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Kapitel 15

Carla hatte am Hafen gespielt und Muscheln gesammelt, als der deutsche Frachter in Sicht gekommen war. Sie liebte es zuzusehen, wie ein Schiff in den Hafen fuhr und von den Möwen umkreist wurde. Sie riefen so laut, dass es wirkte, als wollten sie die Neuankömmlinge schon von Weitem ankündigen. Carla fand, dass die Goldenfels eines der schönsten Schiffe war, das regelmäßig hier im Hafen einlief. Sie beobachtete, wie sich der Frachter näherte und das betriebsame Treiben an Bord, als sie vom Schlepper in Empfang genommen und schließlich in den Hafen gebracht wurde. Erst als die Goldenfels fest vertäut vor Anker lag, machte sie sich auf den Heimweg.

Kaum eine Stunde später saß Carla am Esstisch und spielte mit den Muscheln, die sie gesammelt hatte. Es waren sehr schöne dabei. Besonders stolz war sie auf die braune. Sie sah aus wie eine Schnecke mit spitzen Zacken auf dem Haus. In ihrem Spiel war diese die Königin, die über alle anderen regierte.

Als die Tür in den Angeln knarrte, sah sie auf. »Papá, sieh nur, was ich gefunden habe!«, rief sie und sprang auf. Der Tisch wackelte und eine der Muscheln geriet ins Kullern.

Papá trat herein und lächelte matt. Er sah müde aus.

»Cocco?«, drang eine Stimme aus dem Nebenraum.

»Ja«, brummte er.

Mamá kam mit Piedro an der Hand aus dem Schlafzimmer.

Die Muschel fiel klickernd auf den Boden. Carla bückte sich und hob sie auf.

»Carla, lass deinen Bruder bitte mitspielen«, sagte Mamá, setzte Piedro auf einen Stuhl und verschwand mit Papá nach nebenan. Der schmutzig graue Vorhang wurde gelöst und fiel vor den Durchgang.

Carla konnte hören, wie sie auf Papá einredete. Auch wenn sie nicht schrie, Mamá klang sehr aufgeregt. Carla konnte sich nur nicht vorstellen, was er getan haben mochte. Als sie sich zu Piedro an den Tisch setzte, spitzte sie die Ohren.

»Ich will die haben«, gängelte der Kleine und zeigte mit seinem Finger auf die Königin.

»Nein. Du kannst mit der hier spielen«, sagte Carla und rollte ihm die Muschel entgegen, die sie vor wenigen Augenblicken vom Fußboden aufgelesen hatte. Sofort begann Piedro zu jammern.

»Scchhht«, zischte Carla und legte den Finger an die Lippen.

»Ich will die aber!«, rief er und stellte sich auf den Stuhl.

»Setz dich hin. Du fällst sonst runter!«

Piedro kümmerte sich nicht um ihre Warnung und beugte sich über den Tisch, um die Königin zu erreichen.

Carla kam ihm zuvor, langte nach der Muschel und schloss sie in ihrer Faust ein.

Piedro brüllte.

Der Vorhang wurde zur Seite geschoben, und Mamá kam zurück. »Hatte ich dich nicht gebeten, mit ihm zu spielen?«, fragte sie und dirigierte Piedro zurück auf den Stuhl.

»Ich will die Muschel«, sagte er und zeigte auf ihre Hand.

»Gib sie ihm. Du bekommst sie doch zurück.«

Carla sah, dass Mamá geweint hatte. Es war ungerecht, aber sie widersprach nicht und überließ Piedro die Königin.

Schlagartig hörte er zu jammern auf und begann, sie zu untersuchen.

»Das ist lieb von dir. Jetzt kümmere dich etwas um ihn, ich bin bald zurück.« Mamá beugte sich zu ihr herunter und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Nachdem sie sich aufgerichtet hatte, strich sie Piedro über den Kopf, der so in sein Spiel vertieft war, dass er nicht darauf reagierte. Den dünnen Mantel rasch übergezogen, einen kurzen Blick zurück zum Tisch, dann vergrub sie die Hände in den Taschen. Sie zog ein Schnupftuch hervor und steckte es sogleich wieder ein.

Carla sah, wie Mamás weiße Finger zitterten, als sie sich kurz über die Haare fuhr und die Nadel feststeckte. »Bis gleich«, sagte sie, dann verließ sie die Wohnung und schloss hinter sich die Tür.

Die Stille war unheimlich. War Papá eingeschlafen? Sie dachte daran, aufzustehen und nach ihm zu sehen, da schlurfte er ins Zimmer und öffnete das Schränkchen, dessen Farbe längst abgeblättert war. Er ging davor in die Hocke und schwankte gefährlich, als würde er gleich umfallen.

Carla sprang auf und eilte zu ihm, doch er hatte sich bereits auf den Fußboden gesetzt. In der Hand hielt er das Geldkästchen, klappte es auf und sah hinein.

Sein Gesicht war wie versteinert. Ein leises Fluchen schlüpfte über seine Lippen, dann nahm er ein kleines Samtsäckchen heraus und wog es für einige Sekunden in der flachen Hand. Er steckte es in seine Hosentasche, schloss den Deckel der Kassette und stellte sie zurück. Mit zitternden Fingern rieb er sich die Schläfen.

»Papá, geht es dir gut?« Carla legte ihre Hand auf seine Schulter. Sein Hemd roch nach süßlichem Schweiß.

Offenbar hatten sie Piedros Aufmerksamkeit erregt, denn er war vom Stuhl gerutscht, schlang die Arme von hinten um den Hals seines Vaters und schmiegte sich an dessen Rücken. Papá öffnete die Augen, umschloss sanft die Arme des Kleinen und löste sie. Er zog ihn um sich herum und setzte Piedro auf seinen Schoß. Er sah ihn an, dann wandte er sich an Carla. »Ihr kennt doch Signore Giovanni?«

Carla nickte eifrig.

»Wir könnten ihn besuchen gehen …«

»Kommt Mamá auch mit?«, fragte Piedro.

»Dummerchen«, sagte Carla. »Sie ist doch gar nicht da.«

»Aber Mamá kommt gleich«, merkte er an.

»Ja, kann sein«, fiel Papá ein. »Aber es könnte noch dauern, bis sie zurück ist. Wir könnten zu Signore Giovanni gehen und uns seine Bilder ansehen. Onkel Marco hat gesagt, dass er immer Kinder sucht. Vielleicht hat er Lust, euch zu malen.«

»Oh ja. Das wäre toll!«, rief Carla.

»Dann los. Besuchen wir ihn.« Er rappelte sich hoch und holte die Jacken. Eine reichte er ihr, dann beugte er sich zu Piedro herunter, half ihm hineinzuschlüpfen und schloss die Knöpfe. Carla beobachtete ihn und sah, dass ihm das Schließen der Knöpfe schwerfiel. Seine Bewegungen wirkten fahrig.

»Ich kann das alleine«, protestierte Piedro und wollte sich abwenden, doch Papá gab nicht nach. Am Ende ließ er den letzten Knopf geöffnet, da er kein dazu passendes Gegenstück fand. Er reichte Piedro die Hand.

Gerade als sie die Wohnung verlassen wollten, sah Carla, dass Piedro die Königinnenmuschel fortgelegt hatte, schnappte sie sich und ließ sie in ihre Jackentasche gleiten.

Das Pflaster des Campo de Gheto Novo glänzte nass. Dichte Wolken hingen am Himmel und kündigten erneuten Regen an. Carla fröstelte und steckte die Hände in die Taschen. Sie folgte Papá und Piedro über die schmale Brücke, die Gheto mit San Leonardo verband. Sie hatte sich nicht vorgestellt, dass der Weg so weit sein würde. Sie liefen quer durch die Stadt und leichter Nieselregen setzte ein. Als sie schon fragen wollte, wann sie endlich da wären, traten sie in eine enge Salizada und Papá blieb vor einem schmalen Haus stehen.

Hier musste Signore Giovanni wohnen, dachte Carla, denn in einem kleinen Ausstellungsfenster hingen drei hübsche Gemälde, die allesamt Landschaften zeigten.

Sie beobachtete, wie Papá die wenigen Stufen zum Eingang hinaufging und klopfte. Er sah sich nach ihr um und lächelte matt, als auch schon geöffnet wurde.

Signore Giovanni war ein dürrer Mann mit wuscheligen, schwarzen Haaren. Die Augen sahen durch eine runde Brille und wollten nicht so recht zur Größe seines Gesichts passen. Als Papá ihn begrüßte, streckte der Maler ihnen eine farbbekleckste Hand entgegen und bat sie herein.

Sie gingen in die erste Etage hinauf und fanden sich in einem lichtdurchfluteten Atelier wieder. Der schwere Geruch von verschiedenen Farben und Lacken hing in der Luft.

Carla wanderte durch den großen Raum, betrachtete die Leinwände und gefüllten Farbtöpfe. Keines der Bilder war fertig und sie hatte das Gefühl, als wäre der Maler mit seiner Arbeit nicht zufrieden gewesen. Die Bilder waren in mühevoller Kleinarbeit angefangen worden, aber schon nach kürzester Zeit hatte der Mann sie mit fettem Schwarz übermalt.

Als Piedro mit einem Pinsel, den er irgendwo gefunden haben musste, auf einem Skizzenblock rumkrakelte, wandte sie sich um und sah, wie sich Papá mit Signore Giovanni leise unterhielt.

Papá wirkte aufgeregt und Carla lauschte. Sie verstand, dass es irgendwie um Geld gehen musste. Die Männer schienen um etwas zu feilschen.

Aus purer Neugierde wandte Carla sich unauffällig einer Staffelei zu, die in der Nähe der beiden stand, und spitzte die Ohren.

Der Signore sagte, dass sie zu alt sei.

»Ich habe Fatone ausdrücklich gesagt, dass ich nur Kinder im Alter von vier oder fünf Jahren malen will. Sie haben niedliche Gesichter. Das lässt sich besser verkaufen. Aber Ihre Tochter ist älter.«

»Sie ist noch keine sieben«, entrüstete sich Papá.

Carla fragte sich, warum er log.

Der Mann blickte sich um und sah sie an der Staffelei stehen. Augenblicklich ging er in den Flur und Papá folgte ihm. Was immer sie nun verabredeten, Carla konnte nicht mehr lauschen. Sie entschied sich dafür, sich um Piedro zu kümmern. Die vielen bunten Farben reizten auch sie.

Als der Signore und Papá zurückkehrten, schienen beide zufrieden zu sein. Papá lächelte sogar und zwinkerte ihr fröhlich zu.

»Wenn Sie möchten, kann ich Sie schon im Voraus bezahlen. Sie haben doch sicher noch Dinge zu erledigen. Sie können die Kinder später abholen«, sagte der Signore, trat an eine Kommode heran und öffnete eine Lade. Er kramte ein Ledersäckchen hervor, dessen Inhalt klimperte.

Papá sah überrascht aus, denn seine Brauen schnellten in die Höhe. »Das ist sehr freundlich«, sagte er. »Ich habe tatsächlich noch einige Besorgungen zu erledigen.«

Der Signore reichte ihm das Geld und zog unwirsch die Hände zurück. Einen Augenblick herrschte betretenes Schweigen, doch dann sagte er unvermittelt: »Hören Sie, Signore, wäre es vielleicht sogar machbar, dass die Kinder die nächsten Tage hier verbringen könnten?«

Als Papá nicht antwortete, fuhr er fort: »Es sind wertvolle Arbeitsstunden, die mir verloren gehen, wenn Sie die Kinder nur für ein paar Stunden bringen und wenn sie sich bei dem Wetter erkälten …« Er ließ die Worte in der Luft schweben, dann fügte er hinzu: »Meine Frau würde sich sicher ebenso freuen.«

Papá sah den Mann an, dann wechselte sein Blick zwischen Carla und Piedro hin und her.

»Das würde schon gehen«, sagte er zögernd. »Aber sie haben keinerlei Kleidung hier.«

Carla fühlte sich nicht recht wohl mit dem Gedanken, bei diesen Leuten zu bleiben, die sie nur flüchtig kannte. »Wir werden bestimmt nicht krank«, meldete sie sich zu Wort, doch Papá

achtete nicht auf sie.

»Meine Frau ist auf dem Markt und geht ihren Einkäufen nach, aber ich weiß, auch ohne sie zu fragen, dass wir noch Kleidung von meiner Nichte hier haben. Ich denke nicht, dass Ihr Sohn etwas gegen ein Nachthemd einzuwenden hat, dass von einem Mädchen stammt?«

»Nein«, sagte Papá. »Sicher nicht.« Sein Blick fiel auf das Geldsäckchen in seiner Hand. »Also gut«, fällte er seine Entscheidung. »Aber ich werde regelmäßig nach ihnen sehen.«

»Was Ihr gutes Recht ist«, sagte der Signore und wandte sich ab, um die Lade zu schließen.

Papá strich Carla über den Kopf und sagte: »Du wirst auf deinen Bruder achten und zusehen, dass ihr euch beide gut benehmt, ja?«

»Aber was ist mit Mamá? Wird sie sich nicht Sorgen machen?«, fragte sie zweifelnd.

»Ich werde es ihr erklären. Der Signore wird euch malen und bezahlt für dieses Vorrecht gutes Geld. Onkel Marco hat ihn empfohlen. Ich hätte schon längst mit euch hierher gehen sollen.«

Carla hörte, was er sagte und begann sich zu fragen, ob er wirklich wusste, was er tat. Sie hatte mit einem Mal ein ungutes Gefühl, mit dem Signore allein zu sein. »Bitte Papá«, flehte sie. »Ich möchte nicht hierbleiben. Du kannst doch bei uns sein und dann gehen wir nachher zusammen nach Hause.«

»Sieh mal«, sagte Papá und ging vor ihr in die Hocke. »Der Signore hat schon Recht, wenn er sagt es wäre unnütz, jeden Tag hierher zu kommen. Es ist ein weiter Fußweg und wenn ihr wegen dem Wetter krank werdet, kann er euch nicht malen …«

»Aber …«, setzte sie an, doch er unterbrach sie.

»Jetzt stell dich nicht so an. Und wenn er fragt, wie alt du bist – du bist noch sechs«, raunte er.

An den Signore gewandt, sagte er laut: »Gut, dann werde ich mich jetzt auf den Weg machen und wünsche Ihnen eine wohlgesonnene Muse.«

Der Signore nickte und begleitete ihn einige Schritte auf dem Weg die Treppe hinunter.

Carla blieb kaum Zeit, sich darüber zu wundern, wie aus einem einfachen Besuch ein Aufenthalt für mehrere Tage werden konnte, als der Signore auch schon umkehrte.

»Wann kommt denn Ihre Frau?«, fragte sie, während sie hörte, wie unten die Haustüre geschlossen wurde.

Der Mann antwortete nicht, sondern sah sie nur an. In seinen Augen glaubte Carla einen Hauch von Mitleid zu erkennen. Seine Mundwinkel zuckten und breiteten sich schließlich zu einem schiefen Lächeln.

Winterloh. Bragolins düstere Legende

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