, die es in den 1950er Jahren wieder in den Polizei- und Kriminaldienst geschafft hatten.
In den Argumentationen angelegt war die Selbstrechtfertigung der Einzelnen, die in dieser Etappe noch nicht konkret vorgeworfenen Taten galt, sondern ihre Haltung zum Nationalsozialismus und ihr Verhalten während dieser Zeit betraf. Sie diente dazu, die Spruchkammer- oder Entnazifizierungsverfahren möglichst so zu durchlaufen, dass sich daraus keine mittel- oder langfristigen finanziellen oder beruflichen Nachteile ergaben. Die im Verfahren vorgebrachten Argumente entsprangen der Situation und waren zielgerichtet. Die Selbstrechtfertigungen lassen jedoch die Interpretation zu, dass sie nicht spontan entwickelt und zur eigenen Verteidigung lediglich vorgeschoben wurden, sondern dass die Betroffenen von ihrer eigenen Unschuld und Nichtverantwortlichkeit in der Mehrheit überzeugt waren. „Ein Schuldbewusstsein haben die wenigsten: Sie haben nichts verbrochen, nichts gewusst, aus Idealismus gehandelt, sie waren Kameraden – und die andern sind auch schlecht!“109 , urteilte Eugen Kogon nach einer Besichtigung des Internierungslagers Darmstadt.
Aus diesem selbst geschaffenen Bewusstsein resultierte das Empfinden, nun ungerecht behandelt und bewertet zu werden. Die Vermutung liegt nahe, dass der Prozess der Selbstrechtfertigung bereits früher, nämlich bereits beim Töten eingesetzt hatte. Ich folge mit dieser Ansicht Jan Philipp Reemtsma, der diese Überlegung anhand des Beispiels des von Christopher Browning analysierten Reservepolizeibataillons 101 entwickelte.110 Ansatzpunkt dieser Vermutung ist die bereits genannte Feststellung, dass die Täter ihren Äußerungen und ihrem Auftreten zufolge für sich einen Weg gefunden zu haben schienen, der sie selbst entlastete, dabei aber nun genau wussten, was sie getan hatten und dass dies nun mit anderen Maßstäben gemessen wurde.
In seiner präzise und konsequent durchdachten Studie geht Reemtsma zwar primär der Frage nach, wie die ganz gewöhnlichen Männer des Polizei-Reservebataillons 101 zu Mördern werden konnten. Er liefert dabei aber auch Antworten auf die Frage nach dem Prozess der Selbstentschuldung, die für ihn die unabdingbare Voraussetzung für das weitere, widerspruchslose Morden ist. Das lässt sich ohne weiteres auch auf die hier untersuchten Personen übertragen. Damit das Selbstbild während und nach dem Töten bestehen bleiben konnte, bedurfte es nach Reemtsma 1.) eines Feindbildes, 2.) einer inneren Bereitschaft und 3.) des Gefühls, für das Verbrechen legitimiert worden zu sein. Das Außergewöhnliche, die Erschießungen, mussten zudem im Rahmen der Normalität geschehen.
Entsprechend sah Richard W. kein Problem darin, Kleidung zuvor Erschossener zu erwerben.111 Wenn das Außergewöhnliche und das Normale kollidierten, führte das zu Situationen, die die Beteiligten später in den NS-Prozessen noch sehr genau erinnerten: Wie sie zum Beispiel nach einer Erschießung Blutwurst als Verpflegung bekamen.112 Die Normalität als Rahmenbedingung lieferte aber auch Argumente zur Selbstentschuldung, die ebenfalls in den späteren NS-Prozessen vorgebracht wurden: Dass nach einer Massenerschießung nicht gezecht worden sei und man sich „ordentlich“ verhalten habe.113 Der moralische Sinn des eigenen Handelns, so sieht es Reemtsma, passte sich an die Verbrechen, die Situation, an und führte dazu, dass letztlich das Verbrechen in dem Moment, aber vor allem später, nicht mehr als solches erkannt wurde. Das schloss die Angst vor Vergeltung bei Kriegsende nicht aus, sondern vielmehr ein.
Die Selbstentschuldung diente dazu, ein positives Selbstbild aufrecht zu erhalten, das das Empfinden ermöglichte, menschlich und Mensch geblieben zu sein, während und trotz ihrer Taten. Reemtsma beschreibt dieses Anliegen so: „Man wollte nicht barbarisch sein. Nicht, weil man den Juden gegenüber nicht barbarisch sein wollte, sondern weil man selbst kein Barbar sein wollte.“114 Entsprechend plädiert auch der Sozialpsychologe Harald Welzer für einen Perspektivwechsel bei der Behandlung des Zusammenhangs von Massenmord und Moral: „Nicht die Frage, wie moralische Hemmnisse überwunden werden konnten, führt zu einer Erklärung des Täterhandelns, sondern der Befund, dass die Selbstvergewisserung über ein trotz allem noch intaktes moralisches Vermögen die Taten für die Täter ermöglichte.“115 Dieser Befund Welzers basiert wiederum auf der, wie er es nennt, „trivialen psychologischen Erkenntnis“, dass „Handlungen für den, der sie vollzieht, in irgendeiner Weise mit Sinn belegbar sein müssen und in irgendeiner Weise überführbar sein müssen in ein Selbstkonzept, das das Gefühl der eigenen moralischen Integrität nicht massiv infragestellt“116. Wie Heer kommt auch er zu dem Schluss, dass Massenmord und Moral sich nicht ausschließen, sondern sich vielmehr wechselseitig bedingen.117
Die Täter orientierten sich bei ihren Selbstexkulpationen an einem Täterbild, das das Nebeneinander von Täter und ganz normalem Bürger in einer Person nicht erfassen konnte; genau darauf verwies auch Raul Hilberg in seiner Studie.118 Dieses Gegenbild speiste sich aus den Ansichten der Kriminalbiologie vom „asozialen“, notorischen Kriminellen, dem sadistischen und wenig intelligenten Exzesstäter, die sich nicht nur in den Reihen der Polizei, sondern in großen Teilen der deutschen Bevölkerung in der Nachkriegszeit manifestierten und Teil des gesellschaftlichen Klimas der 1950er Jahre wurden. Gerhard S. formulierte es gegenüber dem Entnazifizierungsausschuss so: „Wenn ich auch verstehe, dass man Schuldige an Verbrechen des Staates bestraft, weil sie sich gegen Recht und Menschenwürde vergangen haben, und wenn ich meine Internierung auch als eine kollektive Sicherungs- und Sühnemaßnahme der Besatzungsmacht in Kauf zu nehmen bereit war, so werde ich meine Zweifel an Recht und Gerechtigkeit nicht los, wenn ich wegen einer in allen Ländern geübten beruflichen Tätigkeit zum kriminellen Verbrecher gestempelt werden soll.“119
Aber was war dann der Gegenentwurf dazu? In den Spruchkammerakten findet sich dazu noch keine Antwort, die sich konkret auf die Verbrechen bezieht. Hier findet sich der Gegenentwurf in Äußerungen über den eigenen „anständigen“ Charakter, das ebensolche Verhalten und die vorgebliche Nichtverstrickung in NS-Verbrechen. Erst in ihren späteren Prozessen, in denen die einzelnen Verbrechen zum ersten Mal zur Sprache kamen, zeigt sich konkret das Konstrukt des „anständigen“, ordentlichen, korrekten Mörders, was nebenbei bemerkt exakt dem Bild entspricht, das Himmler in seiner Posener Rede von und für die Einsatzgruppen entworfen hatte.
Der Prozess der Selbstentschuldung war zum Zeitpunkt der Spruchkammerverfahren bereits gefestigt und diente als Basis der eigenen Verteidigung. Das erklärt auch die eingangs erwähnte Kluft zwischen den Taten und den mit Überzeugung vorgebrachten makellosen Selbstbildern. Die Vehemenz und Selbstsicherheit, mit der Betroffene wie zum Beispiel Gerhard S. während der Spruchkammer- bzw. Entnazifizierungsverfahren für sich selbst sprachen und in aggressiver Verteidigungshaltung auf das aus ihrer Sicht ihnen widerfahrende Unrecht reagierten, wirkt nicht gespielt, sondern als Ausdruck einer Überzeugung und damit als Resultat eines vorher eingesetzten Selbstentschuldungsprozesses. Gerhard S., um bei seinem Fallbeispiel zu bleiben, war sich seiner Sache sicher. Da seiner Meinung nach „eingehende Ermittlungen“ gegen ihn keinen persönlichen Vorwurf, sondern im Gegenteil „nur Gutes“ erbracht hätten, sah er sich in seinen Unschuldsversicherungen bestätigt. Sollte seiner Ansicht nicht gefolgt werden, ließ er verlauten, „dann bin ich geneigt, einen solchen Urteilsspruch niemals vor meinem Gewissen als gerecht anzuerkennen“120.