Читать книгу Der rosa Wolkenbruch - Dorothea Böhmer - Страница 15
Оглавление10
Julie lag immer noch mit verquollenen Augen auf dem Gästesofa in ihrem Wohnzimmer. Sie hatte das Bettzeug zurückgeschlagen und starrte an die Decke. Fast fünf Jahre waren Christian und sie verheiratet. Julie arbeitete als freiberufliche Bildredakteurin für verschiedene Zeitschriften, Christian war für Mitarbeitertrainings bei einer Bank verantwortlich.
Obwohl es inzwischen heller Vormittag war, fühlte sich Julie wie gelähmt, unfähig aufzustehen. Was sollte der Tag ohne Christian, ohne gemeinsam mit ihm Pläne zu machen. Eigentlich musste sie mit verschiedenen Agenturen telefonieren, sie brauchte Fotos, um einen Artikel über Gärten und Parkanlagen zu bebildern. Aber wen interessierte der Artikel? Ihr war er jedenfalls gleichgültig, ihr war alles gleichgültig. Sie drückte sich das Kissen aufs Gesicht und war entschlossen zu warten, dass der Tag vorüber gehen würde.
Irgendwann, sie hatte jedes Zeitgefühl verloren, zwang sie sich, klar zu denken. Sie musste mit jemanden reden, um nicht verrückt zu werden. Schon vor längerer Zeit, vielleicht vor zwei Jahren, hatte sie mit Sophie darüber gesprochen, dass Christian sich nur für sie, Julie, nicht aber für andere Frauen interessierte, ihm aber Männer auffielen, und zwar dieselben, die auch Julie auffielen. Ja, sie würde Sophie anrufen. Wenn sie nur aufstehen könnte.
Schließlich schaffte sie es, sich ins Bad zu schleppen. Christian war in der Nacht nicht heimgekommen. Alles sah genauso aus wie gestern, als sie ins Bett gegangen war. Weder hing seine Jacke an der Garderobe, noch standen seine Schuhe im breiten Flur. Auch in der großen Wohnküche wies nichts darauf hin, dass er da gewesen war.
***
Sophie war in Eile. Sie hatte der Schülerin, die regelmäßig auf ihre beiden Kinder aufpasste, letzte Anweisungen gegeben. Gerade wollte sie das Haus verlassen, um in die Apotheke zu gehen, in der sie Teilzeit arbeitete, als das Telefon läutete.
„Hallo Julie, was ist los, dass du mittags anrufst?“
Mit Tränen erstickter Stimme sagte Julie: „Christian und ich werden uns trennen.“
Sophie musste lachen, obwohl sie merkte, wie ernst es Julie war, aber vielleicht auch deshalb. „So ein Unsinn. Ihr habt maximal eine Ehekrise, ihr werdet euch nicht trennen. Was ist passiert, worüber habt ihr gestritten?“
„Wir haben nicht gestritten. Christian hat mir gestern eröffnet, dass er es nicht mehr aushält und seine homosexuellen Neigungen ausleben muss. Hast du heute Abend Zeit, können wir uns treffen? Kann ich zu dir kommen?“
„19.00 Uhr? Oder ist dir das zu früh?“
„Nein, je früher, desto besser.“
„Kopf hoch, es ist alles halb so schlimm.“
Julie spürte, dass Sophie auf dem Sprung war. „Bis heute Abend.“
„Bis heute Abend.“
Julie stand mit dem Telefon am Fenster und starrte hinaus. Die belebte Straße. Alles kam ihr unwirklich vor. Sie konnte nicht begreifen, dass Sophie ihrer Arbeit nachging, dass eine Menschentraube an der Ampel stand und auf Grün wartete, als wäre nichts passiert. Sonst war sie selbst einer dieser durch die Stadt wuselnden Pünktchen, genauso hektisch wie die anderen. Jetzt stand die Zeit still. Es gab nichts mehr zu tun. Sie hatte Christian verloren. Es war in all den Jahren, in denen sie zusammen waren, die erste Nacht von der sie nicht wusste, wo er sie verbracht hatte. Sicher war er mit einem Mann zusammen gewesen.
Essen konnte Julie nicht, sie wollte sich nur Kaffee aufbrühen. Gewohnheitsmäßig griff sie nach ihrer Lieblingstasse, zuckte aber zurück, als hätte sie sich die Finger verbrannt. Christian hatte sie ihr bei einem Besuch in Wien geschenkt und es hingen viele Erinnerungen daran. Sie wählte einen weißen Becher.
Gleich gestern hatte sie Christian eröffnet, dass sie die Zimmer trennen würde. „Wir leben als wären wir bereits getrennt. So kannst du dir klar werden, ob du schwul bist oder nicht.“ Sie einigten sich darauf, dass er das bisherige Schlafzimmer bekam, in dem Julie ihre große Büroecke hatte. Sie würde sich das Wohnzimmer herrichten. Beide Zimmer waren gleich groß, wenn auch unterschiedlich geschnitten. Natürlich hoffte sie, dass er zu ihr zurückkommen würde. Doch das war utopisch. Zuviel hatte sie in den letzten Jahren über homosexuelle Männer gelesen, als dass sie sich belügen konnte. Ihr war klar, was sein Coming Out bedeutete … für ihn und für sie.
Nicht irre werden. Sie musste sich beschäftigen, ablenken. Ein Anflug ihrer Tatkraft kehrte zurück. Ja, gleich jetzt würde sie damit beginnen, die Möbel aufzuteilen. Sie brauchte ihren Schreibtisch, den Computer und ihre Bücher um sich. Außerdem würde sie ein paar Haken als Garderobe am Türrahmen anbringen, um einige Kleidungsstücke griffbereit zu haben. Der gemeinsame Kleiderschrank konnte vorerst in Christians Zimmer bleiben, sie würde sich was sie brauchte holen, wenn er nicht da war. Die Stereoanlage wollte sie aus dem Wohnzimmer in sein Zimmer bringen, er konnte nicht ohne klassische Musik leben. Seltsam. Christian hätte von Anbeginn an gerne getrennte Zimmer gehabt und nicht die übliche Aufteilung in Wohn- und Schlafzimmer. Ihr zuliebe hatte er darauf verzichtet.
Julie war dabei, einen Teil ihrer Fotobildbände im Wäschekorb in ihr neues Zimmer zu schleppen, als das Telefon klingelte.
„Hallo, ich bins.“
„Hallo.“ Mehr brachte sie nicht heraus. Christians traurige Stimme schnürte ihr die Kehle zu. Sie kämpfte gegen die Tränen.
„Ich, ich wollte deine Stimme hören.“
Wie oft hatten sie sich in den vergangenen Jahren zu allen möglichen Zeiten und an allen möglichen Orten angerufen, nur um die Stimme des anderen zu hören.
„Du warst heute Nacht nicht da.“
„Nein.“ Christian schluckte. „Ich möchte nicht darüber reden.“
„Kommst du heute nach Hause?“
„Ja, so gegen halb sieben.“
Eine Zeitlang sagte niemand etwas.
„Ich bin am Abend bei Sophie.“
„Wann gehst du weg?“
„So um halb sieben muss ich weg.“
Er schwieg lange. Mit belegter Stimme sagte er: „Und was machst du gerade?“
„Ich bin dabei, die Zimmer zu trennen“, ihre Stimme zitterte, „wie wir es gestern besprochen haben.“
Nach einer Pause presste er ein „bis später dann“ heraus.
„Ja, bis später.“ Sie weinte. Hatten sie in all den Jahren jemals ein so einsilbiges Gespräch geführt? Sollte sie Sophie anrufen und sagen, dass sie doch lieber erst um 20.00 Uhr kommen wollte? Nein, es war besser, sich daran zu gewöhnen, die Abendplanung nicht mehr nach Christian auszurichten. Er wollte die Zeit ohnehin nicht mehr mit ihr verbringen. Außerdem hoffte Julie, dass Christian sie vielleicht vermissen würde, wenn sie nicht in der Wohnung war.
Als sie die Bücher in das Regal räumte, fiel ihr ein Kunstkatalog aus der Hand. Auf dem aufgeklappten Innendeckel stand Julie und Christian, wie in den meisten Büchern.
***
Der Schlüssel drehte sich kratzend im Schloss, als Julie den schweren Putzeimer durch den Gang schleppte. Christian kam eine halbe Stunde früher nach Hause. Er hatte nicht ihr vertrautes Klingelzeichen benutzt, um sich anzukündigen. Was sollte sie machen? Noch bis gestern wäre sie ihm entgegengegangen und sie hätten sich geküsst. Jetzt blieb sie einfach stehen.
Christian wusste genauso wenig, wie er sich verhalten sollte. Er umarmte Julie. Wie bleich er war. Julie sah die dunklen Ränder um seine Augen, sah wie spitz die Nase aus dem Gesicht ragte, sah dass die Backenknochen mehr hervor traten als sonst. Auch er hatte geweint.
„Hast du noch Zeit für einen Tee, bevor du zu Sophie gehst?“
Julie nickte.
Christian wurde blass, als er die Veränderungen in der Wohnung sah, Julie tat es weh. Wie schwer es ihr fiel, ihn nicht zu berühren.
Mit hängenden Schultern saßen sie sich am Küchentisch gegenüber. Julie fixierte ihre Tasse, während Christian mit beiden Händen seine Teeschale drehte.
„Ich war bei einem Mann.“ Christian brachte den Satz nur mühsam heraus.
Was sollte Julie darauf sagen? Sie hatte es ohnehin gespürt. Also schwieg sie und sah weiter krampfhaft auf ihre Tasse.
„Ich habe ihn in der Schwulenkneipe kennen gelernt, in die ich gestern Abend gegangen bin. Er spielt Violine in einem Orchester, das auf Tournee ist. Wir konnten uns nur auf Englisch unterhalten, er ist Franzose. Aus Paris.“ Christian sprach abgehackt.
Julie hob den Kopf. „Hattest du den Ring noch am Finger?“
Christian wich ihrem Blick aus. „Nein.“
***
Wann war es gewesen, vor drei Monaten? Vor vier Monaten? Julie war beruflich stark eingespannt, oft gereizt und hatte wenig Zeit für Christian und gemeinsame Unternehmungen. Wenn sie es sich recht überlegte, fing er schon damals an, sich zurückzuziehen. Als er eines Abends von einem Besuch bei Adrian, einem seiner ehemaligen Kommilitonen, heimkam, hatte er seinen Ehering verloren. Julie hatte das Gefühl, es machte Christian gar nicht so viel aus. Sie saß am Leuchttisch Dias sortieren und war außer sich. Er hätte keinen Sinn für Symbolik, warf sie ihm vor, gerade so als hätte er den Ring absichtlich weggeworfen. Um sie zu beruhigen, rief Christian bei Adrian an, und der fand den Ring im Schein der Taschenlampe neben der Haustür.
***
Julie hatte damals gespürt, dass etwas nicht stimmte. Aber sie hatte es nicht angesprochen. Je mehr er sich ihr entzog, desto mehr versuchte sie unbewusst für andere und sich selbst das Bild des glücklichen Ehepaares aufrechtzuerhalten. Erstaunt merkte sie nun, wie sehr sie in diesem Verhalten ihrer Mutter glich. Gleichzeitig war sie Christian gegenüber aggressiver geworden, weil er sich ihr mehr und mehr verschloss. Er orientierte sich zunehmend nach außen, was sie sich all die Jahre vorher immer gewünscht hatte, weil sie dachte, es wäre nicht gut, sich zu zweit einzukapseln. Sie blickte auf.
„Christian, wenn du reden möchtest, sage ich den Abend bei Sophie ab.“ Sie riss sich zusammen, um nicht seine Hand zu streicheln.
„Nein.“ Er senkte den Kopf. Seine Stimme war leise. „Ich treffe mich heute noch einmal mit ihm.“
Julies Schläfen hämmerten. Benommen stand sie auf. Als sie wenige Minuten später die Haustür hinter sich schloss, legte Christian den Kopf auf seine Arme und schluchzte.