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Kapitel 11

Ilona hatte den Salon verlassen, und ich blieb mit meinen Gedanken und Zweifeln allein zurück. Mir war, als hätte sie mir eine zentnerschwere Last von den Schultern genommen. Ich fühlte mich leicht, sogar ein Stück weit beschwingt, und hundeelend zugleich. Auch wenn ich im Grunde sorgenfrei war, da sich Ilona um mich kümmern würde, plagte mich ein schlechtes Gewissen.

Ilonas Beteuerung, dass sie ohnehin bald eine Entscheidung hätte treffen müssen, lastete auf mir, da ich das Zünglein an der Waage war, das darüber entschied, welcher Zukunft Helene ausgesetzt sein würde.

Tausche mein Wohl gegen das einer alten Lady, dachte ich und kam mir umso schäbiger vor. Andererseits hatte Ilona natürlich Recht. Wäre Helene ein umgänglicher Mensch, könnte sie in ihrem Haus bleiben. Ilona wüsste sie rund um die Uhr versorgt und könnte zu ihrer Familie zurückkehren.

Mich tröstete der Gedanke, dass es unerheblich war, ob sie nun mich oder eine meiner Mitbewerberinnen eingestellt hätte. Es spielte keine Rolle. Helene war nun mal so, wie sie war. Es lag also nur bedingt an mir.

Langsam reifte in mir die Vorstellung, dieses Haus zu verlassen. Und das schon in wenigen Tagen. Bis spätestens Mitte nächster Woche, so hatte Ilona gesagt.

Aber wollte ich wirklich so schnell aufgeben? Sollte mein neues Leben genauso feige beginnen, wie ich mein altes beendet hatte? Einfach abhauen? Sollte das meine Dauerlösung werden?

Das Feuer im Kamin war beinahe völlig heruntergebrannt, daher nahm ich einen der Scheite aus dem Weidenkorb und legte ihn in die Flammen. Augenblicklich züngelten sie empor und leckten an dem trockenen Holz. Wenn ich nun kein Feigling wäre …, begann ich den Gedanken und beobachtete weiterhin die Flammen im Kamin. Wie könnte ich es anstellen, dass Helene mich respektiert? Sie muss mich schließlich nicht mögen, aber wenigstens akzeptieren. Wie könnte ich sie dazu bringen?

Ich müsste ein bisschen mehr wie meine Freundin Nadine sein. Sie besaß wesentlich mehr Überzeugungskraft als ich. Sie war diejenige gewesen, die den Anstoß zu meiner Flucht gegeben hatte, als sie mir die Stellenanzeige zugespielt hatte. Nadine hatte mir den Ausweg aus meiner persönlichen Hölle gezeigt. Sie hätte sicher auch keine Probleme damit, Helene zu bändigen. Was, so fragte ich mich, würde Nadine tun?

Die große Standuhr schlug gerade fünfzehn Uhr, als ich zur Couch schlenderte und mein nagelneues Mobiltelefon aus der Jeans zog. Noch während ich mich hinsetzte, wählte ich Nadines Nummer und lauschte auf das Freizeichen. Es verging beinahe eine ganze Minute, bis sie sich schließlich am anderen Ende der Leitung meldete.

»Hannah? Mensch, Hannah, Süße«, sagte sie und ihre Stimme klang besorgt. »Wir haben doch abgemacht, dass du nicht anrufen sollst.« Sie senkte ihre Stimme. »Du glaubst gar nicht, was hier los ist. Dennis sucht dich überall.«

Ich hörte Stimmengewirr im Hintergrund, also fragte ich: »Kannst du reden?«

»Ich bin gerade in der Stadt – warte mal kurz.«

Die Hintergrundgeräusche wurden leiser, dann hörte ich eine Tür ins Schloss fallen. Irgendwo rauschte Wasser. Dann folgte ein Knacken. Endlich meldete sich Nadine wieder. »So, wieder da. Bin mit Julia im Bastians auf ’nen Kaffee. Hab mich grad auf der Toilette eingeschlossen. Ich bin mir nie sicher, ob nicht Dennis irgendwo auftaucht. Der stalkt mich, weil er meint, ich wüsste, wo du bist.« Sie kicherte. »Weiß ich natürlich nicht! Aber jetzt sag, warum rufst du an? Ist alles in Ordnung bei dir?«

»Es ist so schön, deine Stimme zu hören«, sagte ich und meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich versuchte sie wegzublinzeln, atmete dagegen an.

»Oh je«, hörte ich Nadine, die offenbar am Zittern meiner Stimme gemerkt hatte, dass etwas nicht stimmte. »Hannah, ganz ruhig. Was ist passiert, Süße?«

»Ich … ich weiß einfach nicht, was ich tun soll«, begann ich stotternd und der Damm brach. Vornübergebeugt saß ich da. Die Anspannung seit meiner Ankunft bahnte sich ihren Weg hinaus und ich weinte. Leise nur, aber die Tränen rannen unaufhaltsam meine Wangen hinab und tropften mir auf den Schoß. Ich erzählte ihr von Haus Ockenfels, von Ilona, die sehr nett zu mir war, aber mich getäuscht hatte. Ich erzählte ihr von der alten Helene und ihrer Abneigung gegen mich. Meine Furcht, meine Zweifel, die Entscheidung, die ich nun treffen musste und von Ilonas Angebot. Nichts sparte ich aus und sie lauschte, ohne mich zu unterbrechen.

Als ich geendet hatte, weinte ich immer noch, aber irgendwie begann ich, mich besser zu fühlen, da nun alles heraus war. Wenn mich jemand verstand, dann Nadine.

Sie enttäuschte mich nicht. »Aber dann ist doch alles gut«, sagte sie. »Du musst nicht dableiben. Diese Frau Wilms kümmert sich um dich, richtig?«

»Ja«, gab ich zu.

»Aber du machst dir jetzt Vorwürfe.«

Auch das bejahte ich.

»Klar«, sagte sie. »Und diese alte Frau …«

»Helene.«

»Ok, diese Helene will dich nicht.«

»Nein. Aber ich weiß nicht, warum sie mich nicht mag.«

»Du, ganz ehrlich? Sie kennt dich nicht. Also kann das nicht an dir liegen. Vielleicht will sie, dass ihre Enkeltochter bei ihr bleibt. So ein Kontrollfreak, weißt du, was ich meine?«

»Aber sie weiß doch, dass Ilona ihre eigene Familie hat. Sie will zurück nach Hannover.«

»Eben, vielleicht fühlt sie sich von ihrer Familie im Stich gelassen. Sie will vielleicht, dass Ilona mit ihrer Familie umzieht und versucht nur, ihren Dickschädel durchzusetzen. So alte Leute sind immer ein bisschen … Naja, du hast selbst gesagt, sie soll starrsinnig sein.«

»Du meinst, deshalb verjagt sie die Pflegerinnen?«

»Kann sein. Ich weiß nicht. Frag sie doch einfach.«

Ich seufzte. »Das traue ich mich gar nicht. Abgesehen davon glaube ich nicht, dass sie mir antworten würde.«

Nadine schwieg eine Weile. Endlich sagte sie: »Hannah, weißt du noch, wie wir uns kennen gelernt haben?«

Ich erinnerte mich genau an den Tag, als die Sonne vom Himmel brannte und ich zum Parkplatz schlenderte, um nach der anstrengenden Arbeit im Altenheim nach Hause zu fahren. Nadine hatte bei offener Fahrertür im Auto gesessen und ihren Aschenbecher auf dem Schotter ausgeleert. Darüber war ich so wütend gewesen, dass ich sie damit konfrontiert hatte. »Aber das war in einem anderen Leben«, sagte ich. »Das ist so lange her.«

»Mag sein«, sagte sie. »Aber das bist du. Echt und geradeheraus. Du hast mir auf den Kopf zugesagt, was du davon hältst. Dass die Erde nicht mir allein gehört, sondern auch dir und allen anderen Menschen. Dass es eine Sauerei ist, dass es Leute wie mich gibt, die keine Achtung vor dem Eigentum aller haben, und wenn jeder den Planeten so verschmutzt, wir bald im Dreck ersticken würden. Ich sollte gefälligst meinen faulen Arsch hochkriegen und zum Mülleimer laufen.«

In meiner Erinnerung sah ich Nadines verdattertes Gesicht vor mir. Sie war sprachlos gewesen, weil ich sie derart in den Senkel gestellt hatte. Das hatte offenbar noch nie jemand vor mir gewagt. »So was könnte ich heute nicht mehr.«

»Doch, Hannah. Das bist immer noch du. Sag ehrlich, was hast du gefühlt, als die alte Helene dich herausgefordert hat? Gleich am ersten Abend. Das mit der Wette.«

»Du meinst, als sie mich so abfällig Fräulein Abel genannt hat und wetten wollte, dass ich meine Koffer packe?«

»Ja.«

Ich lauschte in mich hinein. Was hatte ich gefühlt? »Ärger«, sagte ich. »Ich wollte ihr widersprechen. Sie hat mich total gereizt.«

»Sieh an. Und du sagst, das kannst du nicht mehr?«

Irgendwo hatte sie Recht. Allerdings war das eine Situation gewesen, in der ich nicht darüber nachgedacht hatte, was ich tat. »Ich habe einfach reagiert.«

»Und genau das solltest du dir wieder angewöhnen. Jetzt, wo es eh egal ist. Du triffst die Entscheidung, ob du bleiben willst oder nicht. Also kann es dir doch schnuppe sein, was sie von dir hält. Wenn es nicht passt, nimmst du die andere Stelle an, die Ilona dir besorgen will. Wo ist das Risiko? Mal davon ab, was will die Alte dir denn schon antun?«

Stumm nickte ich. Nadine sah die Dinge so klar und einfach. Das waren sie auch. Für mich gab es kein Risiko mehr. Ich war frei. Endlich frei.

»Vielleicht hilft es dir, sie zum Reden zu bringen«, sagte sie unvermittelt.

Ich runzelte die Stirn. »Was meinst du damit?«

»Fällt mir nur gerade ein. Alte Leute reden gern über früher. Wenn das Eis erstmal gebrochen ist, könntest du versuchen sie zum Reden zu bringen. Lass sie von den guten alten Zeiten erzählen.«

»Dazu muss ich allerdings erstmal an sie rankommen«, sagte ich.

»… und wenn nicht, dann eben nicht«, fasste Nadine zusammen.

»Ja. Wenn nicht, dann eben nicht«, wiederholte ich. »Danke, Nadine.«

»Klar doch, Süße.«

»Ich lege dann jetzt auf«, begann ich, mich zu verabschieden, doch sie hielt mich auf und fragte: »Hast du schon einen Test gemacht?«

»Nein«, gab ich zu.

»Mach das, damit du dir sicher bist. Hilft nichts, das vor sich herzuschieben. Irgendwann weißt du es sowieso.«

»Eben«, wich ich aus.

»Hannah!«

»Ist gut«, sagte ich. »Ich werde einen machen.«

»Wann?«

»Bald.«

»Versprochen?«, hakte sie nach.

»Ja«, sagte ich und dachte bei mir, dass bald ein dehnbarer Begriff war. Nadine schien jedoch damit zufrieden und sagte nichts mehr dazu. Stattdessen gab sie mir noch eine Warnung mit.

»Ruf bitte nur im Notfall an, Hannah. Ich sagte ja schon, Dennis stalkt mich. Wenn du dich nicht meldest, weiß ich, dass es dir gut geht, ok?«

»Ok, Nadine. Ich vermisse dich so.«

»Ich dich auch, Süße, aber es ist besser so.«

Nach einigen Abschiedsworten beendete ich das Gespräch, sank in den Sitz zurück und richtete meinen Blick zur Zimmerdecke. Es hatte so gutgetan, mit Nadine zu reden. Vor allem war es ihr tatsächlich gelungen, mich wiederaufzurichten. Mir geht es gut, dachte ich. Im Grunde geht es mir doch wirklich gut.

Winterloh. Bragolins düstere Legende

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