Читать книгу Der rosa Wolkenbruch - Dorothea Böhmer - Страница 17

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Schon kurz nach der Hochzeit fühlte sich Julie nicht mehr so frei wie vorher. Das hatte nichts mit Christian zu tun, sondern sie spürte Erwartungen der Familien an sich und ihn. Das Gefühl kroch hoch, ihr Leben sei gelaufen. Sie war verheiratet auf immer und ewig und musste eine Rolle erfüllen. Christian versicherte ihr wieder und wieder, es sei alles nur ihre Einbildung. Er selbst fühlte sich wohl, hatte er sich doch durch die Heirat von seinen Eltern abgegrenzt.

Doch Christians Vater und Julies Mutter mischten sich zunehmend in das Leben der beiden ein. Spätestens jeden zweiten Tag meldete sich Christians Vater am Morgen per Telefon. Julie war jedes Mal sofort hellwach und saß dann kerzengerade im Bett. Da sie abends meistens lange bei einer Flasche Wein auf dem kleinen Balkon zusammen saßen, sich erzählten, anschließend im Bett noch lasen und sich liebten, wurde es immer sehr spät.

„Lass es läuten.“ Christian war morgens nicht ansprechbar und konnte die Kontrollanrufe seines Vaters nicht leiden. Er wusste genau, sein Vater wollte nur überprüfen, ob sie schon aufgestanden waren. Soweit Christian zurückdenken konnte, hatte sein Vater, wenn er mal zu Hause war, versucht, ihn zum Frühaufsteher zu erziehen. Christian hatte keine Lust mehr, sich von seinen Eltern Vorschriften für sein Leben machen zu lassen.

Aber Julie war unruhig, ging meist ans Telefon und versuchte, ihrer Stimme einen munteren Klang zu geben. Immer noch – oder inzwischen wieder? – dieser verflixte Zwang, jederzeit verfügbar sein zu müssen, der ständige Druck, es allen recht machen zu müssen.

Die Gespräche mit Christians Vater liefen stets gleich ab und jedes Mal schwindelte sie. „Ja, wir sind schon lange auf. Christian ist in der Uni, ich sitze am Schreibtisch.“ Dabei war ihr einziger Wunsch, in den Hörer hineinzuschreien „Lass uns in Ruhe!“

Julies Mutter meldete sich spätestens jeden dritten Tag am Abend. Egal ob Christian oder sie am Telefon war, am Anfang des Gesprächs ging es immer ums Essen.

„Habt ihr auch warm gegessen?“ Wenn Julie am Hörer war, wurde sie konkreter: „Was hast du heute gekocht?“

„Nichts, wir essen heute kalt.“

„Das kannst du nicht machen, das ist ungesund. Du bist nur zu faul etwas zuzubereiten.“

Oder Julie antwortete auf ihre Frage: „Nichts, Christian hat heute gekocht“, was ihre Mutter jedes Mal aus der Fassung brachte.

Wenn ihre Mutter wusste, dass Christian Julie nicht hören konnte oder nicht zu Hause war, nahm das Gespräch eine andere Richtung:

„Julie, willst du denn wirklich fertig studieren? Was bringt das denn? Christian will Kinder. Und es wäre für ihn schöner, wenn du ihn versorgen würdest.“

In solchen Momenten hasste Julie ihre Mutter aus tiefstem Herzen. Sie fragte sich, ob ihre Mutter sie eigentlich kannte. Wusste sie etwas von Julies Wünschen und Plänen? Nahm sie überhaupt Anteil an dem was ihre Tochter tat? Hatte sie auch nur einmal gefragt, womit sich Julie während ihres Studiums beschäftigt hatte? Auch jetzt noch, Julies Arbeit, die Fotos, die Julie machte, interessierten sie überhaupt nicht. Am meisten ärgerte es Julie, dass ihre Mutter ihr ein Frauenbild aufzwingen wollte, welches sie selbst nie gelebt hatte. Ihre Mutter war Geschäftsfrau mit Leib und Seele und hatte ständig zu tun, weshalb Julie und ihre Geschwister mit Kindermädchen, Haushälterin und Putzfrau aufgewachsen waren. Julie konnte sich an keinerlei Zärtlichkeiten seitens der Mutter erinnern. Sie und ihre Geschwister wurden gut versorgt. Aber kannte ihre Mutter das Seelenleben ihrer Kinder? Vielleicht wollte Julie aus diesem Grund keine eigenen Kinder, sie hatte in ihrer Kindheit nie Liebe und Geborgenheit erfahren, dieses Gefühl, sich fallen lassen zu können. Wie sollte sie etwas geben, das sie selbst nie bekommen hatte?

Christian stand in allem auf Julies Seite. Zwar wollte er gerne Kinder, aber es war ihm wichtiger, mit Julie zusammen zu sein. Und vielleicht würde sie irgendwann ihre Meinung ändern, vielleicht wenn er ihr alles geben konnte, was sie als Kind vermisst hatte. Und falls nicht, war das genauso in Ordnung.

„Warum regst du dich auf, Julie. Du wirst deine Mutter nicht ändern. Wenn du es nicht zulässt, dass sie sich in dein Leben einmischt, kann sie sich nicht einmischen.“

„Mich ärgert der indirekte Druck, den sie auf mich ausübt.“ Was hieß indirekt. Julie erinnerte sich daran, wie sie vor kurzem zu den Eltern fuhr, weil sie zur Geburtstagsfeier einer ehemaligen Schulfreundin eingeladen war. Die ganze Zeit hatte ihre Mutter sie gebeten, zu Hause zu bleiben, damit sie miteinander reden könnten. Und ich bin ihr auf den Leim gegangen, dachte Julie. Sie hatte ihr tatsächlich geglaubt. Natürlich wurde dann nur mit Hedwig gesprochen. Als Julie sie darauf hinwies, meinte ihre Mutter nur: „Ich wollte nicht, dass du ohne Christian zu der Feier gehst. Das macht keinen guten Eindruck, wenn man verheiratet ist.“

Ähnlich erging es Christian. Es war Winter als seine Mutter mit ihm telefonierte: „Gestern hat ein Martin angerufen. Er wollte dich sprechen, weil er mit dir zum Skifahren gehen möchte. Aber ich habe gleich gesagt, das geht nicht, weil du keine Zeit mehr hast.“ Als Christian wissen wollte, ob Martin, ein Freund, den er vor zwei Jahren aus den Augen verloren hatte, ihr seine Nummer gegeben hätte, entgegnete sie nur: „Ja, aber ich habe sie nicht aufgeschrieben, du bist doch jetzt verheiratet. Es war irgendeine Vorwahl, die ich nicht gekannt habe.“

Anstatt sich zu lösen, schlitterte Julie tiefer und tiefer in die Familien hinein. Christian erklärte immer wieder, es liege an ihr, und wenn sie nicht diesen ewigen Perfektionismus hätte, es allen recht machen zu wollen, würde sie leichter leben. In solchen Fällen war Julie von Christian genervt. Er wehrte sich doch auch nicht gegen Bevormundung. Warum ließ er es nicht zum offenen Streit mit seinen Eltern kommen? Ganz allgemein hätte sie sich von ihm mehr Konfliktbereitschaft gewünscht. Auch wenn sie und Christian unterschiedlicher Meinung waren, gab er meist nach und sie wusste nie, ob er etwas ihr zuliebe tat, weil er es wirklich tun wollte, oder weil er Auseinandersetzungen lieber aus dem Weg ging. Und Julie konnte seine Unpünktlichkeit nicht leiden, während er ihre Überpünktlichkeit völlig fehl am Platz fand. Wie oft hatte sie sich geärgert, wenn sie mit den Karten vor dem Kino eine viertel Stunde auf ihn warten musste, um hechelnd im letzten Moment die schlechtesten Plätze einzunehmen.

***

Auf einem Tablett brachte Sophie die gefüllten Suppenteller und einen Korb mit Weißbrot. Während sie die Gemüsesuppe löffelten, erzählte Julie, was ihr durch den Kopf gegangen war.

„Was du erzählst sind Kleinigkeiten. Bei allen Paaren gibt es Unterschiede und Punkte, die den anderen nerven. Waren noch andere Sachen?“

Julie wand sich. „Naja, ich glaube, ich habe Christian mehrmals enttäuscht. Er hat es nie angesprochen, aber ich habe es gespürt. Als er unter großem Druck an den letzten Kapiteln seiner Diplomarbeit schrieb, waren die Drucker im Computerraum der Uni defekt. Er hat mich zu Hause angerufen: Julie, könntest du unseren Drucker abbauen und mit dem Fahrrad bringen, weil ich hier ein Programm benutzte, das nicht auf unserem Computer läuft? Ich habe gemurrt und mich geweigert, nicht nur weil ich Angst um den Drucker hatte, es hätte ja irgendetwas verstellt werden können, so dass ich später Schwierigkeiten bei der Arbeit bekommen hätte, sondern weil ich so müde war. Ich war kurz zuvor nach Hause gekommen und hatte mich gerade zu einem Mittagsschlaf hingelegt, als das Telefon bimmelte. Als Christian den Telefonhörer einhängte, habe ich gespürt wie traurig er war. Ich habe mich schlecht gefühlt. Warum hatte ich ihm den Gefallen nicht getan, wo er doch immer alles für mich gemacht hat. Doch ich konnte ihn nicht zurückrufen, weil er aus einer Telefonzelle angerufen hatte. Ich habe einfach über etwas bestimmt, das uns gemeinsam gehörte. Gleichzeitig war ich verärgert, weil Christian nicht auf seinen Standpunkt beharrt oder sich auf einen Konflikt eingelassen hatte. Warum hatte er nicht einfach gesagt, dass er den Drucker ganz dringend braucht und dass ich mich mies verhalte? – Wenig später gab es noch so eine Situation, und zwar bei der Abgabe seiner Diplomarbeit, am letztmöglichen Tag versteht sich, du kennst ihn ja. Als er die Arbeit seinem Professor gab, schlug der sie auf, und drehte die Arbeit um, weil der Text auf dem Kopf stand. Er blätterte um, und sie stand wieder auf dem Kopf. Christian hatte beim Binden die Blätter durcheinander gebracht. Geistesgegenwärtig hat er dem Professor gesagt, dass es ihm leidtue und er ausgerechnet das falsch gebundene Exemplar erwischt hätte. Er würde das richtige Exemplar in zwei Stunden nachliefern. Natürlich gab es kein richtig gebundenes Exemplar. Er ging zum Kopierladen, hat die Arbeit aufgeschnitten, die Seiten sortiert und neu geleimt. Als Christian es mir erzählte, hatte ich überhaupt kein Verständnis dafür. Wie konnte das passieren! Er hat gemeint: Dir passiert ja nie ein Fehler, und ich habe gekontert: Jedenfalls nicht so oft wie dir. Hinterher haben wir beide unser Verhalten bedauert. Und als Christian mir sagte, dass er die Probezeit bei seinem ersten Arbeitgeber nach dem Studienabschluss nicht bestanden hätte, spürte ich das erste Mal, dass er Angst hatte, mir etwas zu sagen. Er fühlte sich wie ein Versager, obwohl ich ihn vor den Eltern und allen anderen in Schutz nahm. Immer. Für mich war am schlimmsten, dass er so traurig war und dass ich ihm nichts von dem elenden Gefühl nehmen konnte.“

Sophie öffnete eine zweite Flasche Bordeaux, Julie sah ihr hypnotisiert zu.

„Die Rotweinflasche … vor vielleicht drei Wochen wollte ich ins Badezimmer; ich wusste, dass Christian in der Wanne lag, wollte aber etwas holen. Es war abgeschlossen. Das erste Mal in all den Jahren war abgeschlossen! Und er hat keine Anstalten gemacht aufzusperren. Ich sah, dass die Kabel der Lautsprecherboxen unter der Tür hindurch führten und hörte klassische Musik. Später kam er mit Kerzen und einem leeren Rotweinglas heraus.“

Sophie hatte geduldig zugehört. „Ich bin mir ganz sicher, dass das Problem nicht die angebliche Homosexualität ist. Irgendetwas steht zwischen euch. Du musst herausbekommen, was es ist. Ihr solltet einen Ehetherapeuten aufsuchen.“

Julie war verblüfft. „Du bist genial! Wieso bin ich nicht selbst darauf gekommen? Das ist die beste Idee überhaupt.“ Dann fügte sie verunsichert zu: „Aber was mache ich, wenn Christian nicht mitgehen will?“

„Er muss mit. Das ist er dir schuldig.“

„Wenn er das Wort müssen hört, geht überhaupt nichts. Dann entzieht er sich komplett.“

„Er wird mitgehen. Sag ihm, du kannst sonst die Geschichte nicht verarbeiten. Sprich heute noch mit ihm.“

„Das geht nicht. Er übernachtet bei einem Musiker, den er gestern kennen gelernt hat.“

„Wer weiß, ob das stimmt. Vielleicht hat er die Geschichte mit dem Musiker erfunden.“

Sophie war um den Tisch gegangen und drückte Julie. „Sei nicht traurig, aus irgendeinem Grund tobt er sich aus. Es kommt wieder in Ordnung, bestimmt.“

Nach der zweiten Rotweinflasche schöpfte Julie entgegen besserem Wissen ein bisschen Zuversicht. Sophie weigerte sich so vehement, die Homosexualität von Christian zu akzeptieren, dass Julie auf dem Nachhauseweg geneigt war, an die Vermutung ihrer Freundin zu glauben. Vielleicht gab es wirklich ein verborgenes Problem zwischen ihr und Christian. Sie musste es herausbekommen und wollte sich gleich morgen auf die Suche nach einem geeigneten Therapeuten machen.

Der rosa Wolkenbruch

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