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2. Forschungskontext

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Durch den biografischen Ansatz, mit dem Lebensläufe nach 1945 nachvollzogen werden, berührt die Arbeit zwangsläufig verschiedenste Themen- und Forschungsbereiche, die abhängig von ihrer Relevanz für das Hauptthema unterschiedlich intensiv in der Arbeit aufgegriffen werden. Primär, und darauf soll zunächst eingegangen werden, versteht sich die Arbeit als Beitrag zur neueren Täterforschung, wie sie in den 1990er Jahren aufkam. Mit dem entscheidenden Unterschied allerdings, dass der Schwerpunkt des biografischen Ansatzes nicht auf die NS-Zeit, sondern auf die Zeit danach gelegt wird, um nicht nur festzustellen, dass es der heterogenen Masse der Täter gelang, sich in der bundesdeutschen Gesellschaft wieder einzurichten, sondern um die Frage zu stellen und zu beantworten, wie sich diese Entwicklung vollzog und welche Faktoren dies ermöglichten. Dass es so war, ist unbestritten und hatte sich vor allem in den Ende der 1950er Jahre einsetzenden NS-Prozessen gezeigt.

Karin Orth stellte dies für das Führungspersonal der Konzentrationslager-SS fest: „Diejenigen Abteilungsleiter und Kommandanten, die die Phase der alliierten Militärgerichtsbarkeit überlebten bzw. diejenigen, die aus der Haft entlassen wurden, nahmen in der Bundesrepublik einen beruflichen und sozialen Status ein, der ihrer Herkunft und Bildung entsprach: Sie kehrten in eine mittelständische berufliche Position zurück.“5 Bernhard Brunner6 attestierte das Gleiche den Sipo-Chefs in Frankreich und erklärte es mit einem kurzen Hinweis auf die politischen Weichenstellungen der 1950er Jahre. Ulrich Herbert sah die NS-Eliten, „Funktionseliten“, ebenfalls zurückgekehrt in die Mitte der Gesellschaft und gab einen allgemein gehaltenen Erklärungsansatz, wenn er schrieb: „Die eigene Vergangenheit abzutarnen, ja möglichst ganz vergessen zu machen, um die neue Zukunft nicht zu gefährden, wurde daher zum vordringlichen Interesse. Ein möglichst unauffälliges, angepasstes, normales Leben zu führen, auch die Kontakte zu ehemaligen Mitarbeitern (und Mitwissern) möglichst zu vermeiden und sich jeder politisch verdächtigen Äußerung zu enthalten, war die Konsequenz. […] Dieser Mechanismus führte im Ergebnis zu einer moralisch gewiss zweifelhaften, aber durchaus effektiven Einpassung von offenbar großen Teilen der NS-Eliten in den neuen deutschen Staat und seine Gesellschaft.“7 Heydrichs Elite hatte Jens Banach im Blick, doch auch hier lag der Schwerpunkt auf der NS-Zeit. Für die Nachkriegszeit kontstatierte er in der Zusammenfassung: „Nach 1945 verschwanden diese Planer und Exekutoren des Völkermords im Dunkel der Geschichte. Mehrere Verhaltensweisen kristallisierten sich heraus: Einige begingen Selbstmord; diejenigen, die an ihrer nationalsozialistischen Gesinnung festhielten, tauchten häufig in autoritär-faschistischen Staaten Europas und Südamerikas ab; ein großer Teil der ehemaligen Sipo- und SD-Führer verschwieg oder verleugnete seine Vergangenheit völlig. Sie tauchten in biedere Angestellten- und Beamtenstellungen ab oder machten Karriere in der Wirtschaft. Sie integrierten sich geräuschlos in die bundesrepublikanische Gesellschaft.“8 Ausführlicher behandelt Martin Cüppers die Nachkriegslebensläufe und die justitielle Verfolgung von Angehörigen der Waffen-SS und geht dabei ebenfalls auf das Aussageverhalten und damit die Selbstsichten und Selbstdarstellungen der Täter ein.9 Daneben wurde der „Rattenlinie“ genannte Fluchtweg nach Südamerika dokumentiert, u.a. von Gerald Steinacher.10

Die Nachkriegslebenswege standen in diesen biografischen Studien zunächst jedoch am Rande, als Abschluss und Ausblick gleichermaßen, so auch in dem Täterquerschnitt von Tätern und Täterinnen der zweiten und dritten Ebene, den Gerhard Paul und Klaus-Michael Mallmann 2004 in dem Sammelband „Karrieren der Gewalt“ vorstellten und der auch die bereits erwähnte Biografie des hier behandelten Georg Heuser umfasst.11 In ihrer auf einer heterogenen, aber wie die Herausgeber betonen, keinesfalls repräsentativen Auswahl der Täter basierenden Studie fragten sie nach den Bedingungen für die einzelnen Karrieren und fanden Verbindendes in einer Gewaltsozialisierung – je nach Jahrgang – in den Kampferfahrungen des Ersten Weltkriegs, der Zugehörigkeit zu Kameradschaftsbünden und Freikorps, der frühen NS-Sozialisation und schließlich in der Praxis der Gewalt im nationalsozialistischen Krieg. Von dieser Prämisse schlagen die Herausgeber in ihrem einleitenden Text einen theoretischen Bogen in die Nachkriegslebensläufe: „Wenn es richtig ist, dass die beschriebenen Gewaltmilieus die Wirkung situativer Sozialisationsagenturen entfalteten, wird auch verständlich, dass mit dem Zerfall und der Zerschlagung dieser Milieus die Beteiligten – gewiss mit Verzögerungen und Schwierigkeiten – wieder an ihre begonnenen bürgerlichen Karrieren anknüpfen konnten und fähig waren, sich in der Mehrzahl durchaus erfolgreich in den Alltag der bundesdeutschen Demokratie einzufädeln.“12 Ausführlicher wurde die Rückkehr der Täter bei Michael Wildt13 behandelt, der in seiner Studie über das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes den Nachkriegskarrieren ausgewählter Personen bereits ein eigenes Kapitel „Rückkehr in die Zivilgesellschaft“ einräumte und die gesellschaftlichen Solidaritäten, die ihnen bei ihrer Wiedereingliederung halfen, herausarbeitete. Ebenfalls über die reine Nennung der Eckdaten des Nachkriegslebenslaufes hinaus gingen beispielsweise der Aufsatz von Martin Hölzl14, der sich mit der Lobbyarbeit Adolf von Bomhards für die Ordnungspolizei beschäftigt, und die Studie von Hartmut Berghoff und Cornelia Rauh-Kühne15, die sich zwar an der Person des Trossinger Unternehmers Fritz K. orientiert, letztlich aber eine Gesellschaftsstudie eines schwäbischen Mikrokosmos liefert. In diese Reihe gehören auch Ulrich Herbert16 mit seinem Aufsatz „Deutsche Eliten nach Hitler“ und mit seiner Studie über Best, der für die Zeit nach 1945 dessen Selbstsicht und Wirken für vormalige Gestapobeamte in den Fokus rückt, Lutz Hachmeisters17 Aufsatz über die Nachkriegstätigkeiten von SD-Eliten sowie Gerhard Pauls18 differenzierte Darstellung der verschiedenen Nachkriegslebenswege von Gestapo-Bediensteten unterschiedlichen Rangs. Barbara Fait19 hatte bereits zuvor für die Gruppe der NSDAP-Kreisleiter Oberbayerns nach Bedingungen für deren Scheitern oder Erfolg nach 1945 gefragt, hatte aber letztlich wegen mangelnder Quellen und dem zeitlichen Schwerpunkt, den sie aus diesem Grund wahrscheinlich auf die Entnazifizierung gelegt hatte, keine Aussage über den Grad der Reintegration treffen können, ganz abgesehen davon, dass sie der These Lübbes20 folgte und davon ausging, dass erst die Studentenrevolte 1968 einen gesellschaftlichen und politischen Wandel gebracht habe. Weiter reichten auch die Studien zu personellen Kontinuitäten bei Polizei und Kriminalpolizei. Dieter Schenk21 arbeitete den Einfluss der „Charlottenburger“ um Paul Dickopf und die Einstellungspraxis der Ehemaligen im Bundeskriminalamt heraus – ähnliche Wirkungsmechanismen hatte übrigens Michael Ruck22 am Beispiel der südwestdeutschen Beamtenschaft dargestellt. Patrick Wagner23 widmete sich ebenfalls den Netzwerken der ehemaligen NS-Kriminalisten, und Stefan Noethen24 vollzog anhand zahlreicher Personalakten akribisch den Aufbau der nordrhein-westfälischen Polizei einschließlich der personellen Entwicklung unter der britischen Besatzungsmacht nach. Für die Einsatzgruppen ist Andrej Angricks Studie über die Einsatzgruppe D hervorzuheben, in deren Epilog er die Rückkehr der Täter in die Zivilgesellschaft und ihre Strafverfolgung skizzierte, den Schwerpunkt aber auf die Führer der Einheiten legte. Aus den Strafprozessakten ergab sich auch für ihn ein eindeutiges Bild: „Viele der Genannten hatten in den gut 15 bis 20 Jahren, die zwischen dem Kriegsende und dem Zeitpunkt ihrer Vernehmung lagen, in der westdeutschen Wirtschaft Karriere gemacht und mitunter sogar eine höhere Beamtenlaufbahn eingeschlagen. Ähnlich verliefen auch die Karrieren der Männer aus dem zweiten Glied. […] Die neugeschaffene Bundesrepublik bedeutete für sie vor allem Kontinuität und bis zu einem gewissen Grad Schutz vor dem, was auch heute noch von reaktionären Kreisen als ‚Siegermoral‘ bezeichnet wird.“25

2009 legten Angrick und Mallmann den Sammelband „Die Gestapo nach 1945“ vor, der den Fokus auf die Nachkriegslebensläufe von Gestapo-Bediensteten richtet und dabei die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ebenso wie die Selbstdarstellung der Täter und die Versuche, sie als Täter zu fassen, in den Blick nimmt. Den historischen Realitäten entsprechend wird die Gestapozugehörigkeit von ihrer üblichen engen Definition befreit und weiter gefasst, um der „wachsenden Durchmischung der verschiedenen ‚Waffengattungen’ des Himmlerschen Imperiums im Zweiten Weltkrieg“26 gerecht zu werden. Auf diese Weise werden u.a. auch Angehörige der Einsatzgruppen und Bedienstete der KdS und BdS-Dienststellen und damit folglich auch die Rückkehr dieser Täter in die Kripo erfasst. Stefan Link untersucht in diesem Kontext das Netzwerk der „Alten Charlottenburger“ im Bundeskriminalamt.27

Der biografische Ansatz, ebenso wie die Hinwendung zu Tätern der zweiten und dritten Ebene, dem diese Arbeit folgt, stehen in der Tradition der Täterforschung. Ausführlich haben die Forschungsergebnisse und Tendenzen für diesen Teilbereich der NS-Forschung bereits Thomas Kühne28, Gerhard Paul29, dessen Verdienst es ist, vom frühen Täterdiskurs der direkten Nachkriegszeit einen Bogen in die Gegenwart geschlagen zu haben, und Klaus-Michael Mallmann gemeinsam mit Paul30 zusammengefasst. Neben den Eliten, denen sich u.a. die bereits genannten Wildt, Herbert, aber auch der biografische Sammelband von Ronald Smelser31 und Enrico Syring über die SS-Elite zuwandten, rückten vermehrt die Chargen darunter bis hin zu den Mannschaftsdienstgraden in das Interesse der Forschung und zwar auch in bislang vernachlässigten Formationen wie denen der Ordnungspolizei und der Wehrmacht. Der Blick richtete sich weg von der Berliner Machtzentrale hin zu den unterschiedlichsten Schauplätzen des Mordens, zu konkreten Verbrechen, Tatabläufen, zum Zusammenwirken verschiedener Einheiten und Entscheidungsträgern vor Ort und erfasste dabei die heterogene Masse der Täter. Aus den entfremdeten Tätern wurden greifbare Individuen.32 Verhaltensweisen, Mentalitäten, ihre Sozialisierung, Radikalisierung, situative Dynamiken vor Ort und in der jeweiligen Gruppe sowie Handlungsspielräume wurden analysiert. Die Rolle von Einsatzgruppen, Ordnungspolizei und Wehrmacht im Vernichtungskrieg wurde reflektiert, indem bestimmte Verbrechen oder bestimmte Einheiten betrachtet wurden. Diese Studien dienten dieser Arbeit vor allem als Hintergrundwissen zu Verbrechen und Einheiten, die im Zusammenhang mit den 19 ausgewählten Tätern standen, weil sie nur selten die Nachkriegsbiografien einbezogen. Zu nennen wären beispielsweise die umfassende Studie Andrej Angricks zur Einsatzgruppe D, die, darauf wurde bereits verwiesen, die Nachkriegslebensläufe nicht außer Acht lässt und die Angehörigen der Einsatzgruppe D auch soziologisch betrachtet; der von Peter Klein33 herausgegebene Sammelband über die Einsatzgruppen in der besetzten Sowjetunion 1941 / 42, die Beiträge zur wenig beachteten Einsatzgruppe H in der Slowakei von Tatjana Tönsmeyer34 und Konrad Kwiet35, die grundlegenden Aufsätze Mallmanns36 zum Charakteristikum der Einsatzgruppen sowie zum Unternehmen „Zeppelin“, der Beitrag von Dorothee Weitbrecht37 über die Einsatzgruppen in Polen im Sammelband „Genesis des Genozids“ sowie der von Klaus-Michael Mallmann, Jochen Böhler und Jürgen Matthäus38 herausgegebene Sammelband über die Einsatzgruppen in Polen, die Studie von Jacek Andrzej Młynarcyk39 über den Judenmord in Zentralpolen und die Arbeiten von Jürgen Matthäus40 über die Judenverfolgung in Litauen und im Generalkommissariat Weißruthenien, die umfassende Studie von Christian Gerlach41 über die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland, des Weiteren für den Bereich der Polizei Stefan Klemps42 Arbeit über die Beteiligung der Polizei am Vernichtungskrieg, die Untersuchung des Polizeibataillons 322 von Angrick43 und anderen, der Beitrag über die Sicherheitspolizei und die Shoah in Westgalizien von Mallmann44 sowie für die Wehrmacht der Sammelband von Hannes Heer45 „Tote Zonen“. Die Reihe ließe sich beliebig erweitern; für die vorliegende Arbeit waren aber vor allem Untersuchungen zu den Einsatzgruppen, deren Einsätzen und Personal von Interesse.

Mit der Betonung des Handlungsspielraums und der Radikalisierungsdynamiken vor Ort erschlossen sich neue Themenfelder. Den Anfang hatten Christopher Browning und Daniel Jonah Goldhagen gemacht.46 Sie hatten sich nicht nur den Direkttätern zugewandt, sondern gleichzeitig die Frage gestellt, was die Männer zu Tätern werden ließ und waren dabei – darüber ist viel geschrieben worden – zu konträren und viel debattierten Ergebnissen gekommen.47 Während Browning eine Diabolisierung der Bataillonsangehörigen zu vermeiden und stattdessen verschiedene Charaktere zu differenzieren versuchte und die Gewaltsozialisation und gruppenpsychologische Mechanismen der Situation, in der sie sich befanden, hervorhob, verneinte Goldhagen institutionelle und situative Motive und sah in der ideologischen Disposition eines den Deutschen eigenen eliminatorischen Antisemitismus die Antwort auf die Frage, was aus gewöhnlichen Deutschen „willing executioners“ werden ließ. Aus dem Bereich der Soziologie und der Sozialpsychologie antworteten Jan Philipp Reemtsma und Harald Welzer. Am Beispiel des Reserve-Polizeibataillons 101 machte Reemtsma deutlich, dass es darauf ankam, dass sich der Täter im Moment des Tötens seiner Menschlichkeit versicherte.48 Philipp Zimbardo sprach in diesem Zusammenhang von „moral disengagement“, mit dem sich Menschen neue, moralische Kategorien schaffen, die ein eigentlich unmoralisches Handeln rechtfertigen sollen.49 Ähnlich klingt, was Welzer am Beispiel von NS-Tätern (aber auch im Vergleich mit Ruanda und Ex-Jugoslawien) konstatierte. Statt zu fragen, welche Hemmnisse die Täter zu überwinden hatten, sollte vielmehr ihre moralische Selbstvergewisserung in den Vordergrund gestellt werden, um Täterhandeln zu erklären.50 Rolf Pohl51 hingegen wählte, durchaus zweifelhaft, Freud und Mitscherlich als theoretische Ansatzpunkte. Es galt vor allem, beim Blick auf das Individuum oder eine definierte Gruppe den nationalsozialistischen Kontext einzubeziehen, die Frage „nach dem Verhältnis von Intention, Disposition, sozialer Praxis und situativer Dynamik von Gewalt“52 zu stellen. Zu den Untersuchungen, die diese Aspekte ausloteten, gehören die bereits genannte Studie Wildts über das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamts, die Beiträge des von Wolf Kaiser53 herausgegebenen Sammelbands „Täter im Vernichtungskrieg“ sowie die beiden Sammelbände „Entgrenzte Gewalt“, herausgegeben von Habbo Knoch54, und über die „weltanschauliche Erziehung“ der Täter von Jürgen Matthäus55, Konrad Kwiet, Jürgen Förster und Richard Breitman.

Bisherige starre Tätertypisierungen mussten in der Konsequenz reflektiert werden, ließen sie sich doch mit den Forschungsergebnissen zum Beispiel zu den Einsatzgruppen nicht mehr aufrechterhalten. Zwischen den Polen Browning und Goldhagen verabschiedete man sich mit Michael Wildt von der Vorstellung eines „dominanten Tätertypus“56, und Gerhard Paul57 hielt mit Blick auf Mallmann fest, dass sich unter den unmittelbaren Tätern wie den Teilkommandoführern der Einsatzkommandos kein bestimmter generationeller oder sozialer Typus mehr identifizieren ließe. Trotzdem verzichtete auch er in seinem Beitrag nicht auf eine Kategorisierung, sondern unterschied zwischen Tätern, die nie selbst töteten, Direkttätern und Exzesstäter, was meines Erachtens wieder in die Irre führte. 2004 stellte er gemeinsam mit Mallmann hinsichtlich der Biografien des Sammelbandes „Karrieren der Gewalt“ jedoch fest, dass „sich auch hier Mischformen und das Prozesshafte als charakteristischer als die reinen Idealtypen“58 erwiesen, wobei sie „politische Konformisten“, „Weltanschauungstäter“, „Exzesstäter“ oder „Schreibtischtäter“ unterschieden. Habbo Knoch bemängelte, dass die unterschiedlichen Täterschaftsverhältnisse bisher nicht begrifflich präzise erfasst worden seien.59 Der Trend geht eindeutig weg von der starren Typisierung, mit denen in der Vergangenheit Täterbilder und Schuldzuweisungen oder Exkulpationen verbunden waren, und die lange Zeit das Bild „der Täter“ in Justiz und Öffentlichkeit bestimmten. Welche Auswirkungen sie hatten, wird in dieser Arbeit thematisiert werden. Wegen dieser Vorbelastung wird es schwer werden, Typisierungen als das zu begreifen, was sie sind: Hilfskonstrukte, um verschiedene Ausprägungen von Täterschaft erfassen zu können.

Weil der Schwerpunkt dieser Arbeit auf der Zeit nach 1945 liegt, berührt sie weitere Themengebiete, von denen an dieser Stelle die Entnazifizierung, die 1950er Jahre als Phase der Wiedereingliederung der Täter, die dynamischen gesellschaftlichen Veränderungsprozesse im Übergang von den 1950er zu den 1960er Jahren und nicht zuletzt der Umgang mit der NS-Vergangenheit und die NS-Prozesse, die durchaus bei entsprechendem Fokus als Abzweig der Täterforschung verstanden werden können, erwähnt werden sollen. Nach Lutz Niethammers60 Untersuchung der Entnazifizierungspraxis, der vergleichend angelegten Arbeit von Clemens Vollnhals61 und der Verortung der Entnazifizierung im europäischen Kontext der politischen Säuberung nach Kriegsende, wie dies der von Klaus-Dietmar Henke62 und Hans Woller herausgegebene Band „Politische Säuberung in Europa“ vornahm, hat sich die Forschung von diesem Themenkomplex abgewandt, obwohl Mikrostudien weiterhin fehlen.

Die 1950er Jahre sind zu oft als Ruhephase für die NS-Täter beschrieben worden, was sie zweifellos auch waren, aber eben nicht nur. Der Umgang von Politik und Gesellschaft mit den Tätern von einst ist untrennbar mit der Geschichte dieser Phase verbunden und stieß nach 1990 auf ein neues Interesse innerhalb der Forschung. Der thematische Schwerpunkt verlagerte sich dabei zunehmend von dem restaurativen Umgang der Adenauer-Regierung und der Gesellschaft der jungen Bundesrepublik mit der jüngsten Vergangenheit und der Interpretation kollektiver Dispositionen hin zu tendenziellen Gegenströmungen nach 1955.63 Axel Schildt64 legte dazu 1999 „Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre“ vor, um die monolithische Betrachtungsweise aufzubrechen. In das Zentrum des Interesses rückten die Brüche der Konsensgesellschaft. Neue Akzente in der Beurteilung gesellschaftlicher Wandlungsprozesse beim Übergang von den 1950er Jahren zu den 1960er Jahren aber auch in den 1960er Jahren selbst haben vor allem drei jüngere Arbeiten gesetzt. Zum einen die im Sammelband „Wandlungsprozesse in Westdeutschland“65 zusammengefassten Ergebnisse der Freiburger Forschergruppe um Ulrich Herbert, die nicht den die Demokratie belastenden Kontinuitäten nachspürte, sondern ausgehend von der Tatsache, dass sich die Bundesrepublik dennoch zu einer stabilen Demokratie entwickelt hat, nach gegenläufigen Tendenzen und Impulsgebern für gesellschaftliche Lernprozesse fragte. Zum anderen die Publikation „Dynamische Zeiten“66 , die sich auf die 1960er Jahre, vor allem auf Entwicklungsprozesse vor 1968, bezieht und die 1960er Jahre als „Scharnierjahrzehnt“ betrachtet. Eine zentrale Rolle misst auch der von Matthias Frese, Julia Paulus und Karl Teppe herausgegebene Sammelband „Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch“67 den 1960er Jahren zu, die als „Wendezeit der Bundesrepublik“ betrachtet werden. Ziel des Bandes ist es, die Vielfältigkeit der Umbrüche, die unterschiedlichen Geschwindigkeiten, mit denen sie sich vollzogen, das Nebeneinander von Beharren und Verändern zu erfassen.

In diesen Kontext gehört die Frage nach dem gesellschaftlichen (und politischen) Umgang mit der NS-Geschichte und den, wie sie oft genannt werden, späten NS-Prozessen. Nach der zunächst vorwiegenden Betrachtung juristischer und spezifischer Problematiken68 der NS-Prozesse und der Frage nach Erfolg und Misserfolg69 der Prozesse geriet im Zuge der Täterforschung die Frage nach der Täterwahrnehmung in den Vordergrund. Zu den Arbeiten mit juristischem Blickwinkel zählen Bettina Nehmers70 Analyse der juristischen Verfolgung von Einsatzgruppenverbrechen und die Dissertation von Kerstin Freudiger71 , die anhand von 142 Urteilen, unterteilt nach Deliktskategorien Strafzumessungsbegründungen vergleichend analysierte und zu dem Schluss gelangte, dass sich Gerichte nicht nur eines breiten Interpretationsspielraums bedienten, sondern, wie sie am Beispiel des Landgerichts München I ausführte, sich juristischer Konstrukte bedienten, um Gehilfenschaft statt Täterschaft feststellen zu können. Damit hatten ihrer Ansicht nach die Gerichte und nicht der Gesetzgeber versagt. Einen täterzentrierten Blick auf die Verfahren hatte zuvor der Journalist Heiner Lichtenstein72 mit seinen Prozessbeobachtungen und nach ihm Michael Okroy73 mit seiner Analyse des Wuppertaler Bialystok-Prozesses gerichtet. Einen vergleichenden politikgeschichtlichen Ansatz verfolgte Annette Weinke74 , die den Umgang mit der NS-Vergangenheit in beiden deutschen Staaten analysierte. Annette Weinke betrachtete jüngst die Geschichte der Zentralen Stelle Ludwigsburg und nahm dabei auch von Massenmedien kreierte Täterbilder in den Blick.75 Ausschließlich dem staatlichen Umgang mit NS-Belastungen in der DDR widmet sich Henry Leide.76 Die Tendenz jüngerer Beiträge geht, wie bereits angemerkt, dahin, Täterwahrnehmungen, aber auch der Bedeutung von Geschichtsbildern nachzuforschen. Zu nennen wären Marc von Miquel77 , der, wenn auch allgemein gehalten, den prägenden Einfluss der Justiz auf die Deutung von NS-Verbrechen und den apologetischen Charakter vieler Urteile betonte, Edgar Wolfrum78 , der die NS-Prozesse in den Zusammenhang sich wechselnder Geschichtsbilder vom Ende der 1950er bis Ende der 1960er Jahre einordnete sowie die Untersuchungen von Patrick Wagner79 über die Resozialisierung der NS-Kriminalisten und von Bernhard Brunner80 über die Nachkriegslebenswege deutscher Sipo-Chefs in Frankreich. Weiterhin ist der Aufsatz Konrad Kwiets81 „Von Tätern zu Befehlsempfängern“ zu nennen, der u.a. die Verteidigungsstrategien der Angeklagten und ihre nationalsozialistisch geprägte Wortwahl näher betrachtet. Den ausführlichsten Überblick über die unterschiedlichen Täterbilder und Wahrnehmungen von Tätern in der Forschung bietet Gerhard Paul82 in dem von ihm herausgegebenen Band „Die Täter der Shoah“. Der Trend der täterzentrierten Forschung zur Erschließung von Mechanismen im nationalsozialistischen Vernichtungskrieg, aber auch zur Wirkungsgeschichte von Täter- und Geschichtsbildern, ist zu Recht ungebrochen. 2007 ist eine Studie zu den NSDAP-Kreisleitern in Schleswig-Holstein erschienen, die sehr genau auf die Zeit der Internierungshaft, der Spruchgerichtsverfahren und die berufliche Reintegration der Gruppe eingeht.83



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