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2. Die Verklärung des „germanischen Rechts“ im 19. Jahrhundert
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Wie oben bereits ausgeführt (Rn. 3), stellt sich bei der Beschäftigung mit der geschichtlichen Entwicklung des Raubes insbesondere die Frage nach einer sich nach und nach herausbildenden Eigenständigkeit des Tatbestandes. Eine besondere Relevanz erhielt diese Frage nach einer klaren, von anderen Delikten abgrenzbaren Tatbestandsformulierung zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Im Zuge der zu dieser Zeit aufkommenden Strafzweckdiskussion bemühte man sich um „eine Präzisierung der Tatbestände mit eindeutigen Merkmalen und klaren Abgrenzungen“.[53] Zudem herrschte angesichts des aufkommenden nationalen Bewusstseins ein verstärktes Bestreben nach einer Kodifikation des Strafrechts.[54] Dies erforderte auch die Herausarbeitung eines eigenen nationalen Rechts.[55] Hierzu suchte man insbesondere nach Abgrenzungsmerkmalen zwischen deutschem und römischem Recht, um so eine „typisch germanische“ Tatbestandsformulierung zu entwickeln.
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Diese Suche nach genuin „deutschem“ bzw. „germanischem“ Recht zeigte sich auch und gerade in der damaligen Auseinandersetzung mit dem Diebstahls- und (in Abgrenzung dazu) dem Raubtatbestand. So stellte man beim Vergleich von römischem und germanischem Recht fest, dass im germanischen Recht für den Diebstahl die Todesstrafe vorgesehen war, der Raub aber entweder nicht oder wesentlich geringer bestraft wurde.[56] Dagegen sei im römischen Recht der Raub gegenüber dem Diebstahl härter geahndet worden.[57] Hieraus folgerte man, dass bei den Germanen eine heimliche Tatbegehung (wie beim Diebstahl) gegenüber der offenen (wie beim Raub) deutlich negativer konnotiert gewesen sei; sie gelte als falsch und verschlagen und somit als besonders verwerflich.[58] So sei bei den Germanen der „Dieb feige und schleichend […], im Räuber […] [sehe man aber] den kühnen und verwegenen Mann und hatte [. . .] Achtung vor seiner Manneskraft.“[59]
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Diese Vorstellung, dass der Raub als offen und „mannhaft ausgetragenes“ Delikt im germanischen Recht als weniger verwerflich als der Diebstahl als heimliches Delikt galt und sich darin der „Kern des Unrechtsverständnisses“[60] der Germanen zeige, ist bis heute verbreitet. Doch lohnt es sich, diese Ansicht, die von Siems später treffend als „Lehre von der Heimlichkeit des Diebstahls“[61] bezeichnet wurde, kritisch zu hinterfragen. So stellt sich, gerade angesichts des historischen Kontexts, in dem die „Lehre von der Heimlichkeit des Diebstahls“ aufkam, die Frage, inwieweit die Annahme eines spezifisch germanischen Diebstahls- und Raubbegriffs ideologisch geprägt ist. So steht etwa Siems dieser „Lehre von der Heimlichkeit“ aufgrund des Mangels diese Lehre unterstützender Belegstellen höchst kritisch gegenüber.[62] Dieser Quellenknappheit waren sich die damaligen Vertreter der Lehre von der Heimlichkeit durchaus bewusst. Jedoch wurde die fehlende Quellengrundlage etwa von Amira damit abgetan, dass der „Vorwurf fehlender Quellengrundlage […] [ein] unzulässiges Argument e silentio […] sei“.[63] Diese fehlende Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit kritischen Fragen lässt darauf schließen, dass andere Beweggründe hinter der Verfechtung eines spezifisch germanischen Diebstahlsbegriffs gestanden haben müssen. Im Zuge der Bemühungen um die Ausbildung eigenen nationalen Rechts strebte man (wohl gerade angesichts der spärlichen Quellenlage) danach, „den Geist, der darin [in den germanischen Rechtsinstituten] waltet“[64] zu erkennen und machte so als „Charakter des Diebstahls […] die Heimlichkeit fest, die nicht zum Begriff des römischen furtum gehört habe“[65] aus. Für die nachhaltige Etablierung dieser Lehre war nach Siems[66] Wildas Schrift „Strafrecht der Germanen“ von 1842 entscheidend, indem sie ihr die nötige Reputation auch bei anderen Autoren verschaffte.[67] (Scheinbar) unterstützt wurde die Lehre von der Unterscheidung von Mord und Totschlag, die ebenfalls nach dem Merkmal der Heimlichkeit erfolgte, sodass die Unterscheidung nach der Heimlichkeit zu einem allgemeinen Prinzip erhoben wurde.[68] Die später ideologische Aufladung eines dem „germanischen Geist“ entsprechenden Rechts muss bei der Beschäftigung mit dem germanischen Recht somit stets berücksichtigt werden.