Читать книгу "Ich fühl mich nicht als Mörder!" - Christina Ullrich - Страница 21
2.1.1.1. Angepasste Lebensläufe
ОглавлениеDas erste, was einem bei der Durchsicht der Spruchkammer- und Entnazifizierungsakten auffällt, ist die geradezu selbstverständlich, fast trotzig wirkende Selbstsicherheit, mit der die Täter sich als harmlos und unschuldig präsentierten, die in einem so krassen Missverhältnis zu den von ihnen begangenen Taten stand. Dass sich keiner selbst belastete, erstaunt nicht. Wohl aber die selbstgerechte Haltung, mit der sie zum Teil auftraten und ihre Entnazifizierung als Entlastete oder Mitläufer einforderten. Wer Demutshaltungen sucht, wird in diesen Unterlagen vergeblich suchen. Desillusioniert schrieb Alfred Döblin über seinen Besuch in Deutschland 1946: „Und wenn einer glaubt oder früher geglaubt hat, das Malheur im eigenen Land und der Anblick einer solchen Verwüstung würde die Menschen zum Denken bringen und würde politisch erzieherisch auf sie wirken, – so kann er sich davon überzeugen: er hat sich geirrt“60.
Deutlich geht aus den Spruchkammer- und Entnazifizierungsakten hervor, dass die Betroffenen wussten oder zu wissen glaubten, was aus ihren Biografien kommunizierbar war und was nicht. Oder anders ausgedrückt: Sie mussten überlegen und entscheiden, was konsensfähig sein konnte und was nicht. Entsprechend wurden Lebensläufe abgeändert, Einsätze und Positionen verschwiegen oder geschickt verschleiert. Dabei mussten sie darauf achten, mit ihren Angaben möglichst glaubwürdig zu bleiben. Verschwiegene Mitgliedschaften in NS-Organisationen konnten, vor allem mit Hilfe der BDC-Dokumente, eher aufgedeckt werden als falsche Angaben über Zeitspannen, Dienststellen und Einsätze. Die BDC-Unterlagen waren die Dokumente, auf die die Spruch- und Entnazifizierungskammern zuerst zurückgriffen. Dass die Fragen diese Möglichkeit zur Abänderung der Lebensläufe durchaus offen ließen, ist die eine Seite. Die andere ist, dass die Täter offensichtlich nicht damit rechneten, dass ihre Angaben Zweifel erwecken oder gar einer genauen Überprüfung unterzogen würden. Sie vertrauten auf ihr Wissen über Einheiten und Organisationsstrukturen, das sie zur Verfälschung ihrer Lebensläufe nutzten, und gleichzeitig auf das Unwissen derer, die die Fragebögen begutachteten.
Das Befreiungsgesetz gab die Rahmenbedingungen vor: „Äußere Merkmale“ wie die Zugehörigkeit zur NSDAP, ihrer Gliederungen und anderen NS-Organisationen sollten nicht alleine den Grad der Verantwortlichkeit der Einzelnen bestimmen. Zu den Hauptschuldigen der Gruppe I sollten danach unter anderem leitende Mitarbeiter des RSHA, der Grenz-, Ordnungs- und Kriminalpolizei, alle Gestapo-Angehörigen und Offiziere der SS sowie alle Amtsträger der NSDAP zählen. Für die unteren Reihen der NS-Organisationen, die Mitglieder der NSDAP, die vor dem 1. Mai. 1937 beigetreten waren, der Waffen-SS und der SS galt die Einstufung in die Gruppe II der Belasteten.61 Weniger die Mitgliedschaft in der NSDAP als vielmehr ihre SS-Ränge und die Angehörigkeit zu Gestapo, Grenz-, Ordnungs- und Kriminalpolizei waren die „formalen“ Negativpunkte in den Lebensläufen der Täter. Für sie hieß dies, entweder diese „äußeren Merkmale“ durch Falschangaben zu entschärfen oder sie in der späteren Argumentation durch eine überzeugende Darstellung der eigenen „Gesamthaltung“ zu entkräften und damit eine Art Gegenbeweis zu erbringen.
Ihre Angaben in den Lebensläufen und ihre späteren Einlassungen sind zudem immer auch vor dem Hintergrund des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses und der Folgeprozesse vor amerikanischen Militärgerichten zu sehen. Welche Organisationen als verbrecherisch galten, war ihnen ebenso bekannt wie die Entwicklungen und das Urteil des Einsatzgruppenprozesses. Ihnen war klar, dass die eigene Zugehörigkeit zu diesen Kommandos besser verschwiegen werden musste. Die Internierungslager boten die Möglichkeit, sich auszutauschen und abzusprechen, nicht selten unter alten Kameraden. Dieser Aspekt spielte eine bedeutende Rolle beim Aufbau der eigenen Argumentation, vor allem aber, wenn es darum ging, eidesstattliche Erklärungen zu erhalten.
Das Resultat ihrer Überlegungen und Einschätzungen waren mal mehr, mal weniger angepasste Lebensläufe. Wobei sich diese „Modifizierungen“, wie in den folgenden Beispielen zu sehen ist, hauptsächlich auf ihre Einsätze, die Zugehörigkeit zu Einheiten und ihre Funktionen bezogen. So gab Noa 1948 zwar an, der NSDAP, der SS und der Gestapo angehört zu haben und SS-Führer gewesen zu sein, verschwieg aber seine Einsätze beim Sk 11a.62 Auch Walter He. versteckte die nun gegen ihn verwendbaren Aspekte seines Lebenslaufs geschickt hinter verschleiernden Angaben. Er bejahte ebenfalls seine Mitgliedschaft in NSDAP und SS, verschwieg aber, der SA angehört zu haben. Anstelle seiner Tätigkeit als Teilkommandoführer beim Ek 6 von August 1942 bis Januar 1943 gab er an, von 1942 bis 1944 als Ausbilder einer fremdvölkischen Einheit beim HSSPF Kiew tätig gewesen zu sein und vermerkte pauschal, und nicht ganz unzutreffend, „Einsatz im Front- und rückwärtigen Gebiet der Heeresgruppe Süd“63. Er dehnte also seine Tätigkeit als Ausbilder einheimischer „Hilfswilliger“ und den folgenden „Bandeneinsatz“ mit ihnen in den Pripjet-Sümpfen 1943 einfach aus. Der „Bandeneinsatz“ schien ihm sagbar. Die Tatsache, dass er 1944 das Enterdungskommando in Riga leitete, versteckte er hinter der Angabe, von Mai bis September 1944 zum „Stellungsbau“ in Riga gewesen zu sein. Aus der folgenden Station der EG z.b. V. ‚Iltis’ wurde in seiner Variante eine Versetzung zur Waffen-SS.64 Auch das schien wiederum sagbar, wie weitere Beispiele bestätigen, wobei in diesem Fall die Betonung sicherlich auf der Versetzung lag. Generell aber herrschte schon hier das Verständnis der Waffen-SS als militärischer Verband.
Für Heinrich Win. waren zwei jeweils falsch ausgefüllte Fragebogen die Eintrittskarten für eine Anstellung als Buchhalter beim US-Hauptquartier in München. Er hatte darin seine SS- und SD-Zugehörigkeit ebenso verschwiegen wie seinen Rang als SS-Hauptsturmführer. Sein Betrug flog allerdings 1948 auf, und er wurde interniert.65 Friedrich Me., der nach Kriegsende bei Verwandten untergetaucht war und 1949 in Dortmund um eine Entnazifizierung bat, weil er wieder in den Polizeidienst wollte, lieferte in seinem Fragebogen lediglich die Rahmendaten und verschwieg die genaueren, weil ihn belastenden Inhalte. Er nannte seine NSDAP-Mitgliedschaft und gab ebenfalls an, bereits 1933 der SA beigetreten zu sein. Seine SS-Ränge erklärte er lapidar mit dem Hinweis auf Dienstgradangleichung und verschleierte so, dass er 1939 Mitglied in der SS geworden war. Für sich behielt Friedrich Me. seine wahren beruflichen Stationen und Tätigkeiten, nachdem seine Bewerbung bei der Kriminalpolizei nach Abbruch seines Theologiestudiums erfolgreich gewesen war. Dass er während seiner Ausbildung beim SD in Frankfurt am Main war, taucht in seinem Fragebogen nicht auf; zu belastend wäre diese Angabe gewesen. Seinen Einsatz beim Sk 7a nannte er nicht, stattdessen vermerkte er pauschal für die Zeit von 1940 bis 1942 „juristisches Studium“66. Dass er 1943 als „Zugbeurteiler zur weltanschaulichen Schulung“ in der Reichsschule der Sipo und des SD in Prag gearbeitet hatte, verbarg er hinter der Bemerkung, an der Universität Prag gewesen zu sein.67 Der Einsatzort stimmte damit. Für das Jahr 1943 nannte er lediglich seine Referendarstelle beim Regierungspräsidenten in München, und seine Position als Ausbildungsleiter beim BdS Straßburg ersetzte er durch eine frei erfundene Tätigkeit beim Polizeiinstitut Berlin. Im Ergebnis blickte der Entnazifizierungsausschuss auf den völlig unauffällig wirkenden Lebenslauf eines Kriminalkommissars mit juristischem Studium, der zudem noch ein fast abgeschlossenes Theologiestudium vorzuweisen hatte, was alles andere als gegen ihn sprach.
Auch Harder hielt es für angebracht, seine Einsatzgruppentätigkeit in Polen, seine Arbeit bei der Umwandererzentralstelle in Lissa sowie seinen Posten als Adjutant Blobels beim Sk 1005 zu verschleiern. Für die Kriegszeit gab er an, lediglich Soldat gewesen zu sein: Zunächst bei der Wehrmacht im ‚Flakregiment 64´ und ab 1942 bei einem Flakregiment der Waffen-SS.68 Entsprechend vermerkte er auf seinem Meldebogen auf die Frage nach der Haupttätigkeit „1943: Soldat, 1945: Offizier“69. Dass er während seiner Ausbildung zeitweise hauptamtlich für den SD Düsseldorf tätig war, verschwieg er in seinem Lebenslauf. Seinen NSDAP-Beitritt verlegte er von 1929 auf 1931; dass er gleichzeitig auch der SA beigetreten war, gab er nicht an.
Selektiv ging auch Gerhard S. mit seiner Vergangenheit um. Zwar erwähnte er seine Tätigkeit im „Unternehmen Zeppelin“ und seine Arbeit beim SS- und Polizeigericht Königsberg, verschwieg aber gekonnt seinen Einsatz beim Ek 9. Dass er Mitglied der NSDAP war, gab er zu, bei seiner SS-Zugehörigkeit versuchte er sich aber herauszuwinden, indem er seine Mitgliedschaft 1933 mit Eintritt in die Wehrmacht enden ließ, obwohl er ihr danach wieder beigetreten war.70 Er stellte es als „Angleichungsdienstgrad“ dar, um so zu suggerieren, dass er ohne sein Zutun zur SS gekommen sei, was falsch ist. Seine Gestapozugehörigkeit nannte er zwar teilweise, schränkte sie aber gleich wieder ein, indem er sie als Ausbildungszeit und als zwangsweise Zugehörigkeit darstellte.71
Vier immerhin nannten ihre Zugehörigkeit zu Einsatzkommandos: August Hä. führte in seinem Lebenslauf selbstbewusst an, den Einsatzkommandos 4a und 11b sowie der Dienststelle des BdS in Athen angehört und die Außenstelle in Patras geleitet zu haben. Allerdings verfälschte er die Zeitspannen der beiden ersten Einsätze. Sein Fall sticht aus der Reihe der anderen heraus, weil August Hä. noch vor seinem eigenen Spruchkammerverfahren als Zeuge für seine ehemaligen Vorgesetzten Paul Blobel, Walter Blume und Erwin Schulz im Nürnberger Einsatzgruppenprozess fungiert hatte. Ihm ging es nicht darum, die Einsätze zu verschweigen, sondern die Aufgaben der Einheiten und seine Rolle darin zu verharmlosen bzw. zu leugnen. Auch Rath ließ die Station Ek 9 in seinem Lebenslauf nicht aus, sicherte sich aber ab, indem er wahrheitswidrig betonte, nur wenige Tage bei dieser Einheit gewesen zu sein. Ebenso leugnete er in seinem Lebenslauf nicht, NSDAP- und SA-Mitglied gewesen zu sein. Auch seine Dienstzeit bei der Gestapo fügte er in seinen Lebenslauf ein. Aus seinem Einsatz als Führer des Restkommandos Witebsk machte er allerdings einen Einsatz bei einer Aufklärungseinheit im rückwärtigen Heeresgebiet Russland-Mitte, dem er diverse Einsätze bei der Waffen-SS folgen ließ.72 Heinz Ta. schließlich gab zwar nicht auf seinem Meldebogen, aber während des Verfahrens vor der Spruchkammer des Internierungslagers Darmstadt an, mit der Sipo in Russland gewesen zu sein.73 Und auch Fritz Zi. erwähnte seinen Einsatz in der Slowakei. Sie alle vertrauten auf mangelndes Wissen auf Seiten der Spruchkammern, womit sie nicht Unrecht haben sollten.
Von allen sah allein Schmidt-Hammer sich nicht veranlasst zu lügen, weil er für sein Entnazifizierungsverfahren beim Entnazifizierungshauptausschuss Rendsburg 1949 nur einen verkürzten Fragebogen ausfüllen musste, der neben den Personalien lediglich die Mitgliedschaft in zehn NS-Organisationen abfragte. Alle Fragen konnte er so wahrheitsgemäß mit nein beantworten.74
Mit ihren Lebensläufen legten sie die Grundsteine für den weiteren Verlauf der Verfahren. Die Verbrechen, an denen sie beteiligt gewesen waren, blendeten sie dabei völlig aus ihren Biografien aus – eine Haltung, die in den folgenden Selbstdarstellungen während ihrer Verfahren noch viel deutlicher hervortreten sollte. Nun ging es für sie darum, ihre Angaben mit Argumentationen und Rechtfertigungen zu untermauern.