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Kapitel 6

Als ich am nächsten Morgen erwachte, waren die Schatten der vergangenen Nacht einem sonnigen Tag gewichen. Verwundert sah ich auf die Uhr und stellte fest, dass ich trotz der Ereignisse am letzten Abend irgendwann doch noch in den Schlaf gefunden hatte. Ich konnte mich nicht einmal daran erinnern, etwas geträumt zu haben. Vermutlich war es pure Erschöpfung gewesen, die mich hatte schlafen lassen. Und nicht nur das, es war bereits später Vormittag. Das würde mit Sicherheit keinen guten Eindruck hinterlassen, wenn ich so lange im Bett verbrachte. Ich sprang beinahe in meine Jeans. In Windeseile knöpfte ich meine Bluse zu, warf einen prüfenden Blick in den Spiegel und schnappte mir den Kulturbeutel vom Nachtschränkchen.

Ein Badezimmer; Frau Beck hatte mir gar nicht gezeigt, wo sich eines befand. Und nach den Ereignissen am Vorabend hatte ich mein Zimmer nicht noch einmal verlassen wollen. Es half nichts. Da ich die Haushälterin nicht bemühen wollte, beschloss ich, es auf eigene Faust zu suchen. Weit konnte es schließlich nicht sein.

Ich trat aus meinem Zimmer in den mit Licht durchfluteten Zwischenkorridor. Bei Tage betrachtet wirkte er überhaupt nicht beängstigend. Das Flurfenster war fest verschlossen, das Haus war angenehm warm. Ich drehte mich auf dem Absatz um und ging in die Hocke. Mit einer Hand fuhr ich die Kratzer an der Tür nach. Tiefe Riefen, aber waren sie wirklich frisch? Ich war mir nicht sicher. Es gab einen Farbunterschied, ja. Aber hätte ich wirklich Stein und Bein darauf beschwören können, dass sie nicht schon länger im Holz gewesen waren? Aber das Kratzen. Das konnte ich mir unmöglich eingebildet haben. Die schlimmste Nacht in meinem Leben; Zeit, die Koffer zu packen, dachte ich und schauderte bei der Vorstellung. Ich kann nicht zurück. In diesem Augenblick war meine Entscheidung gefallen. Ich würde nicht aufgeben. Es gab sicher eine Erklärung für die Geräusche, vielleicht hatte ich sie mir in meiner Panik auch nur eingebildet. Ich wollte nicht auf die selbsterfüllende Prophezeiung hereinfallen. Irgendwie musste ich mich mit der alten Helene arrangieren. Ich musste nur einen Weg finden, mich hier einigermaßen heimisch zu fühlen, dann würde auch meine Furcht verschwinden. Entschlossen richtete ich mich auf, straffte den Rücken und ging zum Fenster. Ich sah hinaus.

Die Sonne lugte über die verschneiten Baumwipfel, Vögel zwitscherten und ein Eichhörnchen sprang geschickt durch die Zweige. Unten stand Frau Beck in ihrer Küchenschürze und unterhielt sich mit einem Mann, der in einen dicken Parka gekleidet war. Seine Handschuhe umschlossen den Stiel einer Schneeschaufel. Ein Windstoß strich durch die Bäume und blies Schnee von den Zweigen, der sanft zu Boden segelte.

Der Mann wuschelte sich durch das schwarze Haar, schüttelte den Kopf und sah auf.

Unsere Blicke trafen sich, er wirkte verdutzt.

Frau Beck schaute ebenfalls herauf, ich setzte einen Fuß rückwärts und sah zu, dass ich vom Fenster verschwand. Irgendwie fühlte ich mich ertappt. Ich konnte noch ihre Stimmen hören, ein kurzer Wortwechsel nur, dann verstummten sie und wenige Augenblicke später wurde eine Tür geschlossen.

Ob Frau Beck zu mir heraufkommen würde? Mich womöglich fragen, ob ich sie belauscht hätte? Ich besann mich auf das Badezimmer, das ich hatte suchen wollen. So konnte ich mich aus dem Staub machen und hoffen, dass sie den Vorfall bei einer späteren Begegnung vielleicht vergessen haben würde. Gleich zu meiner Linken befand sich eine Tür, die etwas schmaler wirkte als die anderen. Ich ging darauf zu und drückte die Klinke.

Begleitet von einem knarrenden Geräusch, schwang die Tür nach innen und offenbarte mir ein betagtes, dennoch geräumiges Badezimmer. Es gab eine halbwegs moderne Dusche, einen Waschtisch mit kupferfarbener Armatur und eine Toilette mit hölzernem Sitz und rosa Plüschauflage.

Unwillkürlich kräuselte ich die Lippen. So hochwertig, geradezu einschüchternd prunkvoll die Villa im Grunde war, es gab die ein oder andere Ecke, die einer umfassenden Renovierung bedurfte. Beruhigend. Vielleicht gefiel mir dieses Bad genau aus diesem Grunde so gut. Konnte allerdings auch an dem rosa Plüsch liegen, der eigentlich so gar nicht meinem Geschmack entsprach und doch einen Hauch von Altbekanntem in mir weckte.

Ich warf einen Blick in den Spiegel über dem Waschbecken, ignorierte die dunklen Ringe unter meinen Augen und öffnete nacheinander die drei Türen. Es war offensichtlich, dass niemand dieses Bad benutzte, denn das Schränkchen war zur Gänze leer. Ich sortierte meine Waschutensilien auf die Plastikregale und entschloss, mich doch noch schnell unter die Dusche zu stellen.

Kaum zwanzig Minuten später verließ ich das kleine Bad und begab mich durch den Flur Richtung Treppenhaus. Auf dem oberen Treppenabsatz angelangt, wollte ich gerade die Stufen hinabgehen, als ich einen Einfall hatte.

Ich kehrte um und schlenderte durch den kleinen Flur, der zu Helenes Zimmer führte. Vor ihrer geschlossenen Zimmertür hielt ich inne. Sollte ich wirklich? Vielleicht war es doch keine so gute Idee, ihr einen guten Morgen zu wünschen, zumal es schon beinahe Mittag war. Andererseits, wenn ich ihr zeigte, dass ich nicht vollkommen verängstigt die Koffer gepackt hatte … Dass dazu nicht gerade viel gefehlt hatte, konnte sie schließlich nicht wissen. Unentschlossen trat ich von einem Bein auf das andere. Bei dem Gedanken an ihren eisigen Blick krampfte sich mein Magen schmerzhaft zusammen. Ich würde mich in ihrer Gegenwart wieder fühlen wie eine verängstigte Maus.

Langsam hob ich eine Hand und legte sie federleicht auf den Türgriff. Er fühlte sich kühl an. Meine Finger schlossen sich um das Metall. Mit der anderen Hand klopfte ich zögerlich. Nichts regte sich. Ich klopfte beherzter, doch wiederum bekam ich keine Antwort.

Ich nahm all meinen Mut zusammen und drückte die Klinke. Zögernd schob ich die Tür auf, einen Spalt nur, dann etwas weiter, bis ich hineinspähen konnte.

Das Bett war leer. Zerwühlt zwar, doch die alte Helene Ockenfels war nicht zu sehen. Vorsichtig öffnete ich die Tür zur Gänze und trat schließlich über die Schwelle.

Im Gegensatz zum vorigen Abend wirkte der Raum freundlich. Die schweren Vorhänge waren weit geöffnet und die Sonne flutete herein. Gleich vor dem Fenster standen ein runder Kaffeetisch und zwei orangebraune Clubsessel aus den 60er Jahren. Der rechteckige Raum wurde jedoch beherrscht von dem schweren Bett aus dunkelrotem Mahagoni. Über dessen Kopfende hing ein Wandteppich, der ein üppig verziertes Jugendstilmotiv zeigte. Flankiert wurde es von zwei antiken Nachtschränkchen, die allerdings wesentlich edler wirkten als mein eigenes. In einer Erkernische zu meiner Linken stand ein Sekretär, dessen Abdeckung geschlossen war. Davor ein fein geschnitzter Stuhl mit altroséfarbenem Sitzbezug und einer Lehne aus glänzendem Samt. Die Wände waren halbhoch mit Holz vertäfelt, schlossen mit einem schmalen Sims und gingen dann über in eine fein gemusterte, helle Tapete. Das Zimmer wirkte gemütlich, wenn auch zu gediegen für meinen Geschmack. Ein schwerer Kleiderschrank und eine Schminkkommode mit dreiflügeligem Spiegelaufbau rundeten den Gesamteindruck ab. Als ich näher an das verwaiste Bett herantrat, wurden meine Schritte durch einen dicken, hellen Teppich gedämpft und ich fühlte mich, als ob ich etwas Verbotenes tat. In Gedanken hörte ich Dennis’ Stimme sagen: Was schleichst du hier herum? Habe ich dir deine Spioniererei immer noch nicht ausgetrieben?

Ein unangenehmes Kribbeln britzelte mir im Nacken, doch ich widerstand dem instinktiven Zwang, den Kopf einzuziehen und mich umzudrehen. Er war nicht hier. Ich stand in dem riesigen Schlafzimmer der Helene Ockenfels und war allein. Vollkommen allein.

Auf der antiken Kommode, wenige Schritte entfernt vom Bett, sah ich einen silbernen Bilderrahmen. Darin steckte ein Schwarzweißfoto. Meine Neugierde war geweckt. Da ich mich unbeobachtet glaubte, trat ich heran und nahm das Bild genauer in Augenschein. Es zeigte das Portrait einer jungen Frau im Halbprofil. Sie trug lediglich einen dunklen Pelz, der so drapiert war, dass wie zufällig eine Schulter entblößt wurde. Der lasziv wirkende Blick der hellen Augen war leicht nach oben gerichtet und doch dem Betrachter zugewandt. Ihr Scheitel wurde von einer mit Diamanten besetzten Libelle gehalten. Die Sinnlichkeit des Fotos wurde vom offenen, blonden Haar unterstrichen, das sich wie eine weiche Welle über den schwarzen Pelz ergoss. Die Frau wirkte wunderschön. Sie war perfekt geschminkt, und das ganze Arrangement der Aufnahme erinnerte an Portraits von Hollywoodstars der dreißiger Jahre.

Hatte Frau Ockenfels in jungen Jahren so ausgesehen? Unglaublich. In Gedanken hörte ich das Klicken einer Kamera, malte mir aus, wie Helene für den Fotografen posierte, Anweisungen erhielt aufzusehen, die Pose zu wechseln, das Haar zu schütteln. Ich wollte das Foto näher betrachten und streckte gerade meine Finger nach dem Rahmen aus, als ich von unten eine Stimme hörte.

»Frau Abel?«

Es war Frau Beck.

Eilig hastete ich aus Helenes Zimmer und schloss leise die Tür hinter mir, als sie auch schon erneut nach mir rief.

»Frau Abel!«

»Ja?«, antwortete ich und trat aus dem Zwischenflur heraus. Ich schlenderte unauffällig zum Treppenabsatz und blickte in die Halle hinunter.

Frau Beck stand schon auf halber Höhe und als sie mich sah, runzelte sie die Stirn. »Haben Sie mich denn nicht rufen hören?«, fragte sie und in ihrer Stimme lag ein leicht verärgerter Unterton.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte ich und gab dann zu: »Ich wollte zu Frau Ockenfels, um sie zu fragen, ob sie etwas braucht, aber sie ist nicht in ihrem Zimmer.«

Die Brauen der Haushälterin hoben sich und die Überraschung stand ihr buchstäblich ins Gesicht geschrieben. »Oh«, sagte sie und ihre Stimme klang sanfter, als sie fortfuhr: »Nein, um diese Uhrzeit ist Frau Ockenfels im Wintergarten bei einer Tasse Tee.«

Langsam ging ich die Stufen zu ihr hinunter und als ich sie beinahe erreicht hatte, fragte ich: »Gibt es für Frau Ockenfels einen festen Tagesablauf?«

»Minutiös«, sagte die Haushälterin und verzog die Lippen. »Anderenfalls würde hier das bloße Chaos ausbrechen.« Frau Beck musterte mich geringschätzig. »Sie werden sich hier an einiges gewöhnen müssen.« Kopfschüttelnd fragte sie: »Warum tun Sie sich das an? Gab es keine andere Anstellung für Sie? Ich würde mir das gut überlegen, wenn ich Sie wäre.«

Verdutzt forschte ich in ihrem Gesicht. Sie war schließlich nicht die erste Person in Remagen, die mir nahelegte, von hier zu verschwinden. Ich hatte geglaubt, dass gerade sie froh wäre, jemanden zu haben, der ihr mit Frau Ockenfels half. Schließlich bestritt sie den Tag hier in der Villa bisher vollkommen allein, wenn Ilona Wilms in Hannover war. Wieder einmal fühlte ich mich abgelehnt, geradezu unwillkommen. Dass die alte Frau Ockenfels so reagierte, ja, das konnte ich halbwegs nachvollziehen. Aber Frau Beck? War ich in ihren Augen lediglich ein junges Küken? Traute sie mir schlicht den Umgang mit der alten Dame nicht zu?

Wortlos ging ich an ihr vorbei die letzten Stufen hinab und zog es vor, nicht auf ihre Bemerkung einzugehen. Ich sah darin keinen Sinn. Gedanklich versuchte ich mir vorzustellen, wie es wohl sein würde, mit Frau Beck gemeinsam unter diesem Dach zu leben. Die, gelinde gesagt, schwierige Helene Ockenfels, eine mir gegenüber ablehnend eingestellte Haushälterin und ich, die verängstigte kleine Maus aus dem Ruhrgebiet. Was für eine Kombination. Ich beruhigte mich schließlich mit dem Gedanken, dass niemand von mir verlangen konnte, Frau Beck zu mögen, sollte sie ihre Meinung über mich nicht ändern. Viel wichtiger war es für mich, die alte Helene zu überzeugen. Wenn ich vor ihr bestand, dann würde ich auch mit allem anderen fertig werden. Ich schnaubte bei diesem naiven Gedanken. Mit allem anderen … war das so? Ich hatte eine winzige Kleinigkeit verdrängt, die sich noch zu einem großen Problem auswachsen könnte. Entschlossen schüttelte ich den Kopf, um diesen Gedanken zu vertreiben. Alles zu seiner Zeit.

Winterloh. Bragolins düstere Legende

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