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Kapitel 10

Pünktlich um dreizehn Uhr erschien ich zum Mittagessen. Frisch gewaschen und halbwegs vorzeigbar, soweit es die wenige Kleidung, die ich mitgebracht hatte, zuließ.

Die duftigen Vorhänge im Esszimmer gaben die große Fensterfront frei und man hatte einen atemberaubenden Ausblick. Die Sonne stand hoch am wolkenlosen Himmel. Sie ergoss sich über das verschneite Gebirge, welches sich über dem grauen Band des Rheins emporhob. Die Szenerie wirkte, als wäre sie einem Gemälde entsprungen.

Ilona saß bereits am Tisch und wies mir einen Platz ihr gegenüber zu. Die Sitzordnung hatte sich in Bezug zu unserem ersten gemeinsamen Abendessen nicht geändert. Eine Neuerung gab es jedoch. Es befand sich noch ein weiteres Gedeck auf dem Tisch und ich vermutete richtig, dass sich Frau Beck zu uns gesellen würde, nachdem sie das Essen aufgetragen hatte.

Wir aßen bei einem lockeren Gespräch über das Wetter und die Nachrichten. Frau Beck berichtete, dass am Vormittag ein Vertreter vorgesprochen habe, den Frau Wilms bitte zurückrufen möge und irgendetwas von einem Abonnement; ich fühlte einen leichten Kopfschmerz und war abgelenkt. Ilona stimmte dem zu und versprach, das Angebot zu sichten. Ich rieb mir leicht die Schläfe.

Ilona schien dies bemerkt zu haben, denn sie fragte: »Ist alles in Ordnung, Hannah? Du siehst etwas blass aus.«

»Oh, es ist nichts weiter. Leichte Kopfschmerzen«, gab ich zu.

»Wir haben sicher noch Tabletten im Medizinschrank«, sagte Ilona. »Frau Beck kann ihn dir gleich zeigen.«

»Ich nehme dagegen immer Vitamin C Kapseln. Das hilft sehr gut, aber die Packung, die ich mitgebracht habe, ist leer«, sagte ich.

Ilona registrierte meine Antwort mit einem Nicken. »Ich muss gleich noch in die Stadt, dann kann ich sie dir mitbringen, wenn du mir den Namen aufschreibst.«

»Danke, das ist nett.«

»Kein Problem«, sagte sie. »Hast du dich denn so weit einrichten können, Hannah?«

»Ja, danke. Das kleine Bad um die Ecke darf ich belegen?«

»Sicher. Es wird sonst von niemandem genutzt.«

Ich überlegte kurz, dann fragte ich: »Wenn ihre Großmutter gegen vierzehn Uhr ihren Mittagsschlaf hält, dann muss das Geschirr vorher abgeholt werden, richtig?«

Ilona schürzte die Lippen. »So haben wir das bisher immer gehandhabt und es hat sich bewährt. Wenn du diese Aufgabe übernehmen würdest …«

Ich nickte zustimmend.

»Da ich noch nach oben muss, bevor ich in die Stadt fahre, können wir gleich gemeinsam hochgehen, sobald ich meine Telefonate erledigt habe«, sagte sie. »So, wenn sonst nichts mehr anliegt …« Sie erhob sich.

Auch Frau Beck schob ihren Stuhl zurück und begann dann, den Tisch abzuräumen, und da ich ohnehin auf Frau Wilms warten musste, half ich ihr.

Für einen winzigen Augenblick schien sie irritiert zu sein, doch dann sah sie mich an und schenkte mir sogar ein dünnes Lächeln.

Kaum zwanzig Minuten später hing Frau Wilms immer noch am Telefon, doch sprach sie nun mit ihrer Familie und ich wollte sie auf keinen Fall dabei stören. Aus den wenigen Wortfetzen, die ich hörte, ging deutlich hervor, dass sie ihre Lieben sehr vermisste.

Ich hatte die Uhr im Blick und sah die Zeit voranschreiten. Der Entschluss war schnell gefasst. Das Geschirr konnte ich auch alleine abholen und nachfragen, ob die alte Dame noch etwas brauchte, ebenso. Obendrein könnte ich einen guten Eindruck hinterlassen, wenn ich Einsatz zeigte, also schrieb ich den Namen des Vitaminpräparats auf einen Zettel und ging dann hinauf ins Obergeschoss. Um zehn Minuten vor zwei stand ich vor Helenes Zimmertür und hob meine Hand, um zu klopfen. Noch bevor meine Fingerknöchel das Türblatt berührten, hörte ich die alte Dame rufen: »Kommen Sie schon rein!«

Meine Hand senkte sich auf den Türgriff, ich trat ein und sah mich um.

Helene saß am Sekretär und schob gerade einige Schriftstücke zur Seite. Ohne mich anzusehen, sagte sie: »Nehmen Sie den Fraß da weg. Was denken Sie sich eigentlich? Sie wissen, dass ich Blumenkohl hasse wie die Pest.«

Wortlos ging ich zu einem kleinen Beistelltisch und nahm das Silbertablett auf. Sie hatte ihre Mahlzeit kaum angerührt. Genau so, wie Ilona es prophezeit hatte. Allerdings schien es sich heute um einen guten Tag zu handeln, trotz des verhassten Kohls. Sie hatte lediglich ihre Serviette mitten in die Sauce getunkt und das Besteck so darauf drapiert, dass sie sich ordentlich vollgesogen hatte.

Bevor ich den Raum verließ, wandte ich mich in ihre Richtung und fragte: »Kann ich noch irgendetwas für Sie tun?«

Helene Ockenfels drehte sich behäbig auf ihrem Stuhl herum und starrte mich an. Die Überraschung stand ihr buchstäblich ins Gesicht geschrieben. »Ach so. Sie sind das, Fräulein Abel«, sagte sie.

»Für den Kohl kann ich nichts«, sagte ich schlicht.

Helene schnaubte. »Dann richten Sie der miesepetrigen Beck aus, sie soll das in Zukunft lassen.«

»Mach ich.«

Helene lachte auf. »Darauf wette ich«, ätzte sie. »Und?«, fragte sie und legte grinsend den Kopf schräg. »Wo ist mein Tee?«

Kopfschüttelnd sah ich sie an. Leichter Ärger begann in mir aufzukeimen, dennoch brachte ich keinen Ton heraus.

»Hat es Ihnen wieder einmal die Sprache verschlagen, Kind?«

»Sie sind so …«, ich seufzte.

»Na?«

»Nichts. Ich bringe dann das Tablett runter«, sagte ich nur und wandte mich ab.

»Mo-ment«, sagte sie gedehnt.

Langsam drehte ich mich zu ihr um. Bisher hatte ich mich ganz gut geschlagen, aber ihr Blick ging mir durch und durch. Meine Hände wurden feucht und ich rief mich still zur Ordnung. Du schaffst das. Hannah, du schaffst das.

»Stellen Sie das Tablett weg«, sagte sie im Befehlston.

Ich runzelte die Stirn. Dann tat ich, wie mir geheißen.

»Kommen Sie her.«

Ich stand wie angewurzelt. Was wollte sie von mir?

»Nun kommen Sie schon her«, wiederholte sie, hob die Hand und winkte mich mit dem Zeigefinger zu sich heran.

Zögernd trat ich näher.

Sie sah mir tief in die Augen und schien darin etwas zu suchen, dann streckte sie die Hände aus und umschloss mit ihren kühlen Fingern meine Handgelenke. Leicht nur, und doch drängend. Schließlich wisperte sie: »Wenn Sie sich vor mir fürchten, Kind, dann sind Sie hier falsch. Dieses Haus ist nichts für Feiglinge.«

Mir sträubten sich die Nackenhaare. Ich entriss ihr meine Hände, trat wenige Schritte zurück und starrte sie an. War das ein neuer Versuch, mich zu vertreiben? Ganz sicher.

Ihr Verhalten machte mir Angst. Und genau das wollte sie. Pure Absicht. Ich zögerte nicht länger, raffte so eilig das Tablett vom Tisch, dass das Geschirr darauf klirrte und floh aus dem Zimmer. Mit dem Fuß angelnd gab ich der Tür Schwung, sodass sie hinter mir klappernd ins Schloss fiel.

Kaum hatte ich den Raum verlassen, lehnte ich mich, immer noch mit dem Tablett in den Händen, rücklings an die Wand, schloss die Augen und zwang mich, tief durchzuatmen. Helene Ockenfels ist abgrundtief böse, dachte ich. Es braucht keinen Dennis, um mich zu quälen. Diese alte Frau erreicht das durch reine Manipulation. Ich schaffe das nicht. Ich habe gegen sie überhaupt keine Chance. Verzweiflung breitete sich in mir aus. Nicht die geringste Chance.

Dieser letzte Gedanke begann in mir zu kreisen. Er hallte noch in mir nach, als ich zur Küche hinunterging. Auch noch, als ich das schmutzige Geschirr in die Maschine geräumt hatte. Selbst, als ich kurz darauf Ilona Wilms im Salon vor dem Kamin stehen sah, hatte ich ihn immer noch nicht verscheucht, bis mich ein winziges Detail an der Szenerie ablenkte.

Auf dem Kaminsims sah ich eine geöffnete Whiskyflasche, der goldene Deckel lag daneben. Eine teure Sorte, wie ich mit einem Blick erkannte. Frau Wilms starrte in die Flammen, in der linken Hand ein dickwandiges Glas. Sie nahm einen Schluck. Sie musste mich gehört haben, denn als ich wenige Schritte nähertrat, wandte sie sich zu mir um.

»Hannah«, sagte sie mit kratziger Stimme.

Erschrocken erkannte ich, dass sie geweint hatte. Ihre Augen waren gerötet und eine Sorgenfalte furchte ihre Stirn. »Was ist passiert, Frau Wilms?«, fragte ich.

Ein leises Seufzen schlüpfte über ihre Lippen. »Familie«, sagte sie nur. Sinnierend sah sie in ihr Glas. »Du warst oben bei Helene?«, fragte sie schließlich.

Ich nickte.

»Ich habe gar nichts gehört …«, setzte sie an und stellte das Glas auf das Sims.

»Oh, sie hat mich bedroht, aber das Geschirr ist noch heil«, gab ich zur Antwort und augenblicklich wurde mir die Absurdität dieses Wortwechsels bewusst. Eine alte Dame terrorisiert das Haus und alle Anwesenden schleichen um sie herum in der Hoffnung, dass sie einen guten Tag hat.

»Was war es diesmal?«, fragte Ilona resigniert.

Freimütig gab ich den Wortlaut wieder.

»Hast du Angst vor ihr?«, fühlte sie mir auf den Zahn.

Diese direkte Frage überraschte mich. Spontan hätte ich einfach Ja gesagt, doch ich zögerte und genau dieser Umstand zwang mich dazu, mich wirklich mit dieser Frage auseinanderzusetzen. Habe ich tatsächlich Angst vor ihr?

»Ich sage es nur ungern, Hannah, aber wenn du Angst vor ihr hast, wird sie dir auf der Nase herumtanzen. In dieser Beziehung ist sie wie ein starrsinniges Kind.«

Der kreisende Gedanke kam mir erneut in den Sinn. Nicht die geringste Chance. Er erweiterte sich um: Von einer alten Dame in die Flucht geschlagen.

Da ich nicht antwortete, sagte Ilona: »Stell dich dieser Frage und entscheide dich bitte, ob du dich ihr gewachsen fühlst. Meine Umstände haben sich geändert und ich muss am Montag abreisen.«

»Familie«, sagte ich und verstand.

»Ja, Hannah. Ich habe dieses Jahr beinahe mehr Zeit hier in Remagen verbracht als bei meiner Familie in Hannover. Inzwischen sind es schon wieder sechs Wochen am Stück und mein Mann verliert langsam die Geduld. Ich kann seinen Ärger nachvollziehen und muss meinerseits endlich eine Entscheidung treffen. Ich habe das bereits viel zu lange hinausgezögert.« Ihre Hand wanderte zu der langen Kette, die sie um den Hals trug. Nachdenklich ließ sie die samtig schimmernden Perlen durch ihre Finger gleiten, dann ging sie langsam durch den Salon in den Wintergarten. Vor der breiten Fensterfront blieb sie stehen und blickte hinaus.

Ich war ihr gefolgt und stellte mich neben sie. Erneut bewunderte ich diese friedliche Idylle. Kaum vorstellbar, dass es zu all den Problemen gleichzeitig etwas so Schönes auf der Welt geben konnte.

»Es tut mir leid«, sagte Ilona schließlich. »Ich meine, dass ich dir nicht mehr Zeit geben kann, um dich der Situation anzupassen«, fügte sie hinzu. »Möchtest du …«, setzte sie an und ich spürte ihren Blick auf mir ruhen, »… du könntest mir erzählen, was dich bewegt«, fuhr sie fort. »Ich denke, dass du aus Verhältnissen kommst, die dir nicht gutgetan haben«, tastete sie sich vorsichtig heran. »Möchtest du mir davon erzählen?«

Sie hatte mich durchschaut. Sie wusste sicher nicht, wie nah sie der Wahrheit kam, aber ihre Vermutung, dass etwas mit mir nicht stimmen konnte, traf ins Schwarze. Ich horchte in mich hinein, wollte ich mich ihr anvertrauen? Wir kannten uns erst seit einem Tag und doch fühlte ich, dass sie es ehrlich mit mir meinte. Ilona Wilms war bereit, mir zu helfen, um sich selbst zu helfen. Schaler Hintergedanke, dachte ich, doch wenn ich es genauer betrachtete, zeugte dies von ausgesprochener Klugheit. Sie war gewillt, alles zu geben, um eine Lösung zu finden. Aber war das überhaupt möglich? Ich klopfte die Worte ab, die sich in meinen Gedanken zu formen begannen. Konnte ich es so sagen? Sollte ich mich gewählter ausdrücken, was würde sie von mir denken, welches Bild von mir würde ich vermitteln? Ich atmete tief durch und sagte schlicht: »Er hat mich geschlagen.«

Ein zischender Laut durchschnitt die Stille zwischen uns. »Wer?«

»Mein Mann, Dennis.«

»Du bist verheiratet?« Ihre Brauen hoben sich überrascht.

Ich nickte in der festen Überzeugung, dass mein Bedauern mir buchstäblich ins Gesicht geschrieben stand. »Er weiß nicht, wo ich bin und ich hoffe, dass er das auch niemals erfährt. Mein eigentlicher Name ist Hannah Finke. Abel ist mein Mädchenname.« Es war heraus, aber da gab es noch etwas anderes und ich zögerte. Schließlich setzte ich mit leiser Stimme hinzu: »Ich fürchte …, ich glaube … ich bin schwanger.«

Diese Offenbarung lag greifbar zwischen uns in der Luft. Sie sah mich an, musterte mich eingehend, und ich sah Mitgefühl in ihren Augen glimmen. Es verstrichen einige Sekunden, dann sagte sie schlicht: »Verstehe.«

Schweigend standen wir nebeneinander und sahen, wie die Wellen des Rheins ans gegenüberliegende Ufer schwappten. Ein Containerschiff kam in Sichtweite und es dauerte lange, bis es auf unserer Höhe war. Gemächlich schipperte es den Rhein abwärts.

Ich brach die Stille und sagte: »Es tut mir leid.«

»Muss es nicht«, sagte Ilona. »Per Gesetz darf ich dich zu diesem Thema vor einer Einstellung sowieso nicht befragen und nun habe ich dafür Sorge zu tragen, dass du keinen Gefahren ausgesetzt wirst.«

»Wenn ich nur wüsste, wie ich an Frau Ockenfels herankommen soll. Sie begegnet mir mit einer solchen Eiseskälte, dass ich schon das Gefühl habe, ich hätte zwischen Pest und Cholera gewählt …«, ich geriet ins Stocken. Flüsternd bat ich erneut um Entschuldigung.

Ilona winkte ab. »Ich hoffe, dir ist bewusst, dass du von ihr solcherlei Dinge nicht erwarten musst. Helene ist noch nie gegen eine Person handgreiflich geworden.« Kopfschüttelnd sprach sie weiter: »Mir tut es leid. Ich hätte von vornherein ehrlich zu dir sein sollen. Ich glaube, ich darf dich dem hier einfach nicht aussetzen. Du hast schon genug durchgemacht und unter diesen Umständen …«

»Sie verstehen nicht …«, setzte ich an. »Ich habe keine Familie, zu der ich gehen könnte. Und wenn ich wirklich schwanger bin, dann … Es gibt im Grunde keine Alternative für mich.«

Ilona schüttelte entschieden den Kopf. »Doch, Hannah. Die gibt es. Ich habe einige gute Kontakte.«

Ich sah sie von der Seite her an. In ihrem Gesicht stand eine Entschlossenheit, die eindeutig widerspiegelte, welch lösungsorientierter und starker Mensch sie war.

»Wenn Helene sich nicht fügt, muss ich die Konsequenzen ziehen. So ist das nun mal, auch wenn es mir nicht gefällt. Das kann aber nicht deine Sorge sein. Für dich finde ich etwas anderes.«

»Das würden Sie tun?«

»Kein Kunststück«, sagte sie. »Das kostet mich nur wenige Telefonate und dabei spielt es auch keine Rolle, ob du ein Kind erwartest oder nicht.«

Ich war sprachlos. Ilona Wilms war sofort bereit, sich auch noch um mich und meine Probleme zu kümmern, trotz ihrer eigenen Sorgen? Einem solch noblen Menschen war ich noch nie begegnet. Augenblicklich verspürte ich eine große Achtung vor ihr, sodass ich begann, mich für mein eigenes Unvermögen zu schämen. Hätte ich nicht auch so werden können? Wenn ich einen anderen Mann kennengelernt hätte, nicht auf Dennis hereingefallen wäre? Ich war einmal lebensbejahend, zuversichtlich und unabhängig gewesen. Wo war diese Person geblieben. Dieses, mein altes Ich. Irgendwo musste das doch noch zu finden sein. Tief unter meiner Furcht vergraben. Irgendwo.

Ilona Wilms wandte sich mir zu, legte ihre Hände auf meine Schultern und sah mir in die Augen. »Also, hör mir zu, Hannah. Heute ist Samstag. Da ich am Wochenende kaum jemanden erreichen kann, bleibt dir Zeit bis Montag, um dich zu entscheiden, ob du bleiben möchtest oder nicht.

Ab Montag kann ich meine Kontakte aktivieren und ich gehe jede Wette ein, dass ich bis spätestens Mitte nächster Woche für dich etwas anderes habe, sollte es nötig sein. Das regele ich von Hannover aus.

Ich möchte, dass du dich von jetzt an als mein Gast betrachtest. Dazu gehört auch, dass du mich mit meinem Vornamen ansprechen darfst, wenn du das möchtest. Du genießt hier alle Freiheiten, um zu deiner Entscheidung zu kommen. Wenn du dich dafür weiterhin mit Helene auseinandersetzen möchtest, dann kannst du das tun, musst es aber nicht. Vielleicht möchtest du ja auch erst einmal zur Ruhe kommen. Was immer dir hilft. Wir haben eine große Bibliothek, im Keller ist ein Pool, an Beschäftigung wird es dir sicher nicht mangeln.«

»Aber …«

»Kein Aber. Mir ist wichtig, dass die Zusammensetzung passt. Mir ist nicht geholfen, wenn du aus den falschen Beweggründen bleibst. Denn dann ist ein baldiges Ende abzusehen, und ich verbringe erneute sechs Wochen in Remagen.«

»Sie werden sie in ein Heim geben?«

»Ja, dann werde ich das. Ich hätte es längst tun sollen. Darum ging es in meinem Telefonat. Mein Mann ist ungehalten darüber, dass ich hier meine Zeit verschwende. Und nicht zum ersten Mal.« Sie schnaubte. »Einen erneuten, längeren Aufenthalt wird er nicht mehr tolerieren, fürchte ich. Auch wenn ich meine Großmutter liebe. Was hilft es. Ich gebe zu, ich habe mich da in etwas verrannt und damit muss jetzt Schluss sein.«

»Wenn sie in ein Heim muss, ist das meine Schuld … Nur weil ich …«

»Schluss jetzt.« Ihre Stimme klang schneidend. »Hannah, hör auf, dich ständig zu entschuldigen. Du bist nicht schuld. Es liegt an ihr, hörst du?« Sie rüttelte mich sanft an den Schultern. »Verstehst du nicht? Zieh dir nicht jeden Schuh an. Sollte Helene in ein Heim müssen, hat sie sich das selbst zuzuschreiben. Hättest du nicht angerufen und nach der Stelle gefragt, wäre der Vertrag schon längst unterschrieben. Die Unterlagen für das Heim liegen schon seit Wochen in meinem Zimmer.«

»Aber ich war doch nicht ehrlich zu Ihnen.«

Sie hob die Brauen. »Mein Name ist Ilona.«

Kurz aus dem Konzept gebracht, sagte ich: »Ja, gut. Dann war ich nicht ehrlich zu dir, Ilona.«

Sie nickte. »Mag sein. Das war ich allerdings auch nicht. Ich war schlicht naiv zu glauben, du seiest von Natur aus ein sehr beherrschter, stiller Mensch. Mir hätte klar sein müssen, dass etwas im Busch ist, als mir bewusst wurde, wie unterwürfig du bist, statt mich darüber zu freuen und zu hoffen, dass diese Eigenschaft Helene beeindrucken würde. Ich war schlicht blind für deine Situation.«

Hätte ich mich ärgern sollen? War ich wirklich derart unterwürfig? Ich fühlte einen unangenehmen Kloß im Magen.

»Hannah. Ich habe das Bedürfnis, Wiedergutmachung zu leisten, weil ich in meiner Selbstsucht meine Empathie verloren habe und das verzeihe ich mir so schnell nicht.«

Winterloh. Bragolins düstere Legende

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