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6 Berlin, Bundeskanzleramt

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Die »Nachrichtendienstliche Lage«, kurz »ND-Lage«, fand gewöhnlich in einem abhörsicheren Raum im Kanzleramt statt. Jeden Dienstag um zehn Uhr tagten hier unter der Leitung des Chefs des Kanzleramtes, Minister Mombauer, die Präsidenten vom Militärischen Abschirmdienst, dem Verfassungsschutz, des BND und der Chef des BKA.

Mit am Tisch saßen die Staatssekretäre des Auswärtigen Amtes, des Verteidigungsministeriums und des Innenminis- teriums. Im Anschluss an die ND-Lage fand jeden Dienstag in kleinerer Besetzung die Präsidentenlage statt. Die jeweiligen Dienste-Chefs nutzten die Lage, um den Chef-BK über die verschiedenen Projekte zu unterrichten.

Gelegentlich leitete Werner Brandstetter, Geheimdienstkoordinator und Chef der Abteilung sechs des Kanzleramtes, im Auftrag Mombauers die Zusammenarbeit der verschiedenen Dienste.

An einem Ende des Besprechungsraumes waren riesengroße Bildschirme in die Wand eingelassen. Darüber wurden während der ND-Lage bei Bedarf per Videokonferenz aus aller Welt wichtige Informationen eingespeist oder Mitarbeiter aus Krisengebieten zugeschaltet. Wenn sie ausgeschaltet waren, spiegelten sich die zahllosen Spots, die in die Decke des riesigen Besprechungsraumes eingelassen waren, auf den Monitoren und ergaben ein faszinierendes, funkelndes Lichtbild.

Mit einem Ruck riss Brandstetter die Tür auf.

Die beiden Herren, die an dem großen Konferenztisch saßen und sich in gedämpftem Ton unterhielten, zuckten zusam- men. BKA-Chef Walter Mayer und der Chef des BND, Richard Grossmann, erhoben sich und gingen dem Geheimdienstkoordinator der Bundesregierung mit verhaltenen Schritten entgegen.

»Eine Katastrophe, meine Herren!«, rief Brandstetter und stürmte wie ein Boxer im Ring auf sie zu. Im Vorbeigehen gab er Mayer und Grossmann kurz die Hand.

Mayer nickte. »Das können Sie laut sagen. Noch«, sagte er und zögerte einen Moment, bevor er weitersprach, »leben wir am Rand der Apokalypse.«

»Und hoffentlich schlittern wir da nicht mitten ...«, sagte Brandstetter, als sich die Tür wieder öffnete.

Herein trat flotten Schrittes der bullige Generalinspekteur der Bundeswehr, Volkmar Wildhagen. Die Dienstmütze mit dem goldgewirkten Eichenlaub auf dem Schirm hatte er unter seine rechte Achsel geklemmt.

»Moin, Moin, meine Herren.«

»Ich danke Ihnen, dass Sie so schnell rübergekommen sind«, sagte Brandstetter an den Generalinspekteur gewandt. Dann schaute er Mayer und Grossmann an und machte mit der Rechten eine einladende Geste. »Aber bitte, meine Herren, nehmen Sie doch wieder Platz. Angesichts der neuen Lage habe ich General Wildhagen gebeten, an unserer Sitzung teilzunehmen. Sie kennen sich ja.«

Die Herren nickten sich zu.

Mit energischen Schritten marschierte Brandstetter auf den Konferenztisch zu. Für einen Mann, der knapp einen Meter siebzig maß, legte er ein enormes Tempo vor.

»Herr Wildhagen, setzen Sie sich doch bitte da vorn neben mich, gleich zu meiner Rechten. Bei der Beurteilung der atomaren Variante der Amerikaner brauchen wir alle hier unbedingt Ihre Analyse zu den möglichen Konsequenzen.« Als alle Platz genommen hatten, fuhr Brandstetter fort: »Meine Herren, lassen Sie uns rasch zur Sache kommen. Herr Mayer und Herr Grossmann, ich möchte Ihnen noch einmal sagen, dass ich Ihre Bereitschaft, so früh am Morgen hierher zu fliegen, schon richtig einzuschätzen weiß.«

»Machen Sie sich keine Gedanken, wir sind es gewohnt, früh aufzustehen«, sagte Mayer. Grossmann nickte.

»Das glaube ich Ihnen. Aber es ist doch was anderes, nach so einer versauten Nacht mal eben schnell frühmorgens mit dem Hubschrauber von Ihrer Tagung in Meckenheim hier rüberzudüsen. Wir alle haben ja kaum ein Auge zugetan. Aber angesichts der dramatischen Lage habe ich keine andere Möglichkeit gesehen.« Brandstetter zuckte mit den Schultern. »Wenn wir nachher durch sind, fliegen Sie gleich anschließend wieder zurück nach Meckenheim, ist mir berichtet worden. Oder bleiben Sie noch in Berlin?«

Mayer schüttelte den Kopf. »Da nun schon mal alle Chefs der Dienste in Meckenheim versammelt sind, haben wir beschlossen, die Lagebeurteilung dort gemeinsam fortzusetzen. So verlieren wir keine Zeit mit dem Hin- und Her. Offiziell geht die Tagung mit den bisher angesetzten Themen weiter. Inoffiziell beraten wir natürlich die völlig neue zugespitzte Situation. Und da unsere BKA-Dependance ja auch mit unserem Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum in Berlin kurz geschaltet ist, vermissen wir in Meckenheim so gut wie nichts.«

»Verstehe.«

»Und außerdem, Herr Brandstetter«, fuhr der BKA-Chef fort, »befindet sich da ja auch unsere Abteilung für Terrorismusbekämpfung. Wir sind da also in besten Händen.«

»Und Sie, Herr Wildhagen, waren, wie ich erfahren habe, gerade beim Verteidigungsminister hier in Berlin?«, fragte Brandstetter. »Dann war's für Sie ja nur ein Katzensprung.«

»Beim Staatssekretär«, sagte der Generalinspekteur, der Brandstetter fast um einen Kopf überragte. Er legte seine Dienstmütze neben seiner schmalen schwarzen Mappe mit den Unterlagen auf den Tisch.

»Ich glaube, ich habe Ihnen bereits mitgeteilt, dass die Kanzlerin ihren Besuch beim französischen Präsidenten vorzeitig abgebrochen hat«, fuhr Brandstetter fort.

Mayer und Grossmann entgegneten wie im Chor: »Nein, davon haben Sie nichts gesagt.«

Brandstetter sah die beiden mit großen Augen an und warf dann einen fragenden Blick zum General hinüber. Als der ebenfalls den Kopf schüttelte, sagte er:

»Ich glaube, so einen irren Tag hab ich in meiner ganzen Dienstzeit noch nicht erlebt. Heute geht wirklich alles durcheinander! Entschuldigung. Dann habe ich es Ihnen hiermit jetzt gesagt. Zunächst habe ich eine Frage an Sie, Herr Mayer: Sind wir im Kanzleramt überhaupt noch sicher? Wir können ja nicht die Kanzlerin hierher zurückkommen lassen, und dann macht es plötzlich wumm, und die angekündigte nukleare Bombe explodiert genau hier!« Mit einem heftigen Ruck riss er die Arme in die Höhe. »Vergessen Sie nicht, meine Herren«, sagte er, als er die erstaunten Blicke der drei Kollegen am Tisch sah, »dass wir hier keinen Atombunker haben.«

»Dann geb ich Ihnen am besten rasch mal einen Überblick über das, was bereits für das Regierungsviertel veranlasst wurde«, schlug Mayer vor. »Ich habe mich darüber mit Herrn Conradi abgestimmt. Wie Sie wissen, ist er mein Kompagnon in solchen Krisenlagen im Lage- und Führungszentrum hier im Innenministerium. Hier ist die Unterlage dazu, für den Bericht an die Kanzlerin.« Er schob Brandstetter über den Tisch zwei eng beschriebene Seiten zu. »Ich denke, es genügt, wenn der Chef BK, Herr Mombauer, der Kanzlerin das Wesentliche daraus kurz vorträgt.«

Brandstetter nickte. »Sehe ich auch so.«

»Also, für alle Eventualfälle haben wir angefangen, den alten Atombunker aus DDR-Zeiten unter dem nahegelegenen Excelsior-Haus herzurichten« erklärte der BKA-Chef.

»Meinen Sie das im Ernst?«, fragte Brandstetter mit fast belustigter Miene. »Diesen alten stinkigen Bunker? Da wollen Sie wirklich die Kanzlerin unterbringen? Und die Verpflegung? Woher nehmen Sie die Verpflegung? Wenn Sie die Kanzlerin schon in so einen Verschlag zu bringen gedenken, befürchte ich fast, dass Sie sie auch noch mit Schmalkost bei Laune halten wollen. NATO-Brot und so. Denken Sie dran, eine gute Küche ist in einer solchen Situation Balsam für die Seele ...«

Walter Mayer deutete ein Lächeln an. »Herr Brandstetter, meine Herren, bis jetzt gehen wir nicht davon aus, dass es ein Quartier für längere Zeit sein wird. Ein bis zwei Tage, denke ich, wenn's hochkommt. Sonst müsste ja der gesamte Tross für die ganze Zeit wer weiß, wohin, trampen, jedenfalls von Berlin nach, Sie wissen, wohin ich meine, umziehen.«

»Ja, und die Verpflegung?«, hakte Brandstetter nach.

»Für die kurze Zeit müssen wir, eh, auf einen Aldi in dem Haus darüber zurückgreifen, im Excelsior-Haus ist das, glaub ich, oder direkt daneben ...«

Die anderen Männer am Tisch sahen sich mit ungläubigen Gesichtern an, sagten aber nichts.

»Darüber, Herr Kollege, müssen wir später noch mal sprechen. Was haben Sie denn sonst noch veranlasst? Noch mehr so schöne Überraschungen?« Der Geheimdienstkoordinator warf mit einer unwilligen Bewegung die Blätter vor sich auf den Tisch, die Mayer ihm zugeschoben hatte.

»Für die VIP-Personen haben wir bereits Personenschutz angeordnet«, fuhr der BKA-Chef fort. »Selbst wenn diese Terrorbande erklärt hat, sie habe irgendwo im Land eine nukleare Bombe platziert, können wir zurzeit nicht ausschließen, dass es zu gezielten Anschlägen auf Personen kommt.«

»Auch das noch!«, stöhnte BND-Chef Richard Grossmann. »Ich finde das immer so lästig. Die Kollegen und Kolleginnen, die das Erlebnis neu durchmachen dürfen, werden sich bedanken!«

»Was sonst noch?«, erkundigte sich Brandstetter.

»Für den Bereich des Kanzleramtes und die übrigen Regierungsgebäude haben wir die für einen Übungs- wie auch für den Ernstfall oberste polizeiliche Sicherheitsstufe also ›Konkrete Gefahr‹ angeordnet. Alle zuständigen Einheiten der Berliner Polizei, der Bundespolizei und des Landeskriminalamtes sind alarmiert. Bis jetzt haben wir noch davon abgesehen, Scharfschützen auf den Dächern zu positionieren. Verschiedene Polizeileitzentralen bündeln die von den installierten Videokameras und die über Funk von den Streifenwagen herein gegebenen Daten zu einem Gesamtbild, das in unserem Lagezentrum ausgewertet wird. Das Tunnelsystem unter dem Regierungskomplex ist vorn und hinten abgesperrt. LKW, die die Kanzleramtskantine, die Küche im Bundestag und sonst wen beliefern, werden detailliert mit Detektoren untersucht.«

»Das hört sich schon fast an, als wären wir im Krieg«, murmelte Brandstetter und schüttelte den Kopf. »Der Aufwand, wenn ich mir allein diesen Aufwand vorstelle!«

»Bei der höchsten Alarmstufe geht das eben so ab«, erklärte BKA-Chef Mayer. »Jede Gemüsekiste, aber auch alle Aktentaschen, die Abgeordnete und Mitarbeiter auf dem Laufband im Tunnelsystem transportieren wollen, werden noch akribischer als sonst untersucht.«

Er blätterte in seinen Unterlagen. »Ich seh mal gerade nach. Moment, hier. Nicht, dass ich das vielleicht Wichtigste vergesse: Just in diesen Augenblicken beginnt eine ABC-Einheit der Bundespolizei, ausgerüstet mit Spürgeräten und dazu entsprechend entwickelten Robotern, ihre Untersuchung hier im gesamten Umfeld. Sie nimmt alle denkbaren Platzierungen für eine nukleare Bombe unter die Lupe.«

»Wahnsinn, Herr Mayer, der reine Wahnsinn! Gut, ich berichte Mombauer gleich alles so, wie Sie es mir aufgeschrieben haben, und werde ihm dazu noch ein paar Erläuterungen geben. Übrigens, so eine ND-Lage wie heute Morgen habe ich auch noch nicht erlebt. Ziemlich konfus. Sie, meine Herren, wie ja auch der Kollege vom Verfassungsschutz, aber auch Ihr Mitarbeiter vom MAD«, er sah den General an, »konnten ja wegen Ihrer Tagung in Meckenheim leider nicht teilnehmen. Ich hatte also nur die Staatssekretäre am Tisch.«

»Vor allem hat uns die Erklärung des US-Verteidigungs- ministers ja erst vor knapp zwei Stunden erreicht, also mitten in unserer Morgensitzung, eigentlich war es schon eher eine Nachtsitzung«, sagte Brandstetter und trommelte mit seinem rechten Zeigefinger auf die Tischkante, als triebe ihn ein innerer Rhythmus an.

»Also, Herr Brandstetter«, unterbrach ihn der BND-Chef, »mit diesem Getrommel machen Sie mich und«, er sah in die Runde, »ich glaube uns alle hier noch nervöser, als wir es sowieso schon sind!« Mit einem verkniffenen Lächeln sah er zum Generalinspekteur hinüber: »Herr Wildhagen ist vielleicht als Einziger von uns an Trommelfeuer gewöhnt.«

»Inzwischen sind es mehr die verbalen Polittrommler, die mein Gehör strapazieren«, erwiderte der Generalinspekteur mit einem süffisanten Lächeln.

Brandstetter nahm die Hand vom Tisch. »Also, in der Sitzung heute früh, ich glaube, es war so um sieben, dass uns die Absicht der Amerikaner bekannt wurde. Auf einmal saßen alle hellwach in ihren Stühlen. Nach kurzer Debatte haben wir einstimmig beschlossen, sofort die Kanzlerin in Paris davon zu unterrichten.«

»Vielleicht sollte ich jetzt mal was sagen, Herr Brandstetter«, meldete sich der Generalinspekteur zu Wort. »Die Erklärung der USA ...« Er hielt inne.

»Es ist wohl besser, wenn ich mich an das halte, was meine Kollegen mir aufgeschrieben haben. Moment bitte ...«

Während er sprach, suchte er nach der Unterlage in seiner Mappe. Schließlich zog er einige eng beschriebene Blätter daraus hervor.

»Ich will Ihnen das doch korrekt wiedergeben. Jedes falsche Wort kann ja in solch einer Situation ungeahnte Folgen haben. Also, wenn die Amis nach einem Terrorangriff mit einer nuklearen Bombe auf ihrem heimischen Boden jetzt plötzlich beabsichtigen, begrenzt nuklear zurückzuschlagen, eskaliert die Lage fast ins Uferlose. Meine Kollegen haben mir aufgeschrieben, dass die Situation unter diesen Umständen kaum noch beherrschbar wäre. Ich teile diese Meinung voll und ganz.« Wildhagen sah einen nach dem anderen am Tisch mit bedeutsamem Blick an.

Brandstetter sprang auf. »Meine Herren, Sie müssen mich kurz entschuldigen. Ihre Einschätzung, Herr Wildhagen, muss ich sofort an Mombauer weiterleiten. Und auch die Kanzlerin muss umgehend erfahren, wie Sie die Sicherheitslage einschätzen«, rief er und verschwand aus der Tür.

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