Читать книгу Winterloh. Bragolins düstere Legende - Danise Juno - Страница 6
ОглавлениеKapitel 2
Stille senkte sich über das Haus. Ich hörte ein leises, klapperndes Geräusch, dann Schritte, die sich näherten.
Er ist nicht hier!
Eine Tür wurde geschlossen. Allmählich wurde mir bewusst, dass mir keine Gefahr drohte. Ich war in Haus Ockenfels. Remagen. Woher sollte er das wissen? Und doch, Dennis war allgegenwärtig. Ich war vierundzwanzig Jahre alt und bekam das ganze Ausmaß seines zerstörerischen Werks zu spüren. Er hatte ein nervliches Wrack hinterlassen. Ich war zu einem Feigling geworden; zu einem unselbstständigen, ängstlichen Kind.
Ich atmete einmal tief durch, ballte die Hände zu Fäusten und flüsterte mir selbst Mut zu: »Reiß dich zusammen. Du schaffst das. Nichts kann so schlimm sein wie ein Leben mit ihm.« Mit Nachdruck wiederholte ich meine Worte: »Nichts kann so schlimm sein!«
Ich gab mir selbst einen Ruck und kam auf die Füße. Ich öffnete die Reisetasche und ärgerte mich über meine zitternden Finger. Fahrig packte ich meine Wäsche in den Kleiderschrank, stellte meinen Kulturbeutel auf das Nachtschränkchen und versuchte anschließend die Reisetasche in den Schrank zu quetschen. Das war leichter gesagt, als getan. Im untersten Fach lagen Handtücher, zwei Wolldecken und ein ungenutztes Federbett. Wie ich es auch anstellte, meine Tasche passte einfach nicht mehr hinein. Ich schnaubte unwillig und ließ meinen Blick durch das Zimmer schweifen. Endlich hatte ich einen Einfall, ging auf die Knie und warf einen Blick unter das Bett. Genügend Platz für das olle Ding, dachte ich und schob sie kurzerhand darunter.
Inzwischen war es an der Zeit, mich meiner feuchten Klamotten zu entledigen und mich für das Abendessen umzuziehen. Meine Wahl fiel auf eine ausgeblichene schwarze Jeans und einen cremefarbenen Pulli.
Ich beäugte mich kritisch im Spiegel, der an der Innenseite der Schranktür befestigt war. Ich zwickte mir in die Wangen, um die Blässe zu vertreiben. Jetzt sah ich wenigstens nicht mehr ganz so mitgenommen aus. Dennoch, es war, als stünde mir der Schrecken immer noch ins Gesicht geschrieben. Meine wirren Locken täuschten auch nicht darüber hinweg. Zu allem Überfluss überfielen mich leichte Kopfschmerzen, die ich für gewöhnlich mit Vitamin C Tabletten bekämpfte, doch die Packung war leer. Es half nichts, ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich hinuntergehen musste. Ich sah den Zipfel eines Halstuchs, das unter den Socken hervorlugte. Beherzt zog ich es hervor und legte es mir um. Dann fuhr ich mir mit den Händen durchs Haar und versuchte, es ein wenig zu richten.
Den Rücken gestrafft, stand ich vor dem Spiegel. Das bunte Tuch brüllte mir eine Fröhlichkeit entgegen, die so gar nicht zu meiner Stimmung passen wollte. Dennoch versuchte ich ein Lächeln, griff in meine Schminktasche und tupfte etwas Abdeckstift unter die Augen. Es würde schon gehen. Es musste einfach.
Frau Beck erwartete mich bereits in der Halle. Sie führte mich durch einen langgezogenen Flur, der an einer üppig verzierten Flügeltür endete. Ich folgte ihr hindurch. Vor mir öffnete sich ein prachtvoller Saal mit jeweils zwei Säulen rechts und links. In dessen Mitte stand eine Tafel, flankiert von acht Stühlen und zwei weiteren an Kopf- und Fußseite.
Frau Wilms stand an einem der vier bodentiefen Fenster, die auf den Rhein gerichtet waren, wandte sich bei unserem Eintreten um und musterte mich abschätzend. In ihren Augen lag ein Ausdruck, den ich nicht deuten konnte. Schließlich sagte sie: »Hannah, bitte nimm Platz.«
Ich stutzte. Sie nahm sich einfach heraus, mich beim Vornamen zu nennen? Der Widerspruch lag mir auf der Zunge, doch ich wagte es nicht, ihn auszusprechen und würgte ihn hinunter.
Ihre Lippen kräuselten sich kaum merklich. Sie wies auf einen Stuhl an der oberen Flanke des Tisches und steuerte dann auf den mir gegenüberliegenden Platz zu.
Verwundert nahm ich zur Kenntnis, dass nur zwei Gedecke darauf standen. Offenbar sollte Frau Beck bei unserem Gespräch nicht anwesend sein.
Tatsächlich wartete Frau Wilms, bis die Haushälterin das Abendessen aufgetragen und den Speisesaal verlassen hatte.
»Bitte«, sagte sie und wies auf die Schüsseln, die vor uns standen. »Bedien dich.« Sie nahm ihre Serviette und legte sie auf ihren Schoß.
Wir begannen unser Mahl zunächst schweigend, bis sie schließlich fragte: »Ist das Steak nach deinem Geschmack?«
»Danke, ja. Es ist sehr gut«, antwortete ich förmlich.
»Wir haben ja bereits ausgiebig telefoniert, Hannah. Deine Zeugnisse sind hervorragend, auch wenn es dir an Berufserfahrung mangelt, doch dazu bist du ja nun hier. Ich will ehrlich zu dir sein. Meine Großmutter … wie soll ich es ausdrücken?« Ihr Blick glitt für einen Sekundenbruchteil an mir vorbei. »Sie befindet sich zurzeit in einer schwierigen Phase. Sie kommt nicht damit zurecht, rund um die Uhr auf Hilfe angewiesen zu sein. Das äußert sich zuweilen durch recht heftige Wutausbrüche, wie du sicher bereits gehört hast.«
Sie sah mich prüfend an und mir dämmerte, wer Urheber des Aufruhrs gewesen war. Das Scheppern, die Schreie.
»Das war sie?«
Frau Wilms schwieg.
»Sie ist also keine nette, alte Dame«, stellte ich mit einem leicht vorwurfsvollen Unterton fest. Unterbewusst hatte ich es geahnt, seit ich der Taxifahrerin begegnet war. Ich war einer Lüge aufgesessen.
Ihre Miene war ausdruckslos, ihre Gedanken nicht zu erraten, als sie sagte: »Vielleicht war sie das einmal.« Sie verzog die Mundwinkel. »Um ehrlich zu sein, ist es inzwischen schwierig geworden, jemanden zu finden, der bereit ist, sich längerfristig um sie zu kümmern. Ich wundere mich, dass Frau Beck noch nicht gekündigt hat. Meine Großmutter hätte man niemals als einfachen Menschen bezeichnen können. Ihr Starrsinn wird nur noch durch ihren Stolz übertroffen, aber sie ist in keinem Fall boshaft.«
Mir blieb beinahe der Bissen im Halse stecken. Alles andere, nur nicht boshaft? Sollte mich das etwa beruhigen? Warum passiert so was ausgerechnet mir? Es war wie ein Fluch. Ich räusperte mich und als ich meine Sprache wiedergefunden hatte, sagte ich zweifelnd: »Und Sie glauben, ich könnte mit ihr fertig werden?«
»Das ist meine Hoffnung. Du bist einfühlsam, von sanfter Natur …« Ein schiefes Lächeln huschte über ihre Lippen. »… beinahe unterwürfig. Damit besitzt du Eigenschaften, die in absolutem Gegensatz zu denen meiner Großmutter stehen.«
In diesem Augenblick wurde mir klar, warum sie mich aus heiterem Himmel geduzt hatte. Es war ein Test, den ich in ihren Augen glanzvoll bestanden hatte. Ärger kroch in mir hoch. Ich fühlte mich ausgenutzt. Sie hatte keine Ahnung, warum ich zu der Person geworden war, die sie da beschrieb. Für mich waren gerade diese Eigenschaften zu einer absoluten Notwendigkeit geworden, um des puren Überlebens willen.
Ihre Augen ruhten auf mir. Ich sah die Herausforderung darin und wusste, worauf sie wartete. Aufspringen sollte ich, meine Serviette auf den Tisch werfen und sagen, dass sie dieses Spiel mit jemand anderem spielen solle, nicht mit mir. Doch die Konditionierung durch Dennis zeigte ihre Wirkung und fesselte mich beinahe buchstäblich an den Stuhl. Mir wurde augenblicklich bewusst, dass ich im Grunde keine Wahl hatte. Wo sollte ich schon hin? In ein Hotel? Ich? Vielleicht hatte Frau Wilms Recht? Eventuell war ich genau die richtige Wahl. Wenn jemand Frau Ockenfels kannte, dann ihre Enkeltochter. Vielleicht würde ich tatsächlich mit der alten Dame zurechtkommen. Wenn sie mich aufgrund meiner Art mochte, könnte ich hier ein gutes Leben führen. Nichts kann so schlimm sein …
»Du wirst Unterstützung von Frau Beck erhalten, da ich bereits morgen abreisen muss«, ergriff Frau Wilms wieder das Wort.
Langsam begann ich zu begreifen.
»Sie ist bereits seit mehreren Jahren in diesem Haushalt beschäftigt und wird dir anfangs zur Hand gehen, bis Helene sich an dich gewöhnt hat.«
Ihren Worten folgend, versuchte ich zwischen den Zeilen zu lesen. Meine Gedanken kreisten um ihre Abreise. Einer Ahnung folgend, hakte ich nach. »Sie wohnen nicht hier?«
»Nein, ich lebe mit meiner Familie in Hannover.« Ihr Blick strich in die Ferne, dann sagte sie: »Es ist nicht leicht, diesen Haushalt im Auge zu behalten, wenn man nicht ständig zugegen sein kann.«
Die Worte des Taxifahrers hingen zwischen uns: Ilona muss verzweifelt sein. »Entschuldigen Sie bitte meine Frage, aber warum wird sie nicht in einem Heim gepflegt?« Sofort spürte ich die Röte in meine Wangen schießen. War ich zu unverblümt? Durfte ich überhaupt eine solche Frage stellen?
Frau Wilms schien sich jedoch nicht zu wundern. Ihre Antwort klang freimütig. »Wenn du sie erst kennengelernt hast, wirst du sicher verstehen, warum dies nicht so einfach ist. Meine Großmutter ist fest davon überzeugt, keine Hilfe zu benötigen. Das macht die Sache nicht unbedingt leichter.
Es kommt täglich eine Frau vom Pflegedienst ins Haus. Jeweils morgens eine Stunde und eine weitere am Abend. Die übrige Zeit fällt in deinen Aufgabenbereich.« Sie legte ihr Besteck zur Seite und tupfte sich die Lippen formvollendet mit der Serviette ab. »Nun sind wir bereits in den Details angelangt. Ich würde vorschlagen, dass wir gleich hinaufgehen, damit ich dich vorstellen kann.« Sie sah auf die Wanduhr und nickte. »Frau Gerber dürfte ihren Dienst beendet haben.«
Augenblicklich wurden meine Hände feucht. Die pure Aufregung, versuchte ich mir einzureden, doch mein Körper wusste es besser. Vorsichtig legte ich mein Besteck auf den Teller, damit es nicht unnötig klirrte und Frau Wilms womöglich auf meine seelische Verfassung aufmerksam machen würde.
Wir erhoben uns und verließen gemeinsam den Speisesaal. In der Halle trafen wir erneut auf Frau Beck, die irgendwie verdrießlich dreinblickte und gerade im Begriff war, einige Putzutensilien im Schrank unter der Treppe zu verstauen. Unwillkürlich musste ich an den noch gedeckten Tisch denken und nahm mir fest vor, ihn selbst abzuräumen, sobald ich mit ihr allein in diesem Haus leben würde. Dieser Gedanke überraschte mich, zeigte er mir doch, dass ich begonnen hatte, mir ein Leben an diesem Ort vorzustellen. Die einzigen Dinge, die zwischen mir und dieser Zukunft standen, waren Helene Ockenfels und meine Furcht vor ihr.
Die Stufen knarrten unter unseren Schritten, als wir hinaufgingen. Im Flur wandte sich Frau Wilms nach rechts, öffnete die Tür zu einem weiteren dunklen Gang und schaltete das Licht ein. Vor einer massiven Zimmertür blieb sie stehen. Sie drehte sich zu mir um und sah mich an. »Bist du bereit?«
Ich hätte am liebsten Nein gesagt. Stattdessen nickte ich und versuchte, mir meine Furcht nicht anmerken zu lassen.
Sie drückte die Klinke, die Tür knarrte und schwang schließlich nach innen.
Ich folgte ihr in den düsteren Raum, der sich vor uns ausbreitete. Schwere Teppiche dämpften unsere Schritte. Die Vorhänge waren zugezogen. Gegenüber der Tür stand ein gewaltiges Bett. Ich hatte keinen Blick für die kunstvollen Intarsien. Meine Augen glitten über die Bettdecke. Darin eingewickelt lag eine Person, spärlich beleuchtet von einer kleinen Lampe auf dem Nachttisch, die ein diffuses Licht verströmte.
»Großmutter?« Ilonas Stimme klang wie ein heiseres Flüstern. Sie räusperte sich. »Großmutter?«
Der durchdringende Blick, der mich traf, fuhr mir bis ins Mark. Die Ähnlichkeit war frappierend. Harte blaue Augen, wie die von Dennis. In diesem Blick lag abgrundtiefer Hass.