Читать книгу Winterloh. Bragolins düstere Legende - Danise Juno - Страница 16
ОглавлениеKapitel 12
Bochum, 2008
Mit dem Smartphone in der Hand saß Nadine auf dem heruntergeklappten Toilettendeckel und dachte darüber nach, was Hannah ihr vor wenigen Augenblicken alles erzählt hatte. Sie konnte sich gut vorstellen, wie Hannah sich gerade fühlen musste. Allein in einer unbekannten Stadt, in einem fremden Haus, unter Menschen, die keine Vorstellung davon hatten, was sie alles hatte durchmachen müssen. Immerhin hatte sie dieser Ilona Wilms inzwischen gesagt, dass sie eventuell schwanger sein könnte.
Clever, dachte Nadine. Die Frau hat die Schärfe aus der Situation genommen. Ich hoffe, dass Hannah ihre Chance nutzt. Wer weiß, wo sie sonst hinkommt und ob das dann unbedingt besser für sie ist …?
Fest davon überzeugt, dass Hannah nur etwas Zeit brauchen würde, um wieder zu sich selbst zu finden, steckte sie ihr Telefon zurück in ihre Tasche.
Hannah war immer schon die Stärkere und Klügere von beiden gewesen. Das war auch der Grund, warum sie im Grunde immer zu ihrer Freundin aufgeschaut hatte. Bis Dennis aufgetaucht war. Der sportliche, große Mann mit den blonden Haaren, die immer modisch gestylt waren, und diesen kalten blauen Augen, deren Blick ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Sein souveränes Auftreten und seine Eloquenz imponierten Hannah sofort. Ab diesem Zeitpunkt war alles anders geworden. Schleichend, aber sie hatte es bemerkt und Hannah des Öfteren darauf angesprochen. Warum sie Dennis um Erlaubnis bat, wenn sie sich allein verabreden wollte. Warum sie ständig darüber nachdachte, was Dennis davon halten könnte, wenn sie mit ihr zusammen in eine Bar ging, oder gar einen Cocktail trank. Hannah begann auf ihre Kleidung besonderen Wert zu legen, immer mit dem Hintergedanken, Dennis könnte sie jederzeit sehen. Und das war auch so. Dennis tauchte ständig irgendwo auf und ließ sie im Grunde nie wirklich unbewacht. Er wusste immer, wo Hannah war und mit wem. Sie hatte sich zwischendurch zu melden und wehe, sie war nicht pünktlich daheim.
Das wurde fortlaufend schlimmer, bis Nadine schließlich den Eindruck hatte, Hannah sei Dennis hörig.
Ihre Freundin sah das alles nicht. Sie betonte immer, das sei nicht wahr, doch Nadine wusste es besser.
Und dann war der Zeitpunkt erreicht, da Hannah sich gar nicht mehr bei ihr meldete. Auf ihr Nachfragen hin trafen sie sich heimlich in einem Park und dort gestand Hannah ihr, dass Dennis ihre Freundschaft nicht für gut befand. Unheilige Verbindung hatte er gesagt, und Nadine fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen.
Sie wusste noch genau, wie bitter sie hatte lachen müssen, als sie das Gespräch beendet hatten und sie Hannah allein und freudlos über den kleinen Weg zwischen den Bäumen hindurch davongehen sah. Natürlich wollte Dennis nicht mehr, dass sie sich trafen. Er hatte Hannah da, wo er sie haben wollte. In völliger Abhängigkeit, ohne Job, zu seiner ständigen Verfügung und Nadine war die unbequeme Freundin, die Hannah hätte wachrütteln können. Doch dazu kam es nun sicher nicht mehr.
Hannah hatte sich ihr Gefängnis selbst gewählt. Das war der Zeitpunkt, an dem Nadine sich vorgenommen hatte, Abstand zu halten. Aber dennoch für sie da zu sein, sollte Hannah sich plötzlich bewusst werden, was mit ihr geschehen war. Leicht war ihr die Entscheidung nicht gefallen, aber ändern konnte sie die Situation ohnehin nicht. Sie behielt Hannahs Nummer im Handy gespeichert und wartete. Wartete auf den Tag, da sich ihre Freundin melden würde. Irgendwann.
Jahre vergingen und sie hatte aus verschiedenen Quellen gehört, dass es Hannah nicht gut ging. Sie sei mit einem veilchenblauen Auge gesehen worden, dass sie notdürftig hinter Make-up und einer großen Sonnenbrille zu verstecken versucht hatte. Ein anderes Mal habe es angeblich einen Streit in der Öffentlichkeit gegeben, bei dem Dennis sie schließlich unsanft in sein Auto verfrachtet hatte und wutentbrannt davongebraust war. Danach sah man sie gar nicht mehr in der Stadt.
Als schließlich der Anruf bei ihr eingegangen war, auf den sie so lange gewartet hatte, war sie erschrocken darüber, wie ängstlich Hannah klang. An der Art, wie sie sprach, erkannte Nadine sofort, wie klein Dennis sie gemacht hatte. Hannah sprach mit betont sanfter, leiser Stimme und wählte jedes Wort mit Bedacht. Sie vermutete, dass Hannah weinte, da ab und an ein unterschwelliges Zittern in ihrer Stimme zu hören war, aber sie weinte beinahe lautlos. An diesem Abend war Dennis ausgegangen, mit einer Freundin, wie Hannah sagte. Sie klang vollkommen verzweifelt, als sie schließlich flehte: Nadine, hilf mir. Ich glaube, ich bin schwanger. Ich halte es bei diesem Mann nicht mehr aus.
Musste erst eine Schwangerschaft eintreten, bis Hannah Vernunft annahm? Offenbar ja, denn erst in dieser Situation wurde ihr bewusst, wie schlimm es um sie in dieser toxischen Beziehung stand.
Nadine hatte keine Sekunde gezögert und Hannah versprochen zu helfen. So fügte sich alles. Sie hatte die Anzeige der Familie in Remagen gefunden und Hannah davon überzeugt, dass dies der perfekte Fluchtweg wäre. Weit entfernt von Dennis und dessen Zugriff. Dass Hannah nun solche Schwierigkeiten hatte, sich dort einzuleben, tat Nadine sehr leid. Hatte sie Hannah etwa doch falsch beraten?
Entschieden schüttelte sie den Kopf. Nein, Hannah würde das schaffen, zumal diese Frau Wilms ihr diesen Ausweg bot. Sobald Hannah wirklich bewusst wurde, dass sie keine Rücksicht mehr auf irgendwen nehmen musste, dass es egal war, wie sie sich benahm, dass sie frei war, zu sagen und zu tun, was sie wollte, dann würde sie es schaffen. Und genau das hatte Nadine versucht, ihrer Freundin am Telefon klar zu machen. Sie hoffte inständig, zu ihr durchgedrungen zu sein. Zumindest hatte es so geklungen, als habe Hannah sie verstanden.
Als Nadine die Toilettenkabine verließ, war sie guter Dinge. Auch wenn es sie schmerzte, sie hoffte, dass sie nun lange Zeit nichts mehr von Hannah hören würde, denn dann brauchte sie sich nicht um sie zu sorgen. Nicht melden bedeutet, es geht ihr gut, dachte sie an die Verabredung, die sie getroffen hatten und wusch sich die Hände. Danach sah sie in den Spiegel und sagte leise: »Hannah, ich denke an dich. Du schaffst das.«
Sie verließ die Damentoilette und ging den kleinen Gang entlang Richtung Gastraum. Es war nur ein Schatten am Rande ihres Blickfeldes, der sie auf der Stelle alarmierte.
Dennis trat aus der Nische heraus und verstellte ihr den Weg.
»Nadine, du kleine Schlampe, hier treibst du dich also herum«, sagte er, dann kniff er die Lippen zusammen.
»Hau ab, Dennis!«
»Aber sicher, sobald du mir gesagt hast, wo sie ist.«
»Vergiss es.« Sie versuchte sich an ihm vorbei zu drücken, doch er trat den Schritt nach rechts und versperrte den Weg.
Mit taxierendem Blick sah er zu ihr herunter.
Nadine wich aus und versuchte es auf der anderen Seite. »Wenn du mich nicht sofort durchlässt, schreie ich!«
Er schnaubte belustigt und lehnte sich nun links gegen die Wand.
Erneut versuchte sie ihm auszuweichen.
Mit der freien Hand griff er nach ihrem Arm und drängte sie zurück, bis sie mit dem Rücken an die Wand gedrückt stand und keine Möglichkeit mehr hatte, zu entkommen. Er schob sein Gesicht ganz nah an sie heran, sodass sie seinen Atem auf der Haut spüren konnte. Er duftete nach Pfefferminz, die perlweißen Zähne ebenmäßig, beinahe zu perfekt, unglaublich blaue Augen in einem ovalen Gesicht, aus dem die blanke Wut zu lesen war.
»Lass mich los, Arschloch!«
Er grinste nur und begann sie abzutasten.
»Hil…hmmm…«
»Glaubst du wirklich, ich werde nicht mit dir fertig?«, zischte er, die Hand auf ihren Mund gepresst, sah sich hastig um, packte sie, schob sie vor sich her zurück in die Damentoilette. Die Tür schloss sich quietschend hinter ihnen. Mit einem satten Schnappen rastete sie ins Schloss ein. Er drängte Nadine in die enge Kabine, ließ die Hand von ihrem Mund sinken. Fixiert durch seinen Unterarm, den er ihr quer auf die Brust drückte, konnte sie sich nicht rühren. Er lehnte derart gegen sie, dass ihr beinahe die Luft wegblieb.
»Hilfe!«, rief sie matt. Zu mehr reichte es nicht.
Dennis lachte. »Hier drin hört dich eh keiner«, knurrte er und nestelte ihr Handy aus der Jeanstasche.
»Was haben wir denn da. Das brauchst du bestimmt nicht.« Er steckte es ein. »Was noch?« Dennis fuhr mit seinen Fingern in sämtliche Taschen, fand aber nichts weiter. Er verengte die Augen zu Schlitzen. »Emanzen wie dich sollte man ordentlich verdreschen …«
Nadines Augen wurden groß. Als sich seine Lippen den ihren näherten, drehte sie schnell den Kopf zur Seite, fühlte seinen Atem in ihrem Ohr, als er raunte: »… und anschließend mal richtig durchnehmen, damit ihr wisst, wo euer Platz ist.«
Er schnalzte mit der Zunge, dann schlug er zu. Einmal, zweimal. Nadine ging zu Boden. Bei dem letzten Schlag sah sie Sterne. Dann sackte sie zusammen.