Читать книгу "Ich fühl mich nicht als Mörder!" - Christina Ullrich - Страница 16

1.2. Unterstützung aus der Gesellschaft

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Integrationshilfen, das wird in den folgenden Kapiteln der Arbeit noch weiter zu zeigen sein, erhielten die Täter an allen Etappenpunkten ihrer Nachkriegslebensläufe. Während Solidaritätsbekundungen und Unterstützung während der Strafprozesse offensichtlich geschahen und die Unterstützer zum Teil in ihren Eingaben und Briefen sehr genau die Gründe ihres Handelns formulierten, sind die genauen Formen der Unterstützung, die den Betroffenen bei Kriegsende und in der direkten Nachkriegszeit zuteil wurden, in den wenigsten Fällen in ihren Details den Quellen zu entnehmen. Zu diesem Zeitpunkt wirkte die Unterstützung spontan, reflexartig und situationsgebunden, weniger als reflektierte und argumentativ untermauerte Handlung, wie dies bereits wenig später in den eidesstattlichen Erklärungen der Spruchkammerprozesse, der Entnazifizierungsverfahren und in der Phase des beruflichen Wiedereinstiegs der Fall war. In dieser Phase hatte sie einen fast selbstverständlichen Charakter: Die Familie war für Heuser und Friedrich Me. die erste Anlaufstelle. In diesem Kreis war es kein Geheimnis, dass sie auf ihre eigene Weise einer Gefangennahme entgangen waren. Solange es innerhalb dieses Personenkreises keine Risse gab, hatten die Betroffenen von dieser Seite keine Gefahr zu erwarten, im Gegenteil. Heusers damalige Verlobte war selbst in Minsk gewesen, hatte Heuser dort kennengelernt und war schon deswegen seine engste Verbündete. Die Nachbarn fragten nicht nach den neuen Mietern oder gaben sich mit den wenigen Auskünften zufrieden, die ihnen Heuser gab, auch wenn dem Vermieter Heuser suspekt blieb. Bei Gerhard S. alias Waldeck war es ein Bauer, der ihm anbot, auf seinem Hof zu wohnen und zu arbeiten. Auch in Neumarkt-Sankt Veit scheint es keine näheren Nachfragen bezüglich des Neubürgers Rudolf Schl. gegeben zu haben. Und für Hilfsarbeiten in einer Ziegelei oder in der Landwirtschaft brauchte es keinen Lebenslauf; Arbeitskraft war gefragt. Die, die mit ihrer alten oder einer neuen Identität ein ziviles Leben beginnen wollten, ohne die Station Gefangenschaft oder Internierung, wurden somit aktiv unterstützt, indem man sie bei sich aufnahm, ihnen eine Beschäftigung bot, ihnen zu falschen Papieren verhalf, aber auch passiv, indem man sich nicht näher für sie interessierte und keine weiteren Fragen stellte.

Die wenigsten Unterstützer, abgesehen von Heusers Verlobter, dürften über die wirklichen Aufgaben und begangenen Verbrechen der Betroffenen bescheid gewusst haben. Insofern ging es in dieser Phase nicht darum, gezielt NS-Täter zu decken. Die Motivation gründete sich vielmehr auf ein Zusammengehörigkeitsgefühl der Kriegsverlierer als Reflex auf die Besatzer. Von „Schicksalsgemeinschaft“18 sprach Janka und wollte in der Nachkriegsgesellschaft Reste der „Volksgemeinschaft“, die er nicht als Utopie, sondern als Realität betrachtete, erkennen. Doch bereits in den letzten Kriegsjahren hatte der Rückzug auf sich selbst eingesetzt.19 Die Abwehrhaltung den Siegern gegenüber, die den Betroffenen Solidarität und Unterstützung brachte, war eine Maßnahme des Selbstschutzes und zeigt, wie weit sich der große Teil der Bevölkerung mit dem Nationalsozialismus eingelassen hatte. In allen anderen Bereichen stand die Existenz, das Überleben des Einzelnen im Vordergrund; Solidarität war dabei eher hinderlich.20 Deswegen hatte Friedrich Me. auch kein Problem damit, für die britische Besatzungsmacht zu arbeiten. Es war ein „Wir“ der besiegten und sich von der NS-Führung betrogen und verraten fühlenden Deutschen, das half, durch die Distanzierung vom Nationalsozialismus und durch die Abwertung der Alliierten ein positives Selbstbild aufrecht zu erhalten. Das abgrenzende „Wir“ hingegen, das nichts anderes als eine der Selbstbestätigung dienende Verteidigungshaltung war, trat deutlich hervor, wenn das eigene Selbstverständnis angegriffen und Bewertungskategorien in Frage gestellt wurden. Weder traute man den Alliierten die „richtige“ Einschätzung des Nationalsozialismus zu, noch eine gerechte Behandlung der Gefangenen und schon gar nicht die Organisation des Wiederaufbaus. Der politische Zusammenhang zwischen Niederlage und Besatzung wurde nicht gesehen.21 „So müssen wir uns jetzt selber fragen“, forderte Karl Jaspers daher in seiner Vorlesung „Über die geistige Situation in Deutschland“ an der Universität Heidelberg im Wintersemester 1945 / 46, „ob wir nicht wieder einem anderen Lärm verfallen, selbstgerecht werden, aus unserem bloßen Überleben und Gelittenhaben eine Legitimität ableiten. Seien wir uns klar: dass wir leben und überleben, verdanken wir nicht uns selbst, dass wir neue Zustände mit neuen Chancen in der furchtbaren Zerstörung haben, haben wir nicht durch eigene Kraft erreicht. Geben wir uns keine Legitimität, die uns nicht zukommt.“22 Es ist diese Stimmung des ungebrochenen positiven Selbstbildes, wie Jaspers sie beschreibt, die ausländische Beobachter, Rückkehrer und Überlebende zugleich verstörte. Zu ihnen zählte Primo Levi, der auf seiner Zwischenstation in München das Desinteresse an Opfern wie ihm zu spüren bekam und über die Deutschen schrieb, sie seien taub, blind und stumm gewesen, „noch immer stark, noch immer fähig zu hassen und zu verachten, noch immer Gefangene der alten Fesseln von Überheblichkeit und Schuld“23. Oder Alfred Döblin, der über seinen Haupteindruck staunte, den Deutschland 1945 bei ihm hinterließ, „dass die Menschen hier wie Ameisen in einem zerstörten Haufen hin und her rennen, erregt und arbeitswütig zwischen den Ruinen und ihr ehrlicher Kummer ist, dass sie nicht sofort zugreifen können, mangels Material, mangels Direktiven“24.

In dieser aufgeregten Phase des Übergangs gewannen die Argumentationen zunehmend an Kontur, die zur Selbstentschuldung, zur Distanzierung vom NS-System, zur Selbststilisierung als Opfer – und zwar in doppelter Hinsicht als Opfer Hitlers und als Opfer der Alliierten – und zur positiven Selbstverortung in der neuen Situation beitrugen. Die Vorstellung eines NS-Täters war vage und hatte hauptsächlich die NS-Führung im Visier. In dieser Situation konnten jene, die untertauchen wollten, mit Unterstützung rechnen, denn sie zählten zur Gesellschaft. Immer vorausgesetzt, sie hatten ihren Unterstützern zuvor nicht geschadet. So lieferten Geschäftsleute aus der Umgebung ranghohem SD-Personal, das sich in Flensburg neue Identitäten zulegte, Zivilkleider, und der Kommandant von Auschwitz, Rudolf Höß, konnte als Franz Lang bei einem Bauern als Hilfsarbeiter unterschlüpfen, ohne dass zunächst jemand Verdacht geschöpft hätte. Ganz im Gegenteil, seine Arbeitsleistung („guter Organisator“) wurde geschätzt und sein Auftreten entsprach dem, was als „anständig“ galt, wie die Bäuerin, deren Hof er als Verwalter zugewiesen worden war, zu Protokoll gab. Nett habe er ausgesehen, die „Haare schlicht zurückgekämmt, höflich, bescheiden – und er war fleißig – immer hat er gearbeitet! Und er saß abends oft über Büchern.“25 Es gibt keinen Grund, nicht davon auszugehen, dass diese Reaktion auf die Verkörperung deutscher Sekundärtugenden nicht auch den hier betrachteten Personen wie beispielsweise Gerhard S. geholfen hat, Unterschlupf zu finden. Deutlich zeigt sich in der Aussage der Bäuerin die Bedeutung gesellschaftlich vorhandener und angewandter Täterbildern für die Beurteilung und Einschätzung von Personen, die, gerade weil sie für die NS-Täter und ihre Reetablierung so überaus wichtig war, als Problematik die gesamte Geschichte der Bundesrepublik durchziehen sollte.



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