Читать книгу Nucleus - Dieter Kassing - Страница 24
12 Moskau, Verteidigungsministerium
ОглавлениеGennadij Blick fiel auf einige Notizen auf dem Deckblatt des Deckstein-Dossiers, das ihm der General übergeben hatte. Rechts oben hatte irgendein GRU-Mitarbeiter aus der Berliner Botschaft in krakeliger Schrift etwas notiert, was er nur mühsam entziffern konnte: »Unbedingt mit Gennadij Schtewsch. Kontakt aufnehmen!«
Auf der Innenseite des Deckblattes stand: »Daniel Deckstein, geboren 24.10.1951 in Düsseldorf. Vater ...« Gennadijs Augen wanderten weiter hinunter: »Volontierte bei verschiedenen Tageszeitungen. Später Redakteur beim Hamburger Nachrichtenmagazin. Seit drei Jahren Chefredakteur vom Energy Report mit Sitz in Bonn. Wohnt in Köln ...«
Das alles war für Gennadij nichts Neues. Auch nicht, dass Danie vor vier Jahren geschieden worden war. Dann las er weiter: »Zwei Kinder. Tochter studiert Kunst in Berlin. Sohn lebt mit Familie in Düsseldorf. Exfrau wohnt mit neuem Partner im Haus in der Nähe von Bonn (Oberdollendorf).«
Wo die das bloß alles herhaben!, dachte Gennadij. Sein Verdacht, dass bei ihren Gesprächen in Moskau oder auf Danies Reisen zu den Atomkraftwerken immer jemand dabei gewesen sein musste, den er nicht wahrgenommen hatte, wuchs weiter. Der Inlandsgeheimdienst hatte unsichtbar immer mit am Tisch gesessen. Entweder war es Elena gewesen, die entsprechende Berichte geschrieben hatte, oder sie waren die ganze Zeit über abgehört worden.
Bevor er, wie von Victor und dem Auslandsgeheimdienst gewünscht, von Berlin aus Kontakt mit Danie aufnahm, würde er Victor gleich auf seinen dicken Bauch tippen. Der musste jetzt mit der Wahrheit rausrücken. Anderenfalls? Anderenfalls – Gennadij überlegte einen Moment. Was er anderenfalls tun würde, darüber würde er während des Fluges nachdenken, beschloss er. Ihm würde da schon was einfallen ...
Er las weiter. Jetzt wurde es interessant. Gennadij erkannte, wo sie ansetzen wollten, um Danie in die Finger zu bekommen.
»Aufgeschlossen gegenüber slawischen Frauentypen, groß, langbeinig«, stand da. Aber damit würden sie Danie nicht mehr einfangen können, dachte Gennadij und musste lächeln. Er wusste immer noch nicht genau, was sie von Deckstein wollten. Es folgten Hinweise, nach welchem Muster die Frauen auszusuchen seien, die auf den Journalisten angesetzt werden sollten. Und dann kamen noch ein paar Informationen zu seinem Bankkonto und darüber, dass seine Eigentumswohnung in Köln noch nicht abbezahlt war.
Auf den ersten Blick schienen die wirklich gut informiert zu sein, das musste Gennadij zugeben. Vermutlich hatten sie mehrere Leute auf Danie angesetzt. Zusätzlich hatten sie mit Sicherheit ihre großen Lauscher ganz weit aufgestellt und in den Äther hineingehorcht. Hatte der Geheimdienst mehr Informationen als er? Wieso sollte Danie mit Frauen erpressbar sein? Gennadij las weiter.
»Das Magazin Energy Report, bei dem Deckstein Chefredakteur ist, arbeitet an einer Geschichte, die Auswirkungen auf die Atompolitik der deutschen Regierung und auf den Bestand der Regierung überhaupt haben könnte.«
Als Gennadij den nächsten Absatz las, wurde ihm plötzlich einiges klar.
»Deckstein sollte zu Gesprächen über die künftige Energiepolitik des Landes und der Energie-Beziehungen zu Russland nach Moskau eingeladen werden.« Und weiter: »Den Mann ködern mit dem Hinweis, Moskau verfüge über Kenntnisse zu den tatsächlichen Ölvorräten in Nahost.«
Wahrhaftig ein verlockender Köder für Danie!, dachte Gennadij. Einem Magazin, das belastbare Zahlen über dieses Thema veröffentlichte, wäre weltweite Aufmerksamkeit gewiss. Darauf würde Danie sofort anspringen, da war sich Gennadij sicher. Schon lange wurde in den internationalen Wirtschaftsmagazinen darüber spekuliert, dass die arabischen Ölstaaten ihre Zahlen über die tatsächlichen Ölvorkommen in ihren Ländern schönten.
Aber was die Geheimdienstleute wirklich mit Danie vorhatten, wenn sie ihn in Moskau erst in den Fingern hatten, erschloss sich ihm immer noch nicht. Er zermarterte sich das Hirn. Victor hatte davon gesprochen, dass Deckstein und sein Team an einer Story über Unsicherheiten im Atomsektor arbeiteten. Darin würde es auch um die ungesicherten Moskauer Nuklearstoffe gehen. Wollten sie Danie zwingen, plausible, aber gefälschte Unterlagen darüber zu veröffentlichen? Dazu mussten sie aber irgendwas in die Hände bekommen, mit dem sie ihn erpressen konnten.
Gennadij klappte das Dossier zu und stand auf. Er würde seinem Freund Victor, dem er inzwischen manche Schweinerei zutraute, wichtige Fragen stellen müssen. Außerdem überlegte er, wie er Danie am besten davon abhalten könnte, nach Moskau zu kommen. Auch vor Elena würde er ihn warnen. Wieder einmal ...
»Ich bringe Sie gerne zu Victor«, sagte die dralle Blondine, die Gennadij herbeigewunken hatte, und geriet ins Stottern. »Äh, ich meine natürlich, zum ...«
»Lassen Sie nur«, sagte Gennadij und winkte ab. »Mir gegenüber können Sie ihn gerne Victor nennen. Ist ja mein Freund. Ich sag ihm auch nicht, dass Ihnen das rausgerutscht ist. Außerdem habe ich doch vorhin mitbekommen, dass er Sie auch in ganz vertraulichem Ton mit Asja angesprochen hat ...«
»Mich?«, fragte sie mit solch entwaffnender Unschuld, als könne sie kein Wässerchen trüben.
»Ja doch, Sie. Wen denn sonst!«, sagte Gennadij, »Eben, als er mit Ihnen drüben ins Separee gegangen ist.«
Asjas Gesicht war plötzlich von einer flammenden Röte überzogen. Sie presste die Lippen aufeinander und führte ihn wortlos an dem langen Tresen vorbei. Gennadij ließ seinen Blick über die Regale hinter der Theke schweifen. Dort mussten Hunderte Flaschen Wodka und Cognac stehen, überschlug er rasch.
Asja räusperte sich. »Wir sind gleich da. Aber vorher möchte ich Ihnen noch sagen: Es ist nicht so, wie Sie denken!«
Gennadij erwiderte nichts. Sie bogen gerade in einen dunkleren Gang ein, und er musste sich neu orientieren. Nur eine einzelne schwache Birne, die in der Fassung von der Decke herunterhing, spendete ein wenig Licht.
Asja ging zielstrebig voraus. Sie schien sich gut auszukennen und klopfte an eine der vielen Türen. Gennadij war hier noch nie gewesen. Er vermutete, dass die Zimmer rechts und links vom Gang nicht nur Besprechungen dienten. In einigen Metern Entfernung hörte er Victors Stimme. Der General rief nach ihm.
»Gennadij, mein Freund, wo bleibst du denn? Komm zu mir. Hier ... Du kannst uns gleich allein lassen, Asja, mein Täubchen.«
»Victor, nicht so laut!« Asja senkte den Blick.
Der General erhob sich mit einer flinken Bewegung von einem mit dunkelrotem Samt bezogenen Sofa. Vor ihm auf dem Tisch standen mehrere kleine Wodka- und Cognacflaschen. Er hatte sich offenbar gerade nachgeschenkt – das Glas war noch voll.
Gennadij entdeckte zu seinem Erstaunen einen großen Kamin, in dem ein kräftiges Feuer brannte, aber es herrschte nicht eine so erstickende Wärme wie in dem großen Barraum. Sein Blick fiel auf eine Tür, die in ein weiteres Zimmer führte. Sie war nur angelehnt. Gennadij sah durch den Spalt, dass dort ein breites Bett stand.
Der General hatte Gennadijs Blick bemerkt. Er ging seinem Freund entgegen und zog ihn zu einem ausladenden, ebenfalls mit rotem Samt bezogenen Sessel, der mit dem Rücken zur angelehnten Schlafzimmertür stand.
»Komm, Gennadij, setz dich hierher!« Mit seinen fleischigen Fingern schob der General ein Cognac- und ein Wodka-Glas zu Gennadij hinüber. »Danke, Asja, wir sind jetzt gut versorgt«, sagte der General. Aus den Augenwinkeln sah Gennadij, dass Victor dem Mädchen ein heimliches Zeichen gab. Kurz bevor Asja verschwand, hörte er, wie die Tür zu dem Nebenraum geschlossen wurde.
Der General erhob sein Wodkaglas. »Oder möchtest du etwa wieder einen Kaffee?«, fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Mensch, Victor, ich will doch nicht mit einer Schnapsfahne ins Flugzeug steigen! Und nachher in Berlin beim Zoll brauch ich auch einen klaren Kopf. Aber gut, einen Cognac kann ich mir vielleicht genehmigen ...«
»Do dna', bis zum Boden«, rief der General. Mit einem Ruck setzte er sein Glas an die Lippen und kippte den Inhalt hinunter. Dann stellte er es mit Schwung wieder auf den Tisch. Das war so schnell gegangen, dass Gennadij es gar nicht richtig mitbekommen hatte. Erst jetzt nippte er an seinem Glas.
»Ich hab übrigens eben aus Versehen deinen Wodka ausgetrunken. Das Glas stand direkt vor mir, warum auch immer.«
»Nicht, dass du mir noch das Saufen anfängst!«, rief der General und lachte dröhnend.
Gennadij schmunzelte. »Ich war völlig in das Dossier über Deckstein vertieft und hab dann ganz in Gedanken nach deinem Glas gegriffen.«
»Die Katze lässt das Mausen nicht, Gennadij!«, sagte der General grinsend und drohte ihm scherzhaft mit dem Zeigefinger. »Du hast früher ganz schön gesoffen, mein Lieber!«
»Das ist vorbei, Victor. Außerdem hab ich ja gesagt, dass ich einen Cognac trinke. Aber es wäre gut, wenn Asja mir auch noch eine Cola dazu bringen könnte.«
»Dieses Amizeugs? Willst du dich umbringen? Na gut, wenn du unbedingt willst. Ich ruf sie an«, sagte der General und griff nach dem Hörer des Telefons, das vor ihm auf dem Tisch stand. Kaum hatte er aufgelegt, erschien Asja schon in der Tür. Als hätte sie Gennadijs Wunsch durch die Tür gehört.
»Hast du das Dossier ganz durchgelesen?«, fragte Victor, als Asja die Tür wieder hinter sich zu gemacht hatte. »Oder hast du wenigstens da oder dort genauer reinsehen können?« Der General beugte sich zu Gennadij und senkte die Stimme. »Lieber Freund, wir müssen von Mann zu Mann reden. Der GRU will, dass wir den Deckstein zu uns einladen, und auch wir könnten Honig aus dieser Sache saugen.« Er sah an die Decke: »Übrigens, wir können hier ganz offen reden. Obwohl es das Zimmer mit unseren Abhörmikrofonen ist. Hierher laden wir gern unsere Gäste ein«, erklärte er lachend.
Gennadij sah ihn empört an.
»Nicht, dass du was Falsches denkst. Das Schlafzimmer nebenan ist nicht für mich«, fuhr der General fort.
»Auch das ist für unsere Gäste. Dann und wann bekommt der eine oder andere, wenn er uns wieder verlässt, schon mal einen netten Film mit auf die Rückreise. Er soll uns doch in bester Erinnerung behalten!«, verkündete er augenzwinkernd.
»Unser Gespräch wird natürlich nicht mitgeschnitten, lieber Freund! Ein Scherz. Entschuldige bitte. Ich habe natürlich dafür gesorgt, dass die Anlage jetzt abgeschaltet ist. Aber ich find es hier einfach gemütlicher als drüben. Außerdem weiß ich, dass hier wirklich niemand mithört.«
»Manchmal bist du ein richtiger Teufel, Victor! Dann krieg ich regelrecht Angst vor dem General in dir«, sagte Gennadij. »Dabei bin ich schon nervös genug! Mein Trip nach Berlin ist ja kein Erholungsausflug. Da musst du mich nicht noch zusätzlich erschrecken. Warum bist du eigentlich vorhin, als wir da drüben gesessen haben«, Gennadij zeigte in Richtung des großen Barraums, »und du über den Geheimdienst gesprochen hast, so leise geworden, dass ich dich kaum noch verstehen konnte?«
»Gewohnheit, mein Lieber, nichts als Gewohnheit«, erklärte der General mit treuem Augenaufschlag.
Dann holte er tief Luft und beugte sich noch weiter vor. Gennadij fühlte sich in diesem Moment an eines dieser Monster erinnert, die er in einem Science-Fiction-Film bei widerlichen, mordgierigen Aktionen gesehen hatte.
Victors ohnehin gewaltiger, im Augenblick schweißnasser Schädel wirkte im grellen Licht der Hängelampe noch riesenhafter. Rechts und links vom Kopf waren nur die bulligen Schultern zu sehen, unter denen der massige Bauch des Generals hervorquoll.
Ganz in Gedanken trommelte Victor mit den Fingern einen Marsch auf der Couchtischplatte. »Also, Gennadij, bevor wir zum Deckstein-Bericht kommen, will ich dir erzählen, was mich in der letzten Zeit sehr beschäftigt hat. Ich kann's immer noch nicht fassen!« Er schüttelte sein massiges Haupt so heftig, dass ihm eine lange Haarsträhne ins Gesicht fiel. Mit einer schnellen Handbewegung klebte er sie wieder an seinen Kopf.
»Wie tief ist unser früher so großes, gutes Mütterchen Russland doch gesunken! Heute hat nicht mal mehr die Armee genug Geld, um einen so guten Arzt wie dich zu bezahlen. Und anderen guten Männern, selbst manchen Atomwissenschaftlern, unseren Helden von gestern, geht's ebenso.«