Читать книгу Nucleus - Dieter Kassing - Страница 16
5 Köln – Bonn
ОглавлениеFrüh am Morgen steuerte Deckstein seinen dunkelgrünen Jaguar Kombi über die Kölner Zoobrücke. Müde und mit einem Brummschädel hatte er sein Appartement in der Nähe vom Stadtgarten verlassen, das er erst vor ein paar Monaten bezogen hatte. Nur aus den Augenwinkeln nahm er wahr, dass die Oktobersonne das ganze Rheintal in goldenen Glanz tauchte.
Seine momentane Stimmung passte so gar nicht zu dieser Idylle. Seit dem Interview mit Wedelmeyer war er innerlich angespannt. War es möglich, dass irgendjemand, den er nicht kannte, jeden seiner Schritte beobachtete? Der Gedanke, möglichen Angriffen schutzlos ausgeliefert zu sein, machte ihn nervös. Er fühlte sich nicht mehr sicher.
Zudem war inzwischen klar geworden, dass sie in der Redaktion die Dunkeltypen selbst auf sich aufmerksam gemacht hatten. Überall, wo er und seine Kollegen angeklopft und Informationen gesammelt hatten, hat es in deren Netz gezuckt und ihnen angezeigt, dass sich etwas gegen sie zusammenbraute. Daraufhin hatten diese Leute natürlich ihre Lauscher aufgestellt und ihre Späher losgeschickt. Geld hatten sie mit Sicherheit genug. Und wir, so gestand sich Deckstein ein, haben nichts geahnt und sind denen voll ins Netz gegangen. Eines war den Dunkelleuten mit Sicherheit sonnenklar: Wenn die Journalisten nach den Hintergründen von Genskes brutalem Ableben suchten, würden sie zwangsläufig im Umfeld auf brisante Funde stoßen.
Kurz nachdem er auf die A 59 abgebogen war, überholte ihn eine lange Reihe von blau-weißen Wagen der Bundespolizei. Die Kolonne bog mit hoher Geschwindigkeit und einge- schaltetem Blaulicht in Richtung Flughafen ab. Deckstein glaubte, in einigen Fahrzeugen Männer in weißen Schutzanzügen gesehen zu haben. In diesem Moment kam ihm aus Richtung Bonn eine weitere Armada von Polizeifahrzeugen entgegen. Seine Unruhe wuchs.
In den letzten Tagen war auf allen Fernsehkanälen und in fast allen Zeitungen vor islamistischen Terroranschlägen gewarnt worden. Al-Kaida-Terroristen weltweit hatten den Tod ihres Führers Osama bin Laden als Hinrichtung bezeichnet. Dieser war in einer Garnisonsstadt nahe der pakistanischen Hauptstadt Islamabad von einer amerikanischen Spezialeinheit erschossen worden. Es musste mit gezielten Racheaktionen gerechnet werden.
Es war durchgesickert, dass der Bundesinnenminister seine Länderkollegen in vertraulicher Runde bereits auf mögliche Anschlagziele hingewiesen hatte, angeblich bei einem Kaminabend. Da muss eine wirklich gemütliche Atmosphäre geherrscht haben, dachte Deckstein.
Inzwischen war die Polizei im ganzen Land in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt worden. Die Beamten hatten zusätzlich verstärkte schusssichere Westen erhalten. Außerdem war eine Urlaubssperre verhängt worden. Plötzlich ging Deckstein ein Licht auf: Das musste es sein! Sein Freund Bernd Conradi, der Krisenmanager der Bundesregierung, hatte ihm erst vor wenigen Tagen erzählt, dass der Minister auch Ziele aus dem Raum Köln-Bonn benannt hatte.
War das der Grund für die massive Polizeipräsenz am Flughafen? Oder war schon etwas passiert, von dem er noch nichts wusste? Da war eben mehr als eine Hundertschaft in rasantem Tempo an ihm vorbeigerauscht. In voller Festbeleuchtung, mit eingeschaltetem Blaulicht und durchdringenden Sirenen. Aber warum die Männer in weißen Schutzanzügen und mit Kapuzen in den Wagen? Die rückten doch nur bei ABC-Alarm aus, dachte Deckstein, bei möglichen Anschlägen mit atomaren, biologischen oder chemischen Kampfstoffen.
Steckte hinter den Warnungen doch mehr, als bisher offiziell zugegeben wurde?
Er drehte das Radio an, um eventuell aus den Nachrichten etwas Neues zu erfahren. Doch auf allen Sendern gab es nur Musik. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass bis zu den Nachrichten noch etwas Zeit war. Mit einem Knopfdruck schaltete er das Radio wieder aus.
Mit einem Mal hatte er einen schalen, trockenen Geschmack im Mund. Sein Kopf brummte. Mit der linken Hand massierte er seine Kopfhaut, um den Druck zu lindern.
Außerdem fröstelte es ihn – die altbekannten Folgen, wenn er wieder mal zu viel von dem französischen Roten getrunken hatte. Jupps Probierflasche hatte am Morgen halb leer neben seinem Bett gestanden. Wenn ich gleich im Büro ein paar Tassen Kaffee getrunken habe, werd ich wieder ein richtiger Mensch, tröstete er sich.
Er warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel, dann scherte er nach links aus und überholte den vor ihm fahrenden Laster.
Die dunkelhaarige Schönheit in dem blauen Dreier BMW-Cabrio, die schon eine Weile hinter ihm herfuhr, hatte ebenfalls überholt, stellte er fest, als er sich wieder auf der rechten Spur einordnete.
Unwillkürlich tauchten vor seinen Augen wieder die Bilder von Wedelmeyer auf. Nach dem merkwürdigen Anruf hatte der Gefängnisaufseher völlig verstört gewirkt. Deckstein war sich inzwischen sicher, dass sie mit ihren Fragen nach dem Warum und Wie der Todesumstände von Genske irgendjemandem zu nahe gekommen waren.
Plötzlich kam ihm ein Gedanke, der ihn elektrisierte. Er musste sich zusammenreißen, um bei der hohen Geschwindigkeit nicht in den Leitplanken zu landen. Was, wenn es diesen Typen nicht nur darum ging, sie einzuschüchtern, sie mürbezumachen? Was würde als Nächstes passieren, wenn sie feststellten, dass sie bei Deckstein und den anderen damit nicht viel erreichten? Würden sie ihnen dann – wie einigen französischen Kollegen, die ebenfalls an einer politisch brisanten Geschichte gearbeitet hatten – Computer, Festplatten und wichtige Tonaufnahmen aus der Redaktion klauen?
Deckstein spürte, wie ihm vor Aufregung der Schweiß über den Rücken rann. Er musste sofort etwas unternehmen. Vielleicht könnte ihm Bernd dabei helfen, überlegte er. Als Leiter der Abteilung Krisenmanagement im Innenministerium müsste er ihm einen Rat geben können, wie man brisante Unterlagen sicher aufbewahrte. Außerdem müssten sie sich in der Redaktion mit der Frage beschäftigen, wie sie sich gegen Abhöraktionen und sonstige Überwachungen absichern konnten. Aber auch da konnte ihm Bernd bestimmt gute Tipps geben. Ganz in Gedanken schob er sich den Kopfhörer ins rechte Ohr und wählte Conradis Nummer.
»Innenministerium, Apparat Conradi. … chen, guten Tag. Mit wem spreche ich?«
Beim Klang der schrillen Frauenstimme fuhr Deckstein zusammen. Hektisch drehte er die Lautstärke am Telefon herunter und bekam deshalb von ihrem Namen nur noch den Rest mit, als er den Regler wieder etwas nach oben gestellt hatte. So konnte er wenigstens ihre Stimme ertragen, ohne dass er noch heftigere Kopfschmerzen bekam. Die Frau ist ja eine richtige Sirene, schoss es ihm durch den Kopf, eigentlich ein Volltreffer für eine Krisenabteilung. Den Kalauer müsste er Bernd bei Gelegenheit mal stecken.
»Ist Frau Brettschneider, die Sekretärin von Herrn Conradi, nicht ...?«
Sie ließ ihn nicht ausreden. »Sie sind ...?«
»Deckstein, Daniel Deckstein. Ein guter Freund von Bernd, ich meine von Herrn Conradi.«
»Gut, dass Sie anrufen! Frau Brettschneider ist kurz zu Tisch. Sie müssen schon entschuldigen. Hier geht's im Moment furchtbar hektisch zu.«
Dank des Lautstärkereglers war aus der schrillen Stimme eine piepsige geworden.
»Ich hätte auch gleich versucht, Sie zu erreichen. Frau Brettschneider hat mich nämlich gebeten, Ihnen mitzuteilen, dass sich Herr Conradi ganz in Ihrer Nähe, in der Dependance des BKA in Meckenheim, aufhält. Er wird Sie gegen Mittag anrufen. Sie möchten sich doch bitte unbedingt ab dreizehn Uhr bereithalten. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Sie wissen also auch nicht, worum's geht? Ich hatte eigentlich nur eine kurze Frage an ihn. Aber ... wenn ich mich ... also, wenn ich mich bereithalten soll«, stotterte Deckstein.
»Ich kann Ihnen nur sagen, dass es schon ganz was Besonderes sein muss. Sonst würde er sich kaum die Zeit nehmen, Sie anzurufen. Bei der Hektik, die hier plötzlich ausgebrochen ist. Und ich weiß gar nicht, warum. Die Telefone laufen heiß. Das Kanzleramt ... das Verteidigungsministerium ... oh, jetzt hätte ich fast alle aufgezählt, und das darf ich ja gar nicht. Alle Welt fragt nach Herrn Conradi. Ich bin schon ganz durcheinander!«
»Dann erst mal vielen Dank. Wie war noch Ihr Name? Ich hab ihn vorhin nicht richtig verstanden.«
»Schmittchen, Caroline Schmittchen. Frau Brettschneider hat auf mich umgestellt. Ich bin neu hier im Sekretariat der Abteilung. Leider haben wir uns noch nicht kennengelernt, Herr Deckstein.«
»Das stimmt, ich war eben ein bisschen überrascht.«
»Hoffentlich positiv. Wenn Sie mal wieder in Berlin sind, schauen Sie doch einfach mal bei mir rein!«
»Mach ich gern. Aber wie erkenne ich Sie denn?«
»Ach so, verstehe«, sagte sie und lachte. »Wenn Sie nach Caroline Schmittchen fragen, weiß der Pförtner eigentlich Bescheid. Aber ich kann mir denken, was Sie wissen wollen. Bin blond, einen Meter siebzig groß, und die Figur ist auch nicht von schlechten Eltern.« Sie lachte wieder.
»Ja, sehen Sie, das ist doch schon genauer. Es gibt sicher so viele Schmittchen im Innenministerium ...«
»Nee, Herr Deckstein«, sagte sie. »Hier gibt's nur mich!«
»Trotzdem, dann kann ich jetzt wenigstens den Pförtner nach der blonden Caroline Schmittchen fragen«, sagte Deckstein. »Aber jetzt noch mal zu Herrn Conradi. Wenn er sich inzwischen noch mal bei Ihnen meldet, richten Sie ihm doch bitte aus, dass ich auf seinen Anruf warte.«
»Mach ich doch gern.«
Deckstein legte auf, nahm den Kopfhörer aus dem Ohr und massierte es ein bisschen. Die piepsige Stimme ließ noch immer sein Trommelfell vibrieren.
Dennoch würde er sich diese attraktive Frau Caroline Schmittchen gern mal aus der Nähe anschauen. Ihm fiel ein, dass er schon in der nächsten Woche wieder in Berlin sein würde. Das Interview mit dem Wirtschaftsminister zur Entwicklung auf dem weltweiten Ölmarkt stand auf dem Programm.
Deckstein warf einen kurzen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. Zeit für die Nachrichten. Er drehte das Radio an. Im Augenblick sang Herbert Grönemeyer noch: »Und der Mensch ist Mensch ...«
Wieso hat die Schmittchen von unerklärlicher Hektik gesprochen?, fragte sich Deckstein. Weshalb will alle Welt mit Conradi sprechen, und wieso ist der plötzlich beim BKA in Meckenheim? Sie hatten noch am Vortag telefoniert, und da hatte Bernd nichts davon gesagt.
Seit dem Interview mit Wedelmeyer konnte Deckstein nicht anders, als sich, wo immer er auch war, alle naselang nach potenziellen Beschattern umzusehen. Als er in der Nähe der Ausfahrt Troisdorf-Spich wieder in den Rückspiegel sah, stellte er fest, dass die rassige, dunkelhaarige Schönheit in ihrem Dreier BMW-Cabrio immer noch dicht hinter ihm fuhr. Sie trug eine überdimensional große Sonnenbrille.
Ihr Anblick versetzte ihm einen kleinen Stich. Für einen Moment hatte er geglaubt, es könnte Elena sein, hatte den Gedanken aber rasch verdrängt. Was sollte Elena denn hier wollen? Und dann in einem BMW-Cabrio. Ein zu teurer Luxusschlitten für eine kleine russische Dolmetscherin. Er hatte das HH auf dem Nummernschild erkannt. Vielleicht ein Mietwagen, überlegte er.
Vor mehr als einem Jahr hatte ihn Elena mit Tränen in den Augen am Moskauer Flughafen Domodedowo verabschiedet. Wäre sie das jetzt wirklich, da hinter ihm, dann würde sie doch auf die Hupe drücken und ihm winkend bedeuten, er solle anhalten – da war er sich sicher. Und dennoch, er war damals nie ganz das Gefühl losgeworden, dass sie im Auftrag des russischen Inlandgeheimdienstes FSB unterwegs war. Es war ja schon häufiger vorgekommen, dass sich Geheimdienstleute in jemanden verliebten, den sie ausspionieren sollten. Erste Gedanken in diese Richtung waren ihm seinerzeit schon auf dem Rückflug von Moskau nach Köln-Bonn in den Sinn gekommen.
Dass die dunkelhaarige Schönheit sich nun schon eine ganze Weile mit ihrem schnellen Wägelchen in seinem Windschatten aufhielt, stimmte ihn zunehmend nachdenklicher. Er warf immer wieder einen Blick in den Rückspiegel. Wegen der riesigen Sonnenbrille konnte er ihr Gesicht nicht genau erkennen. Deckstein beschloss, einen Test zu machen. Wenn es Elena wäre, würde sie sicher reagieren. Mit dem elektrischen Fensterheber senkte er sein Seitenfenster und winkte ihr zu. Nichts. Die Dame reagierte überhaupt nicht.
Andererseits sah sie auch ganz und gar nicht danach aus, als gehöre sie zu den Dunkeltypen, die ihn und die Redaktion bespitzelten. Aber wie sahen solche Leute aus?