Читать книгу "Ich fühl mich nicht als Mörder!" - Christina Ullrich - Страница 23
2.1.2. Das soziale Umfeld – Eidesstattliche Versicherungen und ihre Verfasser
ОглавлениеDie Regelung, dass die Widerlegung der in der Klageschrift ausgesprochenen Schuldvermutung bei den Betroffenen lag, bedeutete streng genommen keine Umkehrung der Beweislast, wurde de facto aber so verstanden. Das hatte zur Folge, dass sich schon bald eine Flut eidesstattlicher Erklärungen über die Spruchkammern ergoss. Die Sichtweise der umgekehrten Beweislast degradierte die Klageschriften und die Beweise der Kläger per se zu substanzlosen Schuldvermutungen. „Der eigentliche Beweis“, stellt Niethammer fest, „wurde demnach nur geführt, um zu zeigen, wie irrelevant der Tatbestand sei“121.
Die eidesstattlichen Erklärungen hatten aus Sicht der Betroffenen den Zweck, die eigene Argumentation und Selbstdarstellung zu belegen und die Sicht der Spruchkammern zu widerlegen. Die Leumünder wurden gezielt ausgesucht, um den Bestätigungen möglichst viel Gewicht und Glaubwürdigkeit zu verleihen. Auch die Inhalte waren nicht willkürlich, sondern wurden genau von den Betroffenen vorgegeben, indem sie darum baten, dass man ihnen bestimmte Dinge bestätigen möge. Ganz deutlich wird das beispielsweise in einem Schreiben, das Fritz Zi. von seinem ehemaligen Nachbarn Dr. K. erhielt, und das mit der Formulierung begann: „Ihrem Wunsch gemäß bestätige ich Ihnen gerne,…“122. Weniger auffällig, aber dennoch nicht zu übersehen, sind Ähnlichkeiten in Formulierungen in den Selbstdarstellungen der Betroffenen und den entsprechenden eidesstattlichen Erklärungen. Die Schreiben waren angefordert und den Anfragen wurde entsprochen. Für diejenigen, die sich in Freiheit befanden, war es einfacher, von Bekannten, Nachbarn oder Freunden Erklärungen einzuholen, weil es für sie die Möglichkeit der persönlichen Begegnung gab. Dass sie sich daher klar im Vorteil befunden hätten gegenüber denjenigen, die sich für ihr Verfahren in Internierungshaft vorbereiteten, wie Niethammer123 behauptet, stimmt nicht ganz.
Prinzipiell gilt, dass die Aussteller eidesstattlicher Erklärungen sich aus zwei Bereichen rekrutierten: dem der ehemaligen Kameraden und Vorgesetzten und dem des privaten Umfeldes der Betroffenen. Die persönlichen privaten Begegnungen fielen für Internierte weg, wie erwähnt, aber über Briefe oder die Ehefrau war es durchaus möglich, aus diesem Umfeld Schreiben zu erhalten. Was die Persilscheine aus dem Kreis der ehemaligen Kameraden und Vorgesetzten betrifft, befanden sich die Internierten klar im Vorteil, weil diese ganz oft Mitinternierte waren. Das brachte die Möglichkeit mit sich, nicht nur möglichst viele Bestätigungen, sondern primär möglichst viele gleich lautende Bestätigungen zu erhalten – und zwar durch gezielte Absprachen. Solche Absprachen halfen dem Einzelnen, da auf diese Weise dessen Charaktereigenschaften mit den gleichen Geschichten bestätigt werden konnten. Sie konnten aber ebenso gut zu Tatsachenverschleierungen, generellen Umdeutungen und Verharmlosung und damit zur Legendenbildung beitragen, indem sich Angehörige derselben Einheit auf gleiche Darstellungen und den Hergang einzelner Ereignisse einigten, SS-Führerränge permanent als Angleichungsdienstgrade und die SS-Mitgliedschaft als kollektive Zwangsmaßnahme bezeichnet wurden, und indem man immer wieder staatlichen Zwang und eigene Unfreiheit für sich reklamierte.
Ein extremes Beispiel dafür sind sicherlich die umfangreichen Absprachen, die zwischen August Hä. und seinen ehemaligen Vorgesetzten und weiteren im Nürnberger Einsatzgruppenprozess angeklagten SS-Führern getroffen wurden. Sie kreierten ihre eigene Version der Ermordung der Kiewer Juden, die gleichzeitig die Angeklagten in dem Prozess und August Hä. in seinem absehbaren Spruchkammerverfahren entlasten sollte. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass dieser sich auch selbst eidesstattliche Versicherungen ausstellte. August Hä., der auch zu diesem Zeitpunkt bereitwillig und trotzig seine ehemaligen Vorgesetzten verteidigte, verfasste auch danach für vormalige Kameraden immer wieder entlastende Zeugnisse. Er selbst schrieb darüber in einem Brief an die Ehefrau eines ehemaligen Kameraden 1967, dass er „in Kameradenkreise der Sipo und der Waffen-SS jahrelang ‚Reichseidesstattlicher Erklärungsabgeber‘“124 gewesen sei.
Gerhard S. initiierte im Internierungslager angesichts der Spruchgerichtsverfahren eine Rechtsberatung, unterstützt unter anderem von einem ehemaligen Kollegen, der Eingaben an die Lagerleitung übersetzte. Im Interesse ihrer Mitgefangenen, „uneigennützig“ und „bis tief in die Nacht hinein“125 , gab 1959 Gerhard S.s Unterstützer an, hätten sie Rechtsberatung geleistet. In einer späteren Vernehmung im Jahr 1960 kritisierte Gerhard S. die Arbeit der Spruchgerichte als eine dem „deutschen Rechtsdenken fremde Verfahrensweise“126 , die eine Beratung erforderlich gemacht hätte. Diese Beratungsstelle diente letztlich ebenfalls dem Zweck, gemeinsam und koordiniert vorzugehen, d.h., Absprachen zu treffen.
Die Inhalte der eidesstattlichen Erklärungen unterschieden sich je nachdem, ob die Verfasser aus dem Kreis des privaten Umfeldes oder dem der Kameraden kamen. Erstere stellten vor allem den Charakter und die politische Einschätzung des Betroffenen in den Mittelpunkt. Es darf angenommen werden, dass kaum jemand von den Einsätzen und Taten der Betroffenen etwas wusste. Sie waren nicht bei seinen Einsätzen dabei gewesen, fragten nicht danach, und letztlich waren die Schnittstellen der Lebensläufe der Aussteller und Empfänger von eidesstattlichen Versicherungen auf einen nur geringen zeitlichen Ausschnitt begrenzt. Wenn deren Beruf überhaupt erwähnt wurde, dann blieb es vage. All das spielte aber auch keine Rolle, denn im Kern demonstrierten die Erklärungen von Freunden, Nachbarn, Lehrern und Pfarrern Verständnis für, wenn nicht gar Mitgefühl mit den Betroffenen. Sie waren eine Geste für Letztere und gegen das System der Entnazifizierung, das die Solidarität der Deutschen untereinander erst recht verstärkte. Bereits 1947 hatte der Hamburger Bürgermeister verlauten lassen, dass es höchste Zeit sei, die Vergangenheit zu vergessen und damit den viel zitierten Schlussstrich gefordert.127 Die Säuberungspolitik der Besatzer stieß in ihrem Verlauf zunehmend auf Ablehnung, den breiten gesellschaftlichen Konsens, den sie gebraucht hätte, um erfolgreich sein zu können, gab es nicht, wie Cornelia Rauh-Kühne feststellt.128 Die Solidarität der Verlierer siegte. „Die ‚verhassten’ Nazis hatten sich binnen weniger Monate wieder in Mitbürger verwandelt, auf die man beim Wiederaufbau nicht verzichten zu können glaubte. Der Ausgrenzungskurs schlug rasch in den Wunsch nach Integration um“129 , urteilen Hartmut Berghoff und Rauh-Kühne in ihrer Regionalstudie. Es waren allen voran Vertreter der katholischen als auch der evangelischen Kirche, die sich mit Beginn der Säuberungspolitik vehement dagegen aussprachen, die sich gerade auch für die im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess und in den Nachfolgeprozessen Verurteilten einsetzten und die mit apologetischen Argumentationen und Wahrnehmungen des Nationalsozialismus aktiv an der Selbstexkulpation der Deutschen mitwirkten.130 Die Stimmung in der Bevölkerung richtete sich rasch gegen die politische Säuberungspolitik, in der man eine kollektive Schuldzuweisung zu erkennen glaubte.131 Bereits die Nürnberger Nachfolgeprozesse stießen auf entschiedene Ablehnung in der deutschen Öffentlichkeit, doch trotz der NS-Verbrechen, die dabei zutage kamen und rekonstruiert wurden, galt die Solidarität und Sympathie jenen, die sie begangen hatten. Mit Blick auf die Internierten etablierte sich die Überzeugung, dass die meisten von ihnen zu Unrecht inhaftiert worden seien. Ihnen half man gerne mit eidesstattlichen Erklärungen. Die Entnazifizierung und Rechtsprechung der Alliierten über Deutsche wurde als Zumutung und Ungerechtigkeit empfunden. Henke spricht von einem „gekränkten nationalen Narzissmus“132 , der ab 1947 in der deutschen Bevölkerung geherrscht habe. Dazu passt die Aussage des ebenfalls im Fall Friedrich Me. Angeschuldigten Hueser. Er erklärte rückblickend zu seiner Rolle als Zeuge der Anklage im Nürnberger Einsatzgruppenprozess: „Obwohl ich den Befehl zur Vernichtung der Juden in Russland […] als Unrecht angesehen habe, habe ich mir als Deutscher gesagt, dass ich das nicht ausgerechnet den Amis auf die Nase binden wollte. Ich hatte gegenüber den Amerikanern und ihren Helfern ein nationales Schamgefühl.“133
In ihren Beschreibungen zeichneten die, die eidesstattliche Erklärungen ausstellten, Personen, die fragmentarisch blieben, und doch erhoben sie den Anspruch, von Einzelheiten auf Gesamtpersönlichkeiten und Verhalten schließen zu können. Heraus kam dabei der entpolitisierte Freund, Schulkamerad, Bekannte, Nachbar oder der Idealist, dem gleichzeitig ein „anständiger“134 Charakter bescheinigt wurde. Die Beschreibungen enthalten oft Stereotype: Der Bekannte, gegenüber dem man kritische Bemerkungen über den Nationalsozialismus machen konnte, ohne, dass er etwas gegen einen unternahm; der Idealist mit anständigem Charakter; der Hilfsbereite, der Fleißige; der tugendhafte, nicht fanatische und nicht politisch überzeugte Nazi. Sie zeigen, dass die Distanzierung vom NS-Regime als Resultat auch einen Konsens darüber mit sich gebracht hatte, wen man für verantwortlich hielt, wer als zu bestrafender Nationalsozialist zu gelten hatte. Mallmann hat auf den Einfluss hingewiesen, den die „Verteilungskämpfe um das Ausmaß der Schuld“ zwischen den Führungsspitzen des NS-Staates in Nürnberg und in den Nachfolgeprozessen auf den Umgang der Gesellschaft mit ihrer Vergangenheit hatte.135 Auch hier griff wieder eine ganz bestimmte Vorstellung vom NS-Täter: die des unsympathischen, unberechenbaren und übereifrigen Mitglieds von Partei, von SS und Gestapo. Diesem Typus wollte man Verbrechen zutrauen, nicht aber dem einstigen Freund, Nachbarn oder Schulkameraden, den man persönlich und vor allem privat kannte.
Das ließ die Entnazifizierung zu einer „Schule der Anpassung, in der sich das Unpolitische bewährte“ und „Feier der kontinuitätsverbürgenden Werte und Netzwerke des Unpolitischen“136 werden, wie Niethammer urteilte. Eine Mischung aus Gleichgültigkeit, fehlender Empathie gegenüber den Opfern – sofern sie nicht in den eigenen Reihen zu finden waren – und starker Solidarität der Verlierer untereinander mag sie dazu veranlasst haben, die von ihnen verlangten Erklärungen auszustellen. Henke sieht darin ein klares Indiz dafür, „wie weit sich die deutsche Gesellschaft mit dem Nationalsozialismus eingelassen hatte“137. Ganz in diesem Sinne spricht Woller von einem „sozialen Geflecht zur Abwehr der Entnazifizierung“138. Hingegen nennt Detlef Garbe das bis zum Abschluss der Verfahren geltende Beschäftigungsverbot als Ursache einer „Solidaritätsgemeinschaft zwischen den tatsächlichen Aktivisten des NS-Regimes und dem Millionenheer der ‚Minderbelasteten’ und ‚Mitläufer’ und deren Angehörigen und Freunden“139 – eine Erklärung, die meines Erachtens zu kurz greift.
Joseph N., dessen Geschäft gegenüber der Tapetenfabrik Harders lag und der mit ihnen geschäftliche Beziehungen unterhielt, erinnerte sich in seiner eidesstattlichen Erklärung zwar daran, dass „dort täglich Zusammentreffen Gleichgesinnter [SS-Leute – Anm. der Verf.]“ stattfanden. Eigene Nachteile hätten er und seine Familie, die gegen den Nationalsozialismus eingestellt gewesen sei, aber durch Harder nicht gehabt. „Charakterlich“, urteilte er schließlich, „halte ich Arthur Harder für einen anständigen Menschen, dem ich schwerwiegende Übergriffe nicht zutraue.“140
Der Pfarrer, zu dessen Gemeinde Gerhard S. während seiner Kindheit gehört hatte, hob in seiner Bescheinigung für diesen besonders hervor, dass dieser „als Sohn eines sehr guten katholischen Elternhauses“141 aufgewachsen, Ministrant gewesen sei und in der Pfarrbücherei geholfen habe. Daraus schlussfolgerte er: „Auf Grund seines Elternhauses und seiner Erziehung kann ich es mir schlecht denken, dass Gerhard S. sich an irgend einer Handlung beteiligt hat, die verbrecherisch war.“142 Wissen konnte er es nicht. Ihm reichte die vermeintlich bewiesene Moralität durch Religionszugehörigkeit und elterliche Erziehung. Einstige Nachbarn aus Berlin bestätigten ihm, nie durch „politischen Fanatismus“ aufgefallen zu sein: „Kritik an der Politik und Kriegsführung hat er zu widerlegen versucht, aber nie irgendwie dienstlich zum Nachteil für irgendjemand verwertet. Fanatischer Nazi ist er unseres Erachtens nie gewesen. Sein Dienst als Beamter hat ihn vollauf beschäftigt.“ Am Ende ihres Schreibens wünschten sie ihm „baldige Freiheit“.143 Und auch die Gemeinde, in die zunächst er und alsbald auch seine Familie nachgezogen war, meldete sich für ihn zu Wort, weil die wirtschaftliche Situation der Familie so schlecht geworden sei, „dass nur durch das schnelle Eingreifen des internierten Ehemanns weitere Schädigung vermieden werden kann“144.
Friedrich Me., der seinen Lebenslauf ganz auf seinem abgebrochenen Theologiestudium aufgebaut hatte, bekam von einem Schulkameraden bescheinigt, ein wertvoller, aufrichtiger Mensch zu sein, den „bestes Menschentum“ auszeichne, der eine demokratische Gesinnung und einen vornehmen Charakter und eine freiheitliche politische Grundhaltung besitze. Innerliche Integrität ist das Stichwort seiner Ausführungen: „Wenn er der NSDAP angehört hat, so wusste ich doch, dass er diesem System innerlich ablehnend gegenübergestanden hat.“145
Ein alter Freund der Familie schrieb über Walter He., dass dieser in seiner Jugend gegen die NSDAP eingestellt und sein Kirchenaustritt keinesfalls politisch motiviert gewesen sei. Walter He. sei zudem niemals „politisch hervorgetreten“146. Heinz Ta. bekam von einer Bekannten aus seinem ehemaligen Wohnort Eisenach folgendes Zeugnis ausgestellt: „Er ist der Sohn achtbarer Eltern, gut erzogen, immer freundlich, höflich und hilfsbereit. […] Ich weiß, dass er bereits vor 1933 der ehemaligen SS angehört hat, ich weiß aber auch, dass er sich nichts Nachteiliges dabei hat zu Schulden kommen lassen. Zu irgendwelchen unehrenhaften Handlungen halte ich ihn nicht für fähig; er ist ein sauberer, ordentlicher Charakter.“147 Ähnlich klingt, was ihm sein ehemaliger Pfarrer bescheinigte: „Herr Heinz Ta. hat stets eine positive christliche und kirchliche Haltung eingenommen und hat sich immer als ein hilfsbereiter Mensch und Christ erwiesen. Eine schlechte Gesinnung oder Tat kann ihm daher nicht zugetraut werden.“148
Ein ehemaliger Nachbar Fritz Zi.s betonte, dass dieser sich nicht aktiv propagandistisch für den Nationalsozialismus eingesetzt und keine Vorteile durch diesen gehabt habe. Dieser Fall zeigt deutlich, wie sehr sich die privaten Einschätzungen von der Wirklichkeit unterschieden, war Fritz Zi. doch unter anderem als Parteiredner tätig gewesen. Eine besondere Rolle in der Verteidigungslinie Fritz Zi.s kommt seinen jüdischen Nachbarn zu, denen gleichsam eine Alibifunktion zuteil wurde. So bestätigten ihm zwei ehemalige Nachbarn mit jüdischen Ehepartnern, dass sie durch ihn keine Nachteile gehabt hätten und dass Fritz Zi. kein Antisemit gewesen sei. Über seine militärischen Einsätze wisse er nichts, räumte Nachbar Z. ein, aber Fritz Zi.s Kind hätte mit seinen Kindern Umgang gehabt, obwohl seine Frau Jüdin gewesen sei.149 Seine Nachbarin R., deren Ehemann jüdischen Glaubens war, hob in ihrer eidesstattlichen Erklärung hervor, dass das Ehepaar Zi. sie trotzdem weiterhin gegrüßt habe und bat darum, seiner Berufung stattzugeben und „ihm den Weg in ein neues Leben zu eröffnen“150. Beide Nachbarn wussten jeweils nichts Genaues über seine Tätigkeiten während des Nationalsozialismus. Für Fritz Zi. waren ihre Erklärungen jedoch von großer Bedeutung, da sie ihn nicht als Antisemiten bestätigten.
Als Rath im Juli 1949 seine von der Spruchkammer Bielefeld beschlossene Straflagerhaft antreten sollte, setzten sich sowohl sein Arbeitgeber als auch die Kreishandwerkerschaft Schaumburg-Lippe für ihn ein, um einen Haftaufschub zu erwirken.151 Sein Anwalt legte sogar noch ein Schreiben der Polizeistation seines Heimatortes Bückeburg bei, in dem es hieß: „Seit 1921 ist Rath in Bückeburg wohnhaft und mit der Tochter eines alteingesessenen Bürgers verheiratet. Seine Tätigkeit und sein Verhalten sind daher immer bekannt gewesen. Trotzdem er der Gestapo angehörte, steht er noch in einem sehr guten Ruf. Alle Personen, bei denen Auskünfte über Rath eingeholt wurden, stellten ihm das denkbar günstigste Zeugnis als Mensch aus. Seine Führung ist einwandfrei. Für seine Familie sorgt er vorbildlich.“152
Die Persilscheine aus diesem privaten sozialen Umfeld besitzen keinerlei Aussagekraft hinsichtlich der betroffenen Personen. Sie zeigen aber, welches Bild ihre Verfasser entweder von den Betroffenen hatten oder glaubten, zu deren Unterstützung kommunizieren zu müssen. In manchen Fällen lassen sie darauf schließen, welche Vorstellungen von NS-Tätern den Schreibern als Negativvorlage für ihre Erklärungen dienten. Und schließlich zeigen die Persilscheine, über welche sozialen Kontakte die Betroffenen verfügten, welche Kontakte sie aktivieren konnten und wer sich mit ihnen solidarisch zeigte.153
Die Erklärungen aus dem Kreis der ehemaligen Kameraden und Kollegen unterschieden sich von denen aus dem privaten Umfeld in Inhalt und Rhetorik. Die Aussteller waren um Sachlichkeit bemüht, um glaubwürdig zu erscheinen. An erster Stelle ging es um den Dienst, den Rang, die Aufgaben und das Verhalten des Betroffenen gegenüber Kameraden, Untergebenen, aber auch Zivilisten, mit denen sie dienstlich zu tun hatten, und um ihre Dienstausübung. Auffällig häufig wurden einzelne Anekdoten oder Erlebnisse berichtet, die entweder die Glaubwürdigkeit des zuvor Berichteten oder die Glaubwürdigkeit der Aussage des Betroffenen unterstützen sollten. Damit einher ging eine charakterliche Bewertung des Betroffenen, die, wie schon in den Erklärungen aus dem privaten Umfeld, ebenfalls auf die entpolitisierte Persönlichkeit im Dienst, aber auch im Privaten hinauslief. Auch hier griffen die Verfasser auf Stereotype zurück, allen voran auf das des korrekten, „innerlich“ nicht linientreuen Kollegen, Untergebenen oder Vorgesetzten, der sich nicht vom Nationalsozialismus hatte vereinnahmen lassen, der zwar im System gefangen gewesen sei, aber Freiräume nutzte, um sich großzügig zu zeigen, und der sich vor allem niemals an Verbrechen beteiligte, der aneckte und sich immer wieder Probleme mit Vorgesetzten einhandelte. Die berufliche Beurteilung entsprach der charakterlichen und umgekehrt. Der entpolitisierte Betroffene blieb dies auch in seiner beruflichen Position. SS- oder SD-Zugehörigkeit seien deshalb nicht aus eigenem Antrieb, sondern entweder durch Zwang oder verwaltungstechnisch erfolgt. Auch die Nähe zur Kirche, zum Beispiel durch ein als religiös beschriebenes Elternhaus, gehörte wie auch in den Erklärungen aus dem privaten Umfeld, zu den immer wiederkehrenden Argumenten.154 Letztlich reproduzierten und bestätigten sie die Topoi, die die Betroffenen vorgegeben hatten; man einigte sich gewissermaßen auf eine Verteidigungslinie, die nicht nur für den Einzelnen Bedeutung hatte, sondern an der sich eine ganze NS-Riege nun in Zukunft entlang hangeln konnte und sollte.
Helmut Bo., einst Regierungsoberinspektor im RSHA-Amt II, urteilte daher über Heinrich Win.: „Heinrich Win. war mir sowie seinen Kameraden und Vorgesetzten als außerordentlich liberaler und politisch sehr toleranter Mensch bekannt, der aus einer sehr katholisch eingestellten Familie stammte und überdies die Tochter eines überzeugten und deshalb verfolgten Sozialdemokraten geheiratet hatte. Er wurde wiederholt von seinen höheren Vorgesetzten wegen dieser Haltung dienstlich gerügt und benachteiligt und hat sich lediglich durch seinen Fleiß und seine Kenntnisse als Verwaltungsbeamter halten können.“ Schließlich gelangte er zu dem Fazit: „Eine aktive nationalsozialistische Betätigung seitens des Heinrich Win. erscheint mir auf Grund meiner langjährigen oben angeführten Beobachtungen absolut undenkbar.“155
Gerhard S. brachte eidesstattliche Erklärungen von acht ehemaligen Kollegen oder Vorgesetzten in sein Spruchgerichtsverfahren ein; fünf von ihnen waren Mitinternierte. Insgesamt stellten ihm zehn Mitinternierte eidesstattliche Erklärungen aus. Ihm ging es, wie vorher schon erwähnt, darum, seine Zugehörigkeit zur Gestapo als nicht gewollt und sich selbst als unbequemen Beamten darzustellen, der alles unternommen habe, um von seinem Posten wegzukommen. Die SS-Mitgliedschaft wollte Gerhard S. zudem als nur formale verstanden wissen. Beide Aspekte bestätigten ihm seine ehemaligen Kollegen und Kameraden, die fast alle Mitinternierte waren. Drei von ihnen unterstrichen Gerhard S.s Darstellung, dass es laut eines Zitats Heydrichs keinen Ausweg aus der Gestapo gegeben habe. Zwei von ihnen wollten ein solches Zitat von Heydrich, allerdings zu unterschiedlichen Zeiten, gehört haben; der Dritte berichtete, Himmler hätte dies gesagt. In fast gleichem Wortlaut, was wiederum auf eine Vorgabe von Gerhard S. schließen lässt, erklärten der Mitinternierte Werner B. und auch Otto Bovensiepen, dass Gerhard S. während seiner Zeit bei der Gestapo Halle hauptsächlich Sabotageverdachtsfälle bearbeitet habe. Letzterer bestätigte Gerhard S. darüber hinaus, dass er ihn um eine Abordnung zur Wehrmacht gebeten habe.
Mit Bovensiepen hatte Gerhard S. einen prominenten Aussteller für einen Persilschein gefunden. Bovensiepen war während S.s Dienstzeit bei der Gestapo in Halle deren Leiter gewesen. Als Chef der Stapo-Leitstelle in Berlin von 1941 bis 1943 war er für die Deportation von 35 000 Juden verantwortlich. Als BdS für Dänemark wurde er im März 1950 dort zu lebenslanger Haft verurteilt, aber bereits 1954 freigelassen.156 Ob Bovensiepen sich wirklich noch so gut an Gerhard S. erinnern konnte, wie er vorgab, ist nicht nachvollziehbar. Die Tatsache aber, dass er ihm eine Erklärung ausstellte, zeigt, dass zum einen Gerhard S. nach so langer Zeit noch über diesen Kontakt verfügte und ihn aktivieren konnte, obwohl Bovensiepen sich zu dieser Zeit als Gefangener in Dänemark befand, und dass dieser offensichtlich keinen Grund sah, Gerhard S. nicht die gewünschte Erklärung auszustellen. Damit führte Gerhard S. seine Selbstdarstellung, immer unbequemer Beamter gewesen zu sein und sich eigentlich immerzu nur in Ausbildung befunden zu haben und daher geradezu unbedeutend gewesen zu sein, selbst ad absurdum. Dies gilt ebenfalls für die weitere Erklärung des Mitinternierten Werner B., aus der hervorgeht, dass Gerhard S. vor allem den Einfluss der örtlichen „NS-Größen“ kritisierte, was wiederum nicht mit dessen eigener Darstellung konform ist, er habe die Gestapo als Ganzes abgelehnt.157 Auch die Erklärung eines ehemaligen Kollegen aus Potsdam widerspricht letztlich der Darstellung von Gerhard S. Einerseits berichtete der Kollege von dessen wiederholten Versuchen, zur Kriminalpolizei versetzt zu werden, andererseits erwähnte er, dass er selbst auf eigenen Wunsch 1939 ohne Abfindung aus dem Staatsdienst ausgeschieden und danach in der Wirtschaft tätig gewesen sei. Damit hebelte er, ohne es vielleicht zu wollen, Gerhard S.s Argument, er habe zwangsweise in der Gestapo bleiben müssen, aus.158
Auch Walter He. erhielt Unterstützung von ehemaligen Kollegen und Kameraden. Ein ehemaliger Kripo-Kollege hob hervor, dass Walter He. jüdische Mitbürger im Dienst „immer höflich und zuvorkommend“ behandelt und „den Bestrebungen der NSDAP und deren Gliederungen vollkommen ablehnend“159 gegenüber gestanden habe. Weitere ehemalige Kameraden wie Max H. strichen sein als positiv beschriebenes Verhalten als Vorgesetzter heraus, das sich wiederum an einem stereotypen Negativbild des linientreuen, arroganten und gefürchteten Vorgesetzten orientierte.160 Ganz in der Argumentationslinie Walter He.s bescheinigte ihm Max H. den angeblich rein militärischen Einsatz in Russland.161 Von politischen Aufgaben der Einheit sowie von Kollektivmaßnahmen wisse er nichts. Walter He. hätte wie jeder andere „Soldat oder Offizier der Wehrmacht“ auch seine „militärische Pflicht“162 erfüllt. Richard R., der ehemalige Verwalter des „Deutschen Hauses“ in Schepetowka in der Ukraine, beschrieb in seiner Erklärung Walter He. als „angenehmen Gesellschafter“, der, obwohl SS-Offizier, nie überheblich gewesen sei. „Da mir Walter He. aus dieser Zeit als charakterlich einwandfreier und anständiger Mensch bekannt war, habe ich ihn als Heimatlosen nach Entlassung aus britischer Kriegsgefangenschaft im vorigen Jahr in meinem Hause aufgenommen.“163