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2 Hanau, Untersuchungsgefängnis

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Deckstein saß rittlings auf dem einzigen Stuhl im Zimmer des Aufsehers Kurt Wedelmeyer. Das Sitzmöbel machte einen derart wackeligen Eindruck, dass der Journalist es zur Sicherheit mit der Rückenlehne nah an die Kante des kleinen Tisches gestellt hatte. Das gab ihm das Gefühl, nicht damit umkippen zu können. Aus dieser Warte hatte Deckstein das Aufnahmegerät, das auf dem Tischchen neben dem Teller mit Wedelmeyers Mittagessen stand, gut im Blick. Es würde ihm also nicht passieren, dass sie redeten und redeten und das Band stünde längst still. Häufigeres Reporterschicksal, als man glaubt. Alex Sudhoff hatte sich mit seiner Kamera hinter ihm aufgebaut.

Deckstein betrachtete das zerfurchte, graue Gesicht des Aufsehers, der ihm auf einem ausgeblichenen, durchgesessenen Sofa gegenübersaß. Seit über zwanzig Jahren tat Wedelmeyer hier im Hanauer Gefängnis Dienst. Seine Augen, die unruhig hin und her huschten, lagen tief in dunkel umschatteten Höhlen. Die Wangen waren eingefallen, die Lippen hatte er fest aufeinander gepresst. Er machte den Eindruck eines Mannes, auf dem ein gewaltiger seelischer Druck lastet.

»Ein paar Tage nach diesem schrecklichen Erlebnis mit Genske hatte ich zufällig wegen einer anderen Sache mit Doktor Gaibel zu tun. Das ist unser Gefängnisarzt«, erzählte Wedelmeyer. »Ich hab ihn gefragt, was eigentlich im Kopf und im Körper eines Selbstmörders passiert, nachdem der sich die Adern aufgeschnitten hat. Sitzt der dann da einfach so rum und sieht zu, wie ihm der eigene Saft rausspritzt?«

Mit einer raschen Bewegung, die Deckstein dem bisher eher träge erscheinenden Mann gar nicht zugetraut hätte, griff Wedelmeyer hinter sich und zog hinter seinem Rücken ein wabbeliges Ding hervor.

»Ich hab was vorbereitet, damit Sie sich mal so richtig vorstellen können, wie das mit dem Genske abgelaufen ist, meine Herren. Ich meine, dann fallen Ihnen sofort die richtigen Fragen ein.«

Wie bei einem Zauberer verschwand das rote wabbelige Ding plötzlich tief in dem weiten linken Ärmel von Wedel- meyers alter, durchgescheuerter Uniformjacke. Er streifte den Stoff hoch, und plötzlich schoss eine hellrote blutähnliche Flüssigkeit aus seinem linken Arm.

»Nicht! Lassen Sie das«, rief Wedelmeyer, als Deckstein den Teller mit dem Mittagessen wegziehen wollte. Das »Blut« spritzte über den Tisch, das Mittagessen und einen daneben liegenden Brief.

Mit einem Ruck wandte Deckstein den Kopf ab. Er hörte, wie es hinter ihm polterte, und spürte einen Ruck an seinem Stuhl. Er drehte sich um und sah, dass Alex Sudhoff vor Schreck seine Kamera losgelassen hatte. Sie war gegen Decksteins Stuhl geschlagen und baumelte jetzt am Riemen vor dem Bauch des Fotografen.

»Ih!«, gellte Alex' schriller Schrei durch den Raum.

Hoffentlich kippt der mir jetzt nicht noch um, dachte Deckstein,

»Nee, Herr Wedelmeyer«, rief Sudhoff, »dieses Blut im Mittagessen! Wie widerlich! So eine ekelige Sauerei!« Zugleich griff er wieder nach seiner Kamera und kniete sich mit einer geübten Bewegung hin. Immer wieder drückte er auf den Auslöser und schoss eine Serie Bilder von dem blutigen Stillleben.

Als Deckstein sich Wedelmeyer wieder zuwandte, sah er, dass inzwischen dunkleres »Blut« vom Tisch auf dessen Hose tropfte. Auf dem Boden hatte sich schon eine kleine Lache gebildet, die rasch größer wurde. Der linke Arm des Aufsehers hing wie eine rote blutige Wurst schlaff herunter.

»Und nun sitze ich hier und warte in aller Seelenruhe darauf, dass mir weiter das Blut rausläuft? Bis ich tot umfalle? Und dann hoffe ich auch noch, dass mich keiner entdeckt?« fragte Wedelmeyer ironisch und sah die beiden Journalisten an. »Das musste damals bei dem Genske ja alles zwischen zwei zeitlich engen Kontrollen passieren. Und der wusste natürlich nicht, wann die jeweils waren.«

In der Wärterzelle sah es inzwischen aus wie beim Schlachtfest. Je länger Deckstein Wedelmeyer mit seinem blutüberströmten Arm betrachtete, desto mehr verschwamm das Bild des Wärters vor seinen Augen. Stattdessen sah er den großen, schlanken, lebensfrohen Genske vor sich, wie er ihn von vielen Fotos und Schilderungen in Erinnerung hatte. Zugleich drang ihm immer klarer die Frage ins Bewusstsein: Sieht so ein Täter aus? Oder doch das geschlachtete Opfer? Ist das alles überhaupt so gewesen? Und wenn nicht, warum gibt sich Wedelmeyer so viel Mühe, uns vorzumachen, dass der Genske sich tatsächlich den Puls aufgeschlitzt hat?

»Also, der Doktor Gaibel«, erklärte Wedelmeyer weiter, »hat mir damals den medizinischen Ablauf eines Suizids geschildert. Mir kamen dabei immer wieder die Bilder von Genske in der Zelle hoch. ›Nach dem Schnitt‹, hat der Doktor gesagt, ›kommt zunächst der Moment, in dem man noch einmal richtig lebendig wird. Das Herz rast dann wie wild.‹ In diesem Augenblick, in dem man dann noch mal so richtig aufgekratzt und mobil wird, geben manche Selbstmordkandidaten ihre Absicht auf. Sie schreien rum, machen sich bemerkbar und werden oft noch gerettet.

Wenn man den Schnitt richtig gemacht hat, also längs und nicht quer, und die erste Phase hinter sich hat, kommt die zweite, und zwar ziemlich bald nach diesem Herzrasen. ›Sogar die erlebt man noch bei vollem Bewusstsein‹, hat der Gaibel mir weiter erklärt. ›Dann hat man schon richtige Schmerzen, denn der Körper versorgt nur noch das Gehirn, den Bauch, die Lunge und das Herz mit Blut. Beine und Arme schon nicht mehr. Und das kann sehr, sehr wehtun.‹«

Wedelmeyer machte eine Pause und fuhr dann nachdenklich fort: »Wenn das stimmt, was der Doktor mir erzählt hat – und es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln –, dann muss der Genske doch damals irre Schmerzen gehabt haben.«

Deckstein lauschte mit angehaltenem Atem und brannte darauf, dass der Aufseher weitersprach.

»›Wedelmeyer‹, hat der Gaibel mich in einem Ton angeschrien, als ginge es auf mein eigenes Ende zu. ›Wedelmeyer, wenn Sie nun Ihre dritte Suizid-Phase erreicht haben, macht langsam auch Ihr Gehirn nicht mehr mit.‹ Er hat mir dabei einen kurzen, kräftigen Klaps vor die Stirn gegeben. ›Die kleinen Blutgefäße, die Kapillargefäße, die die Nervenzellen mit den übrigen Blutgefäßen verbinden, werden jetzt nicht mehr richtig durchblutet. Sie schalten allmählich ab. Und dann stellt der Herzmuskel seine Arbeit ein. Danach schalten auch alle anderen Organe ab.‹« Wedelmeyer verstummte und schüttelte sich, als liefe es ihm noch in der Erinnerung kalt den Rücken herunter. Mit einem Mal beugte er sich so abrupt vor, dass das altersschwache Sofa ächzende Laute von sich gab. Eine Weile saß der Wärter regungslos mit zusammengezogenen Schultern da.

Deckstein stellte ihm keine Fragen, sondern wartete ab. Er will sich vor etwas wegducken, dachte er und nahm sich die Zeit, den Aufseher genauer in Augenschein zu nehmen.

Im kaltweißen Licht der Neonröhre stachen die »Blutspritzer« in dem von tiefen Furchen durchzogenen Gesicht hellrot hervor. Wedelmeyers an sich krauses Haar war durch die Mütze, die er eben noch getragen hatte, platt an den Kopf gedrückt worden.

Plötzlich kam wieder Leben in den Aufseher. Er straffte sich, stand auf und sagte: »Entschuldigen Sie, meine Herren, aber Sie werden verstehen, dass ich jetzt wieder arbeiten muss. Man wird mich bestimmt schon vermissen. Und ich muss mich ja noch umziehen.«

Als die drei Männer den Raum verließen, hielt Deckstein das eingeschaltete Tonbandgerät in der Hand. Er achtete darauf, dass das Mikrofon möglichst auf Wedelmeyer gerichtet blieb. Sie waren kaum auf dem Gang angekommen, als der Wärter unvermittelt stehen blieb.

»Noch mal kurz zu Genske ...«

»Das ist das Stichwort, Herr Wedelmeyer«, unterbrach ihn Deckstein. »Wir haben Hinweise darauf, dass das alles ganz anders abgelaufen ist.«

Der Aufseher sah ihn erschrocken an und schwieg. Die plötzlich eingetretene Stille wurde vom Klingelton eines Mobiltelefons unterbrochen.

Deckstein sah seinen Fotografen an. Doch Sudhoff schüttelte den Kopf und zeigte auf Wedelmeyer. Der Aufseher griff in seine Jackentasche, zog sein Handy hervor und sah auf das Display.

»Entschuldigung, meine Herren«, sagte er erstaunt. »Eigentlich ungewöhnlich. Ich werde hier sonst nie angerufen. Normalerweise funktioniert auch unser Störsender, damit die Häftlinge nicht einfach so mit ihren Handys ...« Er sah noch einmal auf das Display. »Die Nummer kenn ich nicht. Ich nehme aber mal schnell an ... Wedelmeyer, hallo?«

Gleich danach lief sein Gesicht rot an. Er reckte den Kopf, um den langen Gefängnisgang zu überblicken. Dann schrie er: »Wer sind Sie überhaupt? Woher wissen Sie ...? Was wollen Sie ...?« Er beendete das Gespräch und sah Deckstein direkt ins Gesicht: »Seien Sie bloß vorsichtig!«

»Was ist denn los, Herr Wedelmeyer?«

Der Aufseher versuchte, das Handy, das von der »blutigen« Vorführung ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen war, wieder in seiner Jackentasche zu verstauen, griff aber aus Nervosität mehrmals daneben. Deckstein sah, wie seine rot verschmierten Hände zitterten.

»Da war so ein Kerl dran. Wollte seinen Namen nicht nennen«, murmelte Wedelmeyer und konzentrierte sich darauf, das Handy in der Außentasche seines zu weiten Jacketts zu verstauen. Schließlich schaffte er es. »Der meinte doch tatsächlich ...«

Er sieht aus, als verstünde er überhaupt nichts mehr, dachte Deckstein.

»Meine Herren, haben Sie bitte Verständnis, aber ich muss jetzt«, erklärte der Aufseher unvermittelt und zeigte in Rich-tung Ausgang. »Ich fürchte, dass sich da im Hintergrund was gegen Sie zusammenbraut«, fuhr er fort, während er mit schnellen Schritten voranging. »Ich geb Ihnen einen guten Rat: Passen Sie auf sich auf! Nicht, dass Ihnen auch noch was passiert!« Er wirkte tief beunruhigt.

Als sie vor dem Ausgangstor angekommen waren, drückte der Wärter neben der Tür auf verschiedene Zahlen. Innerhalb des großen Tores öffnete sich, wie von Geisterhand gesteuert, eine kleinere Tür. Grelle Sonnenstrahlen tasteten sich in das dunkle Viereck, als versuchten sie, Licht in das unheimliche Geschehen dahinter zu bringen.

Draußen schien eine andere Welt zu warten. Oder war das nur eine kurze Sinnestäuschung? Vielmehr ein Wunsch? Deckstein zog es ins Freie, in die warme Sonne, zu ihrem Auto. Er wollte möglichst schnell weg aus dieser grellen Sterilität der kalt ausgeleuchteten Gefängnisflure. Alex Sudhoff war schon auf dem Weg zu ihrem Wagen, als Deckstein im letzten Moment einfiel, was Rainer Mangold ihm aufgeschrieben hatte: Fragen Sie den Wärter unbedingt auch nach dem letzten Besucher in Genskes Zelle und nach der Akte zum Todesermittlungsverfahren.

»Sagen Sie mal«, sagte Deckstein und legte die Hand auf Wedelmeyers Arm. »Ich wollte Sie schon die ganze Zeit danach fragen, aber über diesen Anruf eben hab ich's vergessen. Hatte der Genske eigentlich Besuch? Irgendwelche Leute haben den doch bestimmt in der Zelle besucht. Und dann muss es da doch eine Akte geben, in der der Arzt die genaue Todesursache angegeben hat.«

»Sie meinen die Todesermittlungsakte? Gute Frage! Wo die steckt, weiß ich auch nicht. Aber da sind Sie schon auf dem richtigen Weg. Wenn Sie die in der Hand hätten, wüssten Sie eine ganze Menge mehr. Fragen Sie mal bei der Staatsanwaltschaft Hanau nach. Im Übrigen: Den Genske haben schon einige Leute besucht«, sagte der Aufseher. »Vernehmungsbeamte vom Landeskriminalamt, Staatsanwälte ... Wenn Sie die Besucherliste einsehen wollen, müssten Sie auch beim zuständigen Staatsanwalt anfragen, der hat die bestimmt noch in seinen Akten. Da gibt es einen ganz Netten, der auch an der Aufklärung des Falles beteiligt war. Ich kann Ihnen den Namen raussuchen. Schicke ich Ihnen.«

»Ich hab sie aus einem bestimmten Grund danach gefragt, Herr Wedelmeyer. Kann ja sein, dass wir da Namen von Leuten finden, die uns Hinweise auf Genskes mögliche Todesumstände geben. Besonders interessant wäre der Name des letzten Besuchers.«

»So ist es«, sagte Wedelmeyer in einem Ton, als wäre er nicht ganz bei der Sache. Er richtete sich kerzengerade auf und schob die Brust heraus. Das Jackett saß auf einmal stramm. Deckstein hatte den Eindruck, als stünde jemand hinter dem Aufseher und würde ihn mit einer Luftpumpe aufblasen.

Wedelmeyer sah an Deckstein vorbei. »Irgendwo müssen diese Schweine, die Sie und mich überwachen, doch stecken!«, flüsterte er und suchte mit den Augen die gegenüberliegende Häuserzeile ab.

»Vergessen Sie's, Herr Wedelmeyer. Das sind Profis. Die lassen sich bestimmt nicht sehen«, sagte Deckstein.

Kaum hatte er ausgesprochen, schoss hinter einem mittelgroßen Lkw, der auf dem Parkplatz vor den Häusern gestanden hatte, ein schwerer dunkler Mercedes mit quietschenden Reifen hervor. Zwei Männer mit dunklen Sonnenbrillen warfen einen kurzen Blick in Richtung des Gefängnistores, dann war der Wagen um die Kurve verschwunden. Es war so schnell gegangen, dass weder Deckstein noch Wedelmeyer das Kennzeichen erkennen konnten.

»Ich kann's nicht oft genug sagen: Seien Sie vorsichtig!«, sagte Wedelmeyer.

Deckstein verabschiedete sich mit einem kurzen Händedruck von dem Aufseher und ging mit schnellen Schritten zu dem Wagen, in dem Alex Sudhoff auf ihn wartete. Bevor er einstieg, wandte er sich noch einmal um und sah, dass Wedelmeyer ihnen noch mit sorgenvollem Blick nachsah, bis sich das Gefängnistor wie von Geisterhand gesteuert vor ihm schloss.

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