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7 Köln – Bonn
ОглавлениеDeckstein beschloss, seine rassige Verfolgerin im Auge zu behalten. Vielleicht war es ja doch Elena. Möglicherweise hatte sie ihn vorhin nicht erkannt.
Die sanften, grünen Hügel des Siebengebirges kamen in seinen Blick. Hoch auf dem Petersberg thronte das ehemalige Gästehaus der Bundesregierung. Der Blick weckte Erinnerungen an alte Zeiten, schöne Zeiten. Damals war Deckstein mit seiner Frau Cora und den Kindern Corinna und Nico fröhlich durch die Wälder da oben getobt. Anschließend hatten sie in einem der gemütlichen Restaurants Kaffee getrunken und den weiten Blick über die Rheinlandschaft genossen. Danach waren sie zusammen in das kleine Weinörtchen Oberdollendorf gefahren. Dort hatten sie in einem schmucken, alten Winzerhäuschen gewohnt. Inzwischen waren sie geschieden. Cora wohnte aber immer noch in ihrem Haus am Fuß der sieben Berge. Sein Sohn Nico hatte geheiratet und lebte mit seiner Frau in Düsseldorf. Corinna studierte Kunst in Berlin.
Ein plötzlicher Gedanke riss Deckstein aus seinen Erinne- rungen. Corinna würde am Mittag oder Nachmittag aus Moskau zurückkehren. Er musste in seinem Handy nachsehen. Da hatte er sich eine Notiz gemacht. Seine Tochter hatte sich in Moskau mit einigen Kommilitonen unter Führung ihres Berliner Kunstprofessors russische Kunstschätze ansehen wollen. Er musste sie unbedingt anrufen.
Weiter vorne sah er nun schon die Südbrücke. Rechts von ihm, aus den Baumspitzen ragten die Zinnen und Türmchen des »Schlosshotels Kommende«. Ein Meilenstein in seinem Leben. Hier hatte vor einigen Jahren sein Sohn geheiratet. Da hatten sie noch alle zusammen gefeiert. Die ganze Familie. Die gab's nun so nicht mehr. Er gab Gas.
Auf der Südbrücke angekommen, fiel Decksteins Blick unwillkürlich über die Rheinaue hinweg auf das ehemalige Regierungsviertel. Früher war es von dem »Langen Eugen« dominiert worden. Der kleinwüchsige Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier habe sich hier in seiner Amtszeit ein über hundert Meter hohes Denkmal errichtet, so wurde gelästert.
Aber die Zeiten hatten sich geändert. Das bezeugte am sichtbarsten der fünfzig Meter höhere Posttower, der erst vor einigen Jahren in unmittelbarer Nachbarschaft errichtet wor- den war. Der Spiegel hatte die damalige Oberbürgermeisterin Bärbel Dieckmann mit dem Ausspruch zitiert, das Postgebäude symbolisiere Bonns Zukunft als Wirtschaftsstandort. Das ehemalige »politische Viertel« von Bonn mutierte dann auch nach dem Umzug der Regierung nach Berlin immer mehr zum Campus der Gelben Post.
Es ist noch gar nicht so lange her, dachte Deckstein, da war das »politische Viertel« für viele noch der Nabel der Welt. Im Kanzleramt an der Adenauerallee war die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten organisiert worden. Gleich daneben, im Bundestag hatte Atomminister Strauß die Atomtechnik zur »bundesdeutschen Existenzfrage« gemacht.
Decksteins Blick wanderte hinüber zu dem breiten, schein-
bar träge dahin fließenden Rhein. Die Sonne spiegelte sich so stark auf der Wasseroberfläche, dass es ihn trotz seiner Brille, die bei hellem Licht zur Sonnenbrille wurde, blendete. In seinem Kopf vermischte sich der Anblick mit Bildern von der Alster. Er musste an Hamburg und das große Nachrichtenmagazin denken, das er erst vor wenigen Jahren verlassen hatte, um den reizvollen Job in Bonn anzutreten.
Von der Brücke aus konnte er flussabwärts das Verlagshaus auf der gegenüberliegenden Rheinseite erkennen. Er sah auf die Uhr. Verflixt, er hatte doch die Nachrichten hören wollen. Mit einem schnellen Griff drehte er das Radio an. Zucchero sang. Ja, den wollte er unbedingt hören. »I change the world«, das konnte nur Zucchero so inbrünstig singen. Und anschließend immer dieses laut gestöhnte »Uuch«. Einfach wie bestellt an diesem sonnenbeschienenen Morgen. Für einen Moment vergaß Deckstein die Polizei-Armada. Seine Kopfschmerzen hatten ein bisschen nachgelassen. Mit Genske und dem Atomskandal wollte er sich erst später wieder beschäftigen. Allein die dunkelhaarige Schönheit im Cabrio, die weiter hinter ihm fuhr, mischte sich immer noch in seine Gedanken. Ein Blick zurück – sie war noch da.
Um Zuccheros gutturale Stimme und die Musik dazu richtig in sich aufnehmen zu können, fuhr er langsamer. Er hing fast mit beiden Ohren an den Lautsprechern und nahm mit gierigen Augen die von der Oktobersonne mit warmen Gelbtönen überzogene Bilderbuchlandschaft am Rhein in sich auf. Er hörte die letzten Töne von Zucchero: »Senza una donna I don't know what might follow.« Genauso fühlte er sich. Er wusste nicht, was auf ihn zukam. Was sich aus der unheimlichen Bedrohung entwickeln würde. Was war mit dieser Frau in dem BMW-Cabrio hinter ihm? Wollte sie überhaupt etwas von ihm? Und wie würde es weitergehen mit seiner neuen Liebe, mit Sabine?
»Radio Bonn Rhein-Sieg. Die Nachrichten aus NRW und aller Welt und dann das Wetter.«
Die Stimme des Nachrichtensprechers riss Deckstein, der gerade von der Bonner Südbrücke in Richtung des Verlagshauses abbog, aus seinen Gedanken. Er drehte das Radio lauter.
»Der Bundesinnenminister hat die Präsenz der Bundespolizei nach einer erneuten Terrordrohung an den Flughäfen verstärkt.«
Da war's! Seine Befürchtungen trafen also zu! Bevor Deckstein weiter darüber nachdenken konnte, fuhr der Sprecher fort:
»Wie die Berliner Redaktion der britischen Nachrichtenagentur Reuters erfahren haben will, hat die Bundesregierung heute wegen der aktuellen Terrorgefahr für Deutschland die sogenannte Sicherheitslage einberufen. Nach den Anschlägen am 11. September 2001 ist das erstmals außerhalb des wöchentlich festgelegten Turnus' geschehen.
Reuters will weiter erfahren haben, der Grund für die von der Regierung bisher geheim gehaltenen Sitzung, die Agentur bezeichnete sie sogar als Krisensitzung, sei eine bisher unveröffentlichte Analyse des amerikanischen Geheimdienstes CIA. Darin werde detailliert aufgelistet, warum Deutschland derzeit besonders bedroht sei. Außerdem seien Anschlagziele genannt worden, die ein Hamburger Islamist, der in einem Militärgefängnis in Kabul mehrfach verhört worden sei, angegeben habe. Sobald uns mehr bekannt wird«, schloss der Sprecher die Meldung ab, »werden wir unsere jeweilige Sendung unterbrechen und Sie unterrichten. Islamabad ...«
Deckstein hörte nicht mehr zu. Er beschloss, der Sache so-
fort nachzugehen, sobald er im Verlag angekommen war. Irgendwas war da im Busch.
Was hatte diese Caroline Schmittchen, ja, Caroline hatte sie doch geheißen, oder? War ja auch im Augenblick nicht so wichtig. Jedenfalls hatte sie gesagt, im Bundesinnenministerium sei der Teufel los. Und Conradi war beim BKA in Meckenheim und wollte ihn unbedingt sprechen.
Deckstein überlegte fieberhaft. Da war doch was. Da war doch ... richtig. Er schlug sich vor die Stirn. In der Meckenheimer BKA-Dependance war auch die Abteilung für Terrorismus angesiedelt.
Deckstein kam nicht dazu, weiter nachzugrübeln. Die nächste Horrornachricht riss ihn aus seinen Gedanken.
»Fünfzig Tote bei einem Selbstmordanschlag in ...«
Er zuckte innerlich zwar immer noch zusammen, aber nicht mehr so stark wie damals, als die ersten Meldungen darüber verbreitet wurden.
»Der Krieg im Kaukasus ...«
Was der Nachrichtensprecher weiter sagte, wurde von dem Krach, den ein vorbeirasender großer Laster verursachte, verschluckt.
Er schaltete das Radio ab, und schreckte hoch. Erst im letzten Moment nahm er die Metallkonstruktion wahr, die die Autobahn überspannte. Fast hätte er es vergessen: Hier wurde geblitzt! Die rote Leuchtschrift auf mehreren Bildschirmen mahnte Tempo hundert an. Ein kurzer Blick auf seinen Tacho beruhigte ihn – nur knapp darüber. Nein, er war nicht geblitzt worden, stellte Deckstein erleichtert fest und sah zurück. Er stoppte ein wenig ab, um Elena – wenn sie es denn war – ein Zeichen zu geben, langsamer zu fahren. Sah wieder in den Rückspiegel. War sie geblitzt worden? Das konnte eigentlich nicht sein. Sie fuhr jetzt langsamer als er.
Bei dem kurzen Blick zurück und nach oben zu der Metallkonstruktion hatte Deckstein noch etwas anderes entdeckt, was er vorher an dieser Stelle noch nie gesehen hatte. Da wa- ren Kameras gewesen, Videokameras – das hätte er schwören können.
War es schon so weit, dass die Autokennzeichen mit den Fahndungslisten abgeglichen und Bewegungsbilder erstellt wurden? Oder sah er jetzt überall Gespenster? Flackerten sein und Elenas Autokennzeichen jetzt irgendwo über Computerbildschirme? Was würden sie feststellen? Welche Schlüsse daraus ziehen?
»Feuer eingestellt. Sarkozy präsentiert ... Friedensplan ... Katastrophe im Atomzwischenlager Asse ... Tausende Liter ... radioaktiv verseucht ... im Boden.«
Bei den letzten Worten des Radiosprechers zuckte Deckstein nun doch heftig zusammen.
Das hier berührte ihn unmittelbar. Er wusste, dass die Firma des Atommanagers Heinz Genske früher, also vor mehr als zwanzig Jahren, Tausende Fässer mit atomarem ›Abfall‹ zum Lager Asse und später ins belgische Atomzentrum Mol transportiert hatte. Doch erst jetzt hatten Experten bei einer genaueren Überprüfung der Anlage zu ihrem Schrecken festgestellt, dass dort Plutonium für mindestens drei Atombomben lagerte.
Von diesem Umfang habe bisher niemand etwas gewusst oder geahnt, hatte Deckstein am Abend zuvor dem Atomvereinspräsidenten Würselen vorgehalten.
»Beim BKA-Gesetz … Das Bundeskriminalamt entwickelt … Monsterbehörde ...«
Als der Laster vorbeigefahren war, konnte Deckstein den Nachrichtensprecher wieder deutlicher hören.
»Die Opposition kritisiert vor allem, dass auch Journalisten und Ärzte ausgespäht werden dürfen.«
Deckstein stutzte. Er fischte sich eine Gitanes aus dem Päckchen, das vor ihm auf der Ablage lag, und zündete sie am Zigarettenzünder an. Ein tiefer Zug genügte, und er spürte, wie ihn der bittere Geschmack des Rauchs, den er durch das filterlose Stäbchen eingezogen hatte, stimulierte. Ihm ging durch den Kopf, was er eben gehört hatte. Das BKA ließ neuerdings auch Journalisten bespitzeln? Gab es da vielleicht einen Zusammenhang mit der Abhöraktion am Vortag? Steckte da das BKA dahinter? Gehörte die Cabrio-Fahrerin, die ihm nun schon seit geraumer Zeit folgte, eventuell doch zum Bundeskriminalamt?
Deckstein warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel. Die Schöne in ihrem Dreier-Cabrio hatte sich ein Stück weit zurückfallen lassen. Er beschloss, sich zur Sicherheit ihr Autokennzeichen zu notieren. Wer weiß, vielleicht war es noch mal zu was nütze.
Zugleich wurde er das Gefühl nicht los, dass er selbst schon ein wenig überdreht war. Vielleicht hatte er sich die ganze Zeit umsonst Gedanken gemacht. Vielleicht will die Dame nur ein bisschen Katz und Maus mit mir spielen, überlegte er. Soll's ja geben. Frauen, die mit ihrem schnellen Gefährt zeigen wollten, dass sie es mit einem Mann, zum Beispiel mit ihm in seinem Jaguar-Kombi, durchaus aufnehmen können. Schade, dass sie jetzt so weit hinten fuhr. Irgendwie hatte ihr Anblick in seinem Gehirn unterschwellig auch andere Gedanken bewegt. Die Sexualhormone wurden bekanntlich im Gehirn gebildet. Jedenfalls hatte er das irgendwo mal gelesen.
Die Vorstellung, von einer hübschen Frau verfolgt zu werden, hatte Decksteins Testosteronspiegel im Blut erhöht. War es das, oder die unterschwellige Gefahr, weshalb er sich plötzlich so aufgekratzt fühlte?
Kurz bevor er hinter der Brücke Richtung Bonn-Zentrum abbiegen wollte, zog die Schöne mit hoher Geschwindigkeit an ihm vorbei. Er konnte gerade noch erkennen, dass sie ihm einen verstohlenen Blick zuwarf. Dann sah er nur noch ihre Rücklichter. Sie musste ganz plötzlich richtig Gas gegeben haben. Gerade hatte er sie ja noch weit hinter sich gesehen. Er sah, wie sie rechts auf die Petra-Kelly-Allee abbog. Das war auch sein Weg. Als er an der Rheinaue entlang auf den Posttower zufuhr, stellte er fest, dass sie wieder langsamer geworden war. Sie telefonierte.
Das war die Chance, sie zu überholen und dabei aus größerer Nähe anzusehen. Deckstein warf einen Blick in den Rückspiegel. Die Bahn war frei. Er zog nach links hinüber und gab Gas. Als er auf gleicher Höhe mit ihr war, sah sie ihn an. Kurz, bevor er sie überholte, hatte sie die Sonnenbrille abgenommen.
Ihr Blick und ihr Anblick, aus wenigen Metern Entfernung, versetzten ihm einen heftigen Stich. Sie war es – oder doch nicht? Alles war so schnell gegangen, dass er sich immer noch nicht sicher war.
Hinter ihm kam wie aus dem Nichts plötzlich ein Wagen mit aufgeblendeten Scheinwerfern herangerast. Deckstein beschleunigte und wechselte abrupt auf den rechten Fahrstreifen. Krampfhaft umklammerte er das Lenkrad und gab wieder ein bisschen Gas, um das Auto in der Spur zu halten. Die Schöne hatte sich ein Stück weit zurückfallen lassen. Sie hatte wohl wegen seines riskanten Fahrmanövers Angst bekommen.
Deckstein atmete tief durch und versuchte, auf andere Gedanken zu kommen. Eigentlich mochte er diese Strecke. Immer, wenn er hier herfuhr, überkamen ihn Erinnerungen an alte, noch gute Zeiten. Der Politikertross war noch nicht nach Berlin gezogen. Und er selbst hatte, nicht weit von seinem Redaktionsbüro entfernt, noch mit seiner Familie an einem der Hügel des Siebengebirges gewohnt.
Im Regierungsviertel war ihm damals alles so dicht gedrängt erschienen. Die Regierenden, die Abgeordneten und das Heer von Journalisten traten sich fast auf die Füße. Mittendrin hatte es das Restaurant des Hotels »Tulpenfeld« gegeben.
Dort an der Bar, waren die neuesten Gerüchte, die aus dem rund hundert Meter entfernten Bundeshaus hinübergeweht oder -getragen worden waren, bequatscht und über den Äther oder schwarz auf weiß in den Zeitungen ins gesamte übrige Land weitergereicht worden.
Er fuhr die geschichtsträchtige Adenauerallee hinunter, am Palais Schaumburg vorbei. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es Jahrzehnte lang die Schaltzentrale deutscher Politik gewesen. Hier hatten, angefangen vom ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer bis hin zu Willy Brandt, alle Kanzler residiert. Erst Helmut Schmidt war sechsundsiebzig in das davor gelegene neu gebaute Kanzleramt gezogen, die »Gesamtschule« mit der Henry-Moore-Skulptur davor, wie das ansonsten schmucklose Domizil auch spöttisch genannt wurde. »Ein bisschen Frieden, ein bisschen Sonne ...« Decksteins Autotelefon meldete sich mit der Songmelodie von Nicole. Er drückte den grünen Knopf.
»Tach auch«, meldete sich Gerd Overdieck. »Ich dachte, es wäre Zeit, Sie zu wecken.«
»Sehr fürsorglich, sehr fürsorglich, Gerd. Aber Sie sind ein bisschen spät auf die Idee gekommen. Ich steh in wenigen Minuten an Ihrem Schreibtisch, um mal einen Blick auf unsere Story zu werfen«, gab Deckstein zurück und bemühte sich, seine Stimme ruhig klingen zu lassen. Der Schock über das riskante Manöver saß ihm immer noch in den Knochen.
»Hab ich mir schon gedacht«, sagte Overdieck. »Aber damit Sie nicht ganz so uninformiert hier erscheinen, wollte ich Ihnen doch rasch mitteilen, dass in einer der Schatzkammern von Gaddafi Fässer mit Uran gefunden wurden.«
»Was? Der hatte noch Uran?«
»Die Wiener, Sie wissen, die IEAO-Leute, haben inzwischen behauptet, das sei ganz ungefährlich. Und sie hätten das auch alles in ihren Büchern gehabt.«
»Wer's glaubt, Gerd. Und wieso haben sie nie einen Ton darüber gesagt, dass der Gaddafi so ein hochbrisantes Zeugs in den Fingern hat? Wenn es stimmt, was sie behaupten, dann hätten sie ja genau wissen müssen, wo das Uran zu finden war. Um jeden Unfug damit zu vermeiden, hätten die das doch gleich sichern lassen müssen.«
»So ist es. Wir sehen uns. Wollte Sie nur schon mal infor- mieren. Tschüss, bis gleich.« Overdieck legte auf.
Während Deckstein, den BMW nun wieder hinter sich, die Rechtskurve hinauf zur Friedrich-Ebert-Allee nahm, versuchte er den Gedanken an Elena zu verdrängen und rief sich den Besuch ins Gedächtnis, den Rainer Mangold und er einem Mitarbeiter des Reaktorsicherheitsministeriums – intern hieß es bei ihnen nun Atomministerium – abgestattet hatten. Draußen war es schon fast dunkel gewesen. In dem Zimmer hatte die Schreibtischlampe ein gespenstisches grellweißes Licht auf ihre Gesichter und Hände geworfen. Der Beamte hatte ihnen mit leiser Stimme die Ergebnisse der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen mitgeteilt: Auch in dem nach Mol gelieferten sogenannten Atommüll war angereichertes Uran und waffenfähiges Plutonium enthalten gewesen. Das habe man aber erst viel später festgestellt, nachdem mehrere Fässer untersucht worden waren.
Als sie Overdieck später in der Redaktionskonferenz davon berichteten, hatte dieser einen regelrechten Wutanfall bekommen.
»Das ist ja nur die eine Seite! Diese geldgierigen Kerle konnten ja nicht genug kriegen! Deshalb haben sie nicht nur solchen atomaren ›Abfall‹ geliefert, sie haben denen nach unseren Informationen tatsächlich auch noch das einzigartige deutsche Verfahren verhökert, mit dem deren Atomtechniker dann aus dem ›Abfall‹ das darin enthaltene waffenfähige Plutonium und Uran herausfiltern konnten. Das war dann jeder Kontrolle entzogen, und damit konnten die Pakistani einfache Atombomben bauen. Und zwar so viele, wie sie wollten!«
»Passt doch wiederum alles prima zusammen, Gerd«, hatte Sabine, die dazu gekommen war, mit süffisantem Unterton ergänzt. »Deshalb haben wir ja die pakistanischen Praktikanten vorher in Deutschland und Belgien sinnigerweise in der ›Behandlung von Atom-›Abfall‹ ausgebildet. Praktisch, nicht? Das ist eben die deutsche Gründlichkeit! Auch wenn's im Dunkeln geschieht. Auch dann wird alles bis ins Kleinste geplant.«
»Mithilfe dieser Technik sind inzwischen Staaten im Besitz von waffenfähigem Plutonium und angereichertem Uran, von denen das bisher niemand geglaubt hätte«, hatte Rainer Mangold gesagt.
»Nicht nur Staaten«, hatte Gerd Overdieck eingeworfen. »Jetzt herrscht open house! Vergesst nicht, wir haben Hinweise erhalten, dass auch der Al-Kaida-Konzern mit seinen Finanzmitteln an Firmen beteiligt ist, die in der Lage sind, die Technik zu kaufen und nun das Plutonium aus dem ›Abfall‹ herauszufiltern.«
»Das heißt also, diese Terrorpaten sind in der Lage, zumindest eine einfache Atombombe zu bauen«, hatte Sabine nüchtern festgestellt. »Die Experten haben ja oft genug davor gewarnt«, hatte sie düster hinzugefügt.
Die Ampel vor dem ehemaligen Kanzleramt schlug plötzlich auf Rot um. Deckstein bremste, der BMW hielt auf der Spur rechts neben ihm. Sein Herz schlug schneller. In dem Cabrio saß Elena, da war er sich jetzt sicher. Ihr ebenmäßiges Gesicht mit dem dunklen Teint und den vorstehenden Wangenknochen war ihm nicht aus dem Kopf gegangen, seit sie sich vor etwa einem Jahr am Flughafen Domodedowo verabschiedet hatten. Sie sah ihn mit ihren großen, mandelförmigen Augen an, in denen er so oft versunken war. Ihr Blick ging ihm durch und durch. Als die Ampel grün wurde, fuhren sie auf gleicher Höhe weiter. Er winkte ihr zu, aber sie reagierte nicht.
Ihre dunkelrot geschminkten Lippen bewegten sich ununterbrochen, während sie in ihr Handy sprach. Dabei warf sie ihm wieder einen Blick zu. Nur ein Aufblitzen ihrer Augen hatte ihm verraten, dass sie ihn erkannt hatte. Dann sah sie wieder geradeaus, ohne weiter Notiz von ihm zu nehmen.
Bei Deckstein meldeten sich erste Zweifel. Er war hin- und hergerissen. Hatte er sich nur gewünscht, dass es Elena wäre? Andererseits hatte sie die Sonnenbrille abgesetzt – ein stilles Zeichen, damit er sie erkennen sollte? Er überlegte, was er tun könnte, um Elena zum Anhalten zu bewegen. Warum hatte sie nicht zurückgewunken? Ihm kein Zeichen gegeben anzuhalten? Ihm nicht signalisiert, sie sei es doch, seine Myschka aus Moskau? Dass sie das alles nicht getan hatte, musste einen wichtigen Grund haben. Anders konnte er sich ihr Verhalten nicht erklären.
Deckstein fuhr an der Villa Hammerschmidt vorbei, dem Bonner Dienstsitz des Bundespräsidenten. Rechts hinter dem ehemaligen Auswärtigen Amt bog er in eine Seitenstraße ein und stoppte unmittelbar am Rhein vor einem großen, moder- nen Bürogebäude. Mit einem Griff nahm er die Fernbedienung aus dem Handschuhfach. Ein Druck auf den Knopf genügte, und das große Tor der Tiefgarage des Verlagshauses schwang träge nach oben.
Er blickte kurz die Straße hinauf und hinunter. Elenas Wagen konnte er nicht entdecken. Schade, dachte er, während er darauf wartete, dass das Garagentor sich ganz geöffnet hatte. Auf den letzten Zentimetern gab es ein lautes Quietschen von sich. Plötzlich zuckte Deckstein zusammen. Im Dunkel der Garageneinfahrt glaubte er die Umrisse eines Mannes zu erkennen, der auf ihn zukam.