Читать книгу Nucleus - Dieter Kassing - Страница 8

Prolog Hanau, 15. Dezember 1987

Оглавление

Kurt Wedelmeyer stand an einem der vergitterten Fenster des Untersuchungsgefängnisses und betrachtete wohlwollend die dichten Schneeflocken, die aus den grauen, tief hängenden Wolken fielen. Der Aufseher freute sich darauf, mit seinen Kindern am Wochenende im Hanauer Wald Schlitten zu fahren.

Plötzlich, so als hätte er von irgendwo her einen lautlosen Befehl erhalten, wandte er sich mit einem Ruck um. Er senkte das Kinn auf die Brust und schloss die Augen. So verharrte er einen Augenblick. Um innerlich ganz ruhig zu werden, hielt er kurz den Atem an. Für die nächsten Schritte brauchte er seine volle Konzentration. Er durfte nicht den geringsten Laut erzeugen. Der Häftling, den er sich durch den Spion in der Zellentür ansehen würde, sollte auf keinen Fall merken, dass er kontrolliert wurde. Alle fünfundzwanzig Minuten sahen er oder einer der Kollegen nach dem Mann.

Wie eine Marionette stakste Wedelmeyer mit großen vorsichtigen Schritten zu der graugrünen Zellentür hinüber, hinter der er hauste, der Spitzenmanager von einer der Atomfirmen im Hanauer Atomdorf am Rande der Bulau. So weit sich Wedelmeyer erinnerte, war er der erste Manager einer Atomfirma, den sie jemals eingebuchtet hatten. Eingeliefert worden war er unter dem Namen Genske – sein wirklicher Name sollte aus vielerlei Gründen nicht bekannt werden. Genskes Unternehmen transportierte den atomaren Brennstoff für Deutschlands Atomkraftwerke. Daraus wurden auch Atombomben produziert.

Wedelmeyer heftete sein rechtes Auge an das Guckloch in der Zellentür. Geblendet von dem grellen, kalten Licht der Deckenstrahler kniff er es zusammen, riss es Sekundenbruchteile später wieder auf und erstarrte. Nur langsam setzte sein Gehirn immer mehr Teile des Datenstroms, den ihm sein Auge mit hoher Geschwindigkeit lieferte, zu einem unvollständigen Bild zusammen. Er lauschte angestrengt, um akustische Signale aufzunehmen. Vergeblich. Kein Ton drang an sein Ohr. Schließlich nahm sein Gehirn das grausige Stillleben wahr, das sich ihm bot.

Der Untersuchungshäftling Genske saß bewegungslos auf dem einzigen Holzstuhl in der Zelle. Der Teller mit dem Mittagessen stand unberührt vor ihm auf dem Tisch. Genskes Hinterkopf lehnte an der weiß getünchten Zellenwand. Seine weit aufgerissenen Augen starrten Wedelmeyer an. Der Mund stand offen – es sah aus, als schnappe der Atommanager nach Luft. Sein Oberkörper lag grotesk verdreht halb auf dem Tisch. Der linke Arm hing schlaff herunter. Der Ärmel des dunkelblauen Hemdes war weit hochgeschoben, sodass der blutverschmierte Unterarm zu sehen war, der einer großen, der Länge nach aufgeschlitzten Wurst, ähnelte. Aus der Wunde, deren Ränder auseinanderklafften, tropfte inzwischen kaum noch Blut auf das linke Bein der grauen Anzughose, auf der sich ein großer, nasser, dunkelroter Fleck gebildet hatte.

Instinktiv drückte Wedelmeyer auf den roten Knopf seines Alarmgebers an seinem Gürtel und griff mit zitternden Händen nach dem Schlüsselring, um den Schlüssel für die Zelle abzulösen. Dann fiel ihm ein, dass er ihn eben ja schon in der Hand gehabt hatte. Hatte er ihn vor Schreck fallen lassen? Er sah auf den Boden. Richtig, da lag er.

Er hob den Schlüssel auf, steckte ihn ins Schloss und drehte ihn mit einer hastigen Bewegung herum. Er ließ ihn im Schloss stecken und öffnete die Tür nur einen Spaltbreit und blieb im Türrahmen stehen. Falls etwas Unvorhergesehenes geschah, konnte er die Tür rasch wieder zuschlagen und den Schlüssel umdrehen.

So, wie Genske ihn ansah, musste der seinen letzten Blick auf dieser Welt zum Ausgang gerichtet haben. Was hatte er da gesehen? Hatte er noch in den letzten Sekunden seines Lebens nach einem Ausweg gesucht? Auf Hilfe gehofft? Oder war jemand hier in der Zelle gewesen? Was war vorher passiert? Wedelmeyer musste sich zusammenreißen, um nicht laut loszuschreien. Plötzlich kam ihm ein seltsamer Gedanke. Konnte es sein, dass Genske seinen Tod nur vortäuschte? Und wo, verdammt, blieben die Kollegen? Wedelmeyer hörte kein Fußgetrappel. Ihm fehlten ihre beruhigenden Rufe: »Kurt, bleib ruhig, wir sind schon da ...«

Da er dem Alarmgeber nicht so recht traute, hatte er seine alte Trillerpfeife immer noch in der Hosentasche bei sich und beschloss nun, zur Sicherheit noch mal Signal zu geben. Er warf einen kurzen Blick auf die Uhr – zehn vor eins. Er zog die Trillerpfeife heraus, steckte sie in den Mund und pfiff die geübten Alarmsignale. Die schrillen Töne hallten in den Gefängnisfluren wider. Aus den benachbarten Zellen schollen ihm die Protestrufe der anderen Häftlinge entgegen. Einige hämmerten mit ihren Kochgeschirren gegen die Zellentüren.

»Ich will raus ... eurem verdammten Puff!«

»Ruhe verdammt ... mal ...«

»Ihr Mörder ... umgebracht!«

»Du Wichser ... mich aufgeweckt!«

»... bin ich hier auf 'nem Kasernenhof oder was?«

Die Schreie und das Hämmern erreichten Wedelmeyer, als wären es Laute aus einer anderen Welt. In der Nähe hörte er einen der Häftlinge »Stille Nacht, Heilige Nacht« singen. Weihnachten. Gott ja, bis Weihnachten waren es ja nur noch wenige Tage!

Wedelmeyer schloss für einen kurzen Moment die Augen und dachte nach. Wenn die Kontrollen richtig eingehalten worden waren, musste der Atommanager vor einer halben Stunde noch gelebt haben. Und nun war er von jetzt auf gleich tot. Unfassbar. Im Unterbewusstsein vernahm Wedelmeyer schnelle Laufschritte auf dem Gefängnisflur. Seine Kollegen waren im Anmarsch.

Wie hatte das mit dem Genske überhaupt passieren können? Hatte der das selbst gemacht? Womit überhaupt? Der Aufseher öffnete die Augen und warf einen raschen Blick in die gut überschaubare Zelle. Er entdeckte nichts. Da lag kein Messer, auch keine Rasierklinge. Ein jäher Gedanke schoss ihm durch den Kopf: War es überhaupt Selbstmord?

Wieder warf er einen Blick auf den blutüberströmten Arm des Atommanagers. Für diesen Tag hatte sich Genskes Freundin angekündigt, wie Wedelmeyer in den Unterlagen gelesen hatte. Genske hatte sie gebeten, ihm neue Wäsche mitzubringen. Wer bittet denn um frische Wäsche und bringt sich gleich anschließend um?, dachte Wedelmeyer. Außerdem hatte die Hauptverhandlung unmittelbar bevorgestanden. Ihn überkam ein Verdacht.

»Genske«, sagte er laut mit erhobenem Zeigefinger, »du musstest sterben, weil du zu viel gewusst hast. Du solltest deine Geheimnisse mit ins Grab nehmen. Irgendwer hatte Angst, dass du vor Gericht eine Bombe auspacken könntest!«

***

»Wissen Sie schon, dass sich der Justizminister wegen dieser Sache eingeschaltet hat?«, fragte Oberstaatsanwalt Ulrich Winter empört und wedelte mit der Hand in Richtung von Genskes Zelle. Gemeinsam mit dem stellvertretenden LKA-Chef Volker Grund hatte er sich dort ein erstes Bild gemacht.

»Mensch, Kollege, was haben Sie denn erwartet?« Grund zuckte die Schultern. »Bei dem dicken Fall stehen die da oben doch alle unter höchstem Druck. Da bewegen wir uns auf ganz dünnem Eis. Wir beide«, sagte er und zeigte erst auf den Staatsanwalt und dann auf sich selbst, »und die da oben auch.«

Er streckte den Daumen in die Luft. Er schaute den Flur hinauf und hinunter und trat noch einen Schritt näher an den Oberstaatsanwalt heran, dessen rot angelaufener Kopf wie ein Granatapfel aus dem blütenweißen Hemdenkragen ragte.

»Ein Tritt in die falsche Richtung, und das Eis bricht ein!«, sagte er leise. »Ich bin sicher, dass die Sache hier von internationaler Bedeutung ist und der Minister ziemlich Druck von der Regierung bekommen hat. Vergessen Sie nicht, bei dem Mann da in der Zelle«, fuhr Grund fort und zeigte hinter sich, »bei dem Genske und auch ein paar anderen, besteht der Verdacht, dass sie den Stoff für die Bombe ins Ausland verschoben haben. Und falls wir bei unseren Ermittlungen feststellen, dass die Regierung da ruhig zugesehen hat oder sogar involviert war, kommt auf Deutschland einiges zu – Atomwaffensperrvertrag gebrochen und so weiter!« Grund schüttelte so heftig den Kopf, dass sein zwar längeres, aber schütteres Haar in Bewegung geriet.

»Mensch, Winter, das gäbe einen Riesenskandal!«

»Aber stellen Sie sich das bloß mal vor!«, schimpfte Oberstaatsanwalt Winter weiter. »Alles, was wir ermittelt haben, sollen wir sofort dem Minister oder seinem machtgeilen Staatssekretär auf den Tisch packen!«

Der Oberstaatsanwalt legte viel Wert auf Contenance, was er durch eine elegante äußere Erscheinung zu unterstreichen suchte. Sein eleganter dunkler Nadelstreifenanzug war maßgeschneidert. Es war selten, dass Winter – wie jetzt – außer Fassung geriet. Über seinem linken Arm lag ein leichter sandfarbener Mantel, von dem er nervös immer wieder nicht vorhandene Staubkörnchen abklopfte.

»Sie wissen ja, wen ich meine«, sagte er und stellte mit einer hektischen Bewegung seine Aktentasche auf dem Boden ab. »Und was heißt das? Wir müssen uns jetzt vor jedem Ermittlungsschritt vorher vom Minister die Genehmigung einholen! Außerdem haben er und der Staatssekretär in der letzten Sitzung darauf hingewiesen, dass nichts von unseren Ermittlungsergebnissen an die Presse durchsickern darf.«

»Aber das ist doch klar, Kollege Winter«, sagte Grund, »bei der Situation! Der Fall ist so bedeutend, da haben die doch die Hosen gestrichen voll. Und deswegen …« Er zögerte einen Moment. »Ich will Ihnen ja keine Angst einjagen. Ich sag's deshalb mal mit Chruschtschows bekanntermaßen zarten Worten. Sie kennen ja mein Faible für die klare Sprache dieses sowjetischen Schlitzohrs aus dem Bauernstand.« Grund setzte sein berüchtigtes, süffisantes Lächeln auf. »Wenn die Westmächte dem zu aufmüpfig wurden, drohte er immer damit, er werde die in Berlin ›an den Eiern packen‹.«

Die Augen des Oberstaatsanwalts wurden größer, sein Gesicht blasser. Mit starrem Blick und abweisender Miene musterte er den LKA-Mann, der in seiner ausgeleierten sandfarbenen Cordhose und dem abgetragenen Fischgrätsakko vor ihm stand.

»Begreifen Sie denn nicht?«, fragte Grund unbeeindruckt. »Die da«, er zeigte wieder mit dem Daumen nach oben, »die wollen am liebsten alles unter der Decke halten. Möglichst schnell die Leiche begraben. Weg damit und weiter, wie gehabt. Und das in diesem Fall möglichst schneller als schnell. Kollege Winter, wir beide kennen das doch zur Genüge. Aber diese Sache ist ja nun wirklich heikel ...«

»Das ist mir inzwischen auch klar«, sagte der Oberstaatsanwalt, der sich wieder gefasst zu haben schien. Sein Gesicht war nur noch leicht gerötet. »Aber wo kommen wir denn da hin!«

Grund trat einen Schritt zurück. »Herr Winter, Sie müssen sich vorstellen, dass unsere Atominteressen, also die Machtinteressen unseres Landes, berührt sind.«

Der Oberstaatsanwalt zuckte zusammen. »Nicht so laut, Herr Grund!«

Mit dem Zeigefinger vor dem Mund ließ er ein scharfes »Pst« hören.

»Das müssen doch nicht gleich alle mitbekommen«, flüsterte er und sah sich nach allen Seiten um.

Volker Grund sprach nun zwar ein bisschen leiser, aber in den angrenzenden Zimmern war seine Antwort immer noch zu verstehen.

»Schon bei dem Bisschen, was ich von dem Fall weiß, bin ich mir sicher, dass uns die Amis, Franzosen und Briten, wenn sie alles erfahren, wirklich alles, was hier gelaufen ist, an den Arsch packen. Und nun stellen Sie sich erstmal vor, wir bohren richtig tief und werden fündig!«

Er schüttelte den Kopf.

»Das war's dann, das schwör ich Ihnen. Dann können wir den ganzen Atomladen hier in Deutschland dichtmachen! Und nicht nur das. Wissen Sie was das für uns im Zweifel bedeutet, Kollege? Mit unseren Ermittlungsergebnissen hätten wir beide unser Land ans Messer geliefert. So sieht's aus!« Er machte eine Pause und fuhr mit einem schiefen Grinsen fort: »Glauben Sie wirklich, dass Sie dafür einen Orden kriegen? Oder befördert werden?«

Grund fasste den Staatsanwalt an der Schulter und sah ihm in die Augen.

»Ich denke, es wäre das Beste, wenn wir den Ball ganz flach halten. Ich werde jedenfalls meinen Jungs sagen: Grabt um Himmelswillen nicht zu tief! Das rate ich Ihnen und Ihren Leuten auch. Der Genske ist tot. War ein grausiger Tod, zugegeben. Aber wenn wir nun herausfinden, dass der sich gar nicht selbst umgebracht hat, sondern wegen irgendwelcher Machenschaften von irgendwem umgebracht worden ist, ändert das auch nichts mehr. Außerdem wurde mir zu verstehen gegeben, dass es ja auch für jeden da draußen verständlich wäre, wenn der Genske sich selbst …«, sagte Grund und machte eine Bewegung, als wollte er sich den Arm aufschlitzen. »Sie wissen schon, was ich meine. Bei den schweren Vorwürfen wär das ja wirklich kein Wunder.«

Nucleus

Подняться наверх