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3 Bonn, Redaktion des Energy Report
ОглавлениеDraußen wurde es bereits dunkel. Im Verlag des Energy Report, unweit der Bonner Oper, hüllten die italienischen Designerlampen Decksteins Büro in ein warmes Licht. Gerd Overdieck und Rainer Mangold hatten es sich im »italienischen Eck« bequem gemacht. Dieses von den Mitarbeitern mit untergründigem Spott so getaufte Ensemble im Büro des Chefredakteurs bestand aus drei leichten, schwarzen Ledersesseln und einer Zweiercouch. Produkte eines italienischen Nobeldesigners. Deckstein hatte seine Mitarbeiter zu sich gebeten, weil er ihnen von dem Interview mit Wedelmeyer und vor allem auch von dem seltsamen, irgendwie bedrohlichen Anruf berichten wollte.
Overdieck ließ seinen Blick durch den Raum wandern. »Ich muss schon sagen, Daniel, jedes Mal, wenn ich hier bei Ihnen sitze, fällt mir wieder auf, dass der Verleger aber auch wirklich die feinsten Teile in Ihr Büro gestellt hat«, sagte er. »Die sind derart fein und grazil, dass ich mich frage, ob er dabei auch an Leute wie mich gedacht hat.« Dabei wippte er mit seinen beinahe hundert Kilo ein paar Mal rauf und runter.
»Wenn Sie weiter hier so formidabel sitzen wollen, sollten Sie vorsichtiger mit dem Stück umgehen. Übrigens hat mir der Verleger diese schicken Teile erst hier reingestellt, nachdem ich ihn überzeugen konnte, dass wir Sie beide nur kriegen, wenn er für eine anständige Umgebung sorgt. Vorher haben wir hier auf Apfelsinenkisten gesessen«, sagte Deckstein und lachte. »Aber wir wollen fair sein, Gerd, Ihre Büros sehen auch nicht viel schlechter aus!«
»Ja, ja, stimmt schon. Ich muss zugeben, da kann man ganz gut darin leben«, räumte Overdieck ein und zwinkerte Mangold zu. »Ich benehme mich jetzt auch anständig«, fügte er schmunzelnd hinzu, »und setz mich richtig hin.« Mit einer vorsichtigen Bewegung richtete er sich gerade in dem Sessel auf und legte die Hände wie eine Novizin zusammengefaltet in den Schoß.
»Ich wollte eigentlich mit Ihnen nicht über unsere Büroausstattung diskutieren, sondern kurz berichten, wie das Interview gelaufen ist«, sagte Deckstein.
»Noch schnell ein Wort vorweg«, unterbrach ihn Overdieck. »Muss einfach sein.« Er drehte sich zur Seite und ließ seine Augen über die Bilder an den Wänden schweifen. »Wenn mich mein Eindruck nicht täuscht, wird Ihr Büro auch immer mehr zu einer Galerie für die, zugegeben, tollen Bilder Ihrer Tochter.«
»Da bringen Sie mich auf eine Idee, Gerd. Bin ich noch gar nicht drauf gekommen. Aber wir sollten jetzt doch ...«
»Studiert sie eigentlich immer noch an der Kunstakademie in Berlin?«
Rainer Mangold stellte in dem Augenblick seine Kaffeetasse mit solch einem Schwung auf die Untertasse, dass es klirrte. Deckstein und Overdieck zuckten zusammen.
»Ach, komm, Taps, hör auf zu schleimen«, fuhr ihn Mangold unwirsch an. »Daniel hat doch gerade gesagt, dass es Wichtigeres zu besprechen gibt.«
»Kein Schleimen, Schnüffel. Du verstehst eben nichts von Kunst und ...« Overdieck kam nicht dazu, weiterzusprechen. Mangold hob die Hand auf eine Weise, die ihn sofort innehalten ließ.
»Was ist los, Rainer? Sie sind heute irgendwie komisch«, sagte Deckstein.
»Ja, ich weiß auch nicht. Diese ganze Geschichte, an der wir nun schon monatelang arbeiten, hinterlässt wohl bei mir ihre Spuren. Ich bin inzwischen fast süchtig nach Süßem«, erklärte Mangold.
»Nichts Neues für uns, Rainer«, spöttelte Overdieck.
»Ist aber wirklich so. Ich brauche mehr Nervennahrung als sonst«, sagte Mangold und fuhr an Deckstein gewandt fort: »Vor allem, wenn der Taps hier solche Sachen erzählt. Haben Sie nicht für einen ängstlichen Menschen noch ein paar Kekse hier rumliegen?«
»Mensch, ich dachte, du wolltest was Wichtiges sagen! Und überhaupt, du riechst doch sonst alles«, brummte Overdieck. »Da links, direkt vor deiner Nase, steht auf dem kleinen italienischen Designer-Glastisch eine ganze Schachtel.«
»Lass gut sein, Gerd«, sagte Deckstein. »Die letzten Monate waren wirklich ein Schlauch. Manch einer hätte uns für bekloppt gehalten, so wie wir an der Geschichte gearbeitet haben. Wie die Besessenen. Tag und Nacht, hätte ich fast gesagt.«
Deckstein gab den beiden einen kurzen Überblick über das, was der Aufseher gesagt hatte. Vor allem Wedelmeyers Darstellung, wie sich Genske umgebracht haben sollte, schilderte er ihnen ausführlich. Und dann kam er zu dem ominösen Anruf. »Wedelmeyer ist überzeugt, dass wir beobachtet und womöglich auch abgehört werden.
Der hat uns total nervös gemacht mit seinem Gehabe. Bevor wir nach dem Interview losgefahren sind, haben Alex und ich das ganze Auto nach versteckten Wanzen abgesucht.«
Mangold und Overdieck sahen sich betroffen an. Bevor sie etwas sagen konnten, klingelte das Telefon auf Decksteins Schreibtisch.
»Moment, ich geh mal gerade dran«, sagte Deckstein und hielt den Zeigefinger vor den Mund. Gleichzeitig nahm er das Gespräch auf dem schnurlosen Telefon an, das auf dem Beistelltisch neben ihm lag.
»Deckstein …, ach, Ulla, du bist es. Wer ist dran? Was sagst du, der ist ungehalten?« Er warf den beiden anderen einen bedeutungsvollen Blick zu. »Moment, ich stell gerade mal auf laut. Gerd und Rainer sollen mitbekommen, was der Würselen zu sagen hat. Okay, funktioniert. Jetzt kannst du durchstellen … Deckstein«, sagte er in die Sprechmuschel.
»Schön, dass ich Sie gleich erreiche, Herr Deckstein. Ich muss unbedingt mal mit Ihnen sprechen. Bei mir klingelt seit heute Morgen ununterbrochen das Telefon. Die Vorstände von unseren Mitgliedsfirmen rufen mich an und beschweren sich über Sie. Mein Gott, lassen Sie doch diese alten Kamellen ruhen!«
Overdieck und Mangold erstarrten. Sie hatten die Stimme erkannt – Matthias Würselen, der Präsident des Deutschen Atomvereins.
»Herr Mangold und sein Kollege, der Herr Overdieck, waren ja kürzlich auch bei mir und haben mir Löcher in den Bauch gefragt. Halt ich ja aus. Bei mir beißen die ja, wie Sie wissen, auf Granit. Aber seit Wochen, was sage ich, seit Monaten nerven die beiden nicht nur einige Vorstände unserer Mitgliedsfirmen mit ominösen Fragen zu diesem alten Skandal, auch aus Regierungskreisen gibt es immer wieder Anfragen. Die Leute wollen von mir wissen, ob da noch was auf sie zukommen könnte ...«
Deckstein spürte förmlich die Erregung des Präsidenten. Der schneidende Unterton überdeckte das Vibrieren in seiner Stimme nur unzureichend. »Sie wissen doch auch, wo Menschen arbeiten ...«
Würselen hielt inne und räusperte sich. Er musste bemerkt haben, dass er dabei war, sich zu verhaspeln. Schließlich hatte die Atomwirtschaft immer wieder betont, dass sie über ein absolut sicheres Konzept verfüge. Der Einzelne könne gar keine krummen Sachen machen. Ein wenig verbindlicher fuhr er fort: »Herr Deckstein, Sie machen doch ein professionelles, modernes Blatt. Wird auch bei uns in der Branche viel gelesen. Warum wollen Sie sich unbedingt den Ruf kaputtmachen? Der Skandal ist doch längst begraben, vergessen. Der modert ja schon richtig vor sich hin ...«
Deckstein ließ ihn nicht ausreden.
»Die Sache hat seit damals ihren üblen Geruch keineswegs verloren, Herr Würselen«, sagte er kühl. »Vergessen Sie nicht, da sind Menschen in Ihrer Branche auf brutale Art und Weise umgekommen. Ich frage Sie: warum? Weil sie zu viel wussten? Damals ist Bombenstoff verschwunden. Wohin? Nach Libyen, Pakistan und von da zu islamistischen Terrorgruppen? Bis heute will niemand aus Ihren Kreisen angeblich Genaueres wissen oder gewusst haben.«
»Das wurde doch alles aufgeklärt und ...«, warf Würselen ein.
»Aufklärung nennen Sie das?«, unterbrach Deckstein den Atomvereinspräsidenten. »Der Skandal wurde genau so wenig aufgearbeitet wie der von dem atomaren Zwischenendlager Asse. Keiner weiß so richtig, was es eigentlich sein oder werden soll. Erst heute, Herr Würselen, erst heute, nach mehr als zwanzig Jahren, kommt scheibchenweise zutage, dass in dem sogenannten Zwischenendlager in Niedersachsen kiloweise Plutonium, also Stoff für etliche Atombomben lagert, den Kontrollen entzogen und ...«
»Das behaupten Sie«, ging Würselen dazwischen.
»Nein, Herr Würselen, Sie wissen genau so gut wie ich, dass dies das Ergebnis der ersten stichhaltigen Bestandsaufnahme durch Experten ist. Das belegen auch die Unterlagen der Staatsanwaltschaft, die den Hanauer Atomskandal untersucht hat. Ich erinnere nur mal an Genske. Der Name sagt Ihnen noch was?«
»Aber natürlich. Das war doch der, der sich damals ...«
»Vielleicht wusste er auch nur zu viel. Aufgrund unserer bisherigen Rechercheergebnisse stellen wir uns die Frage, wie weit Ihre Branche geht, um ihre Ziele zu erreichen.«
Deckstein zog die Augenbrauen hoch und warf Overdieck und Mangold einen gespannten Blick zu.
»Ich habe gedacht, ich könnte Sie zur Vernunft bringen. Aber ...« Würselen legte auf.
»So nervös hab ich den Mann vielleicht das letzte Mal während der großen Anti-Atomkraft-Demos vor Jahren erlebt«, sagte Deckstein.
»Dieser scheinheilige Klugscheißer!«, empörte sich Over- dieck. Er schaukelte so vehement in seinem Sessel, dass Deckstein ihm einen um das Möbel besorgten Blick zuwarf. »Genske und Co. haben mit Wissen ihrer Bosse den Bombenstoff ins belgische Atomzentrum Mol geliefert. Nach allem, was wir bisher recherchiert haben, bin ich mir inzwischen ziemlich sicher, dass deren Chefs sogar die Strategie dafür entwickelt haben.«
»Und in Mol wurden die schon sehnsüchtig von den pakistanischen Atomwissenschaftlern erwartet«, ergänzte Deckstein. »Wie Sie wissen, kriegt die Atombombe aber erst mit Tritium die richtige Sprengkraft. Das haben die Hanauer auch dahin geliefert. Sabine und ich haben das recherchiert. Wir liefern diesen Teil zur Titelgeschichte dazu. Das war nicht nur ein ganz dickes, sondern auch ein ganz gefährliches Geschäft. Und über all das wusste der Genske zu viel. Auch deswegen sind wir uns sicher, dass mit Genskes Tod etwas nicht stimmt.«
Overdieck und Mayer sahen ihn entgeistert an.
»Waren die meschugge? Woher wissen Sie ...?«, fragte Mayer und tippte sich an den Kopf.
»Hinter dem Tritium waren damals auch einige Atommächte her«, erklärte Deckstein.
»Es ist einfach unfassbar«, empörte sich Mangold, »da taucht plötzlich irgendwo kiloweise Plutonium auf und keiner wusste vorher, dass es das gibt! Das hatte niemand in den Büchern. Und dann behaupten diese Kerle in Wien von der IEAO oder auch diese Atomkontrolleure von Euratom, ihnen entginge aber auch gar nichts! Zumindest die hätten wissen müssen, wie viel Plutonium ins Lager Asse gekippt worden ist!« Mangold war außer sich. »Für mich steht fest, dass die überhaupt keinen Durchblick mehr hatten!«
»Die hatten noch nie einen, Schnüffel«, sagte Overdieck ruhig. »Im belgischen Mol sind Unmengen Tonnen an atomarem ›Abfall‹ unbemerkt verschwunden. Das zumindest steht hundertprozentig fest. Dieser sogenannte ›Abfall‹ war mit angereichertem Plutonium und Uran versetzt und behaftet. Glaubst du denn, deshalb wäre auch nur einer von der Regierung oder der Atomwirtschaft im Karree gesprungen? Oder wie das HB-Männchen unter die Decke gegangen? Nicht einer! Dass diese Mengen in dunklen Kanälen, vermutlich in Pakistan, versickert sein könnten, hat niemanden dort aufgeregt. Die waren ausschließlich mit dem Herunterspielen und Vertuschen der ganzen Sache beschäftigt.«