Читать книгу Der rosa Wolkenbruch - Dorothea Böhmer - Страница 6

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Wieso hatte sie im Wohnzimmer geschlafen? Julie blinzelte, das Licht kitzelte ihre Wimpern. Langsam wurde sie wach. Sie lag auf dem Gästesofa, sah sich um und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Sie betrachtete den Jugendstilschrank und die Stereoanlage, als hätte sie beide noch nie gesehen. Die Tür zum Gang war geschlossen, obwohl Julie geschlossene Türen nicht leiden konnte. Und überhaupt, warum lag sie nicht im Bett neben Christian?

Erst verschwommen, dann zunehmend klarer erinnerte sie sich an den vorhergehenden Tag. Sie und Christian hatten beschlossen, ab sofort in getrennten Zimmern zu wohnen. Seit langem wusste sie, dass ein Damoklesschwert über ihrer Ehe schwebte. Christian fühlte sich zu Männern hingezogen.

Draußen war Frühling. Julie hätte den strahlenden Tag als Aufmunterung nehmen können, doch sie bemerkte die Sonne gar nicht. Gegen Frauen hätte sie um ihn kämpfen können, gegen Männer brauchte sie gar nicht erst anzutreten. Es gab keinen Grund aufzustehen. Julie weinte und zog sich die Bettdecke über den Kopf.

***

Fast sieben Jahre war es her, dass Julie Christian in der Kellerbar des Studentenwohnheims, in dem sie damals wohnte, begegnet war.

Wie in einer Bahnhofskneipe, dachte Julie. Sie lümmelte an der Theke. An den Sonntagabenden war der Geräuschpegel besonders hoch. Es schien, als ob alle gleichzeitig redeten, aber keiner zuhörte. Am Tresen war es eng, außerdem war es zugig. Jedes Mal, wenn die schwere Metalltür aufging, schlug sie wenig später krachend ins Schloss. Die einen meldeten sich vom Wochenende zurück, andere verschwanden nach einem Begrüßungsbier oder mit einem Schlummertrunk in der Hand Richtung Zimmer. Mitte der 80er Jahre waren gemischte Wohnheime nicht ungewöhnlich. Doch in diesem lebten junge Frauen und Männer nicht nur auf mehreren Stockwerken gemeinsam unter einem Dach, sondern in denselben Gängen Wand an Wand. Die Bewohner und Bewohnerinnen eines Ganges teilten sich Duschen, Toiletten und eine Gemeinschaftsküche.

Neben Julie stand in aufrechter Haltung Doris. Wie meist hatte sie das Wochenende bei ihren Eltern verbracht. Obwohl Doris schon im sechsten Semester Lehramt studierte, fuhr sie mit ihrem Bruder, der ebenfalls im Wohnheim lebte, spätestens jedes zweite Wochenende nach Hause. Sie hing sehr an ihrer Familie. Ihre Eltern, sie waren Nachbarn von Julies Eltern, hatten ein Häuschen mit Garten und konnten sich jährlich einen Sommer- und einen Winterurlaub leisten. Die Mutter hatte den Vater nie geliebt, ihn aber geheiratet, weil er ihr zur Seite stand, als sie schwer lungenkrank war. Doris fand das in Ordnung.

Julie hatte das Wochenende im Wohnheim verbracht. Sie liebte die Ruhe, die an Samstagen und Sonntagen im Haus herrschte. Ungestört konnte sie lesen und ihre Seminararbeiten schreiben. Manchmal ging sie spazieren oder ins Kino. Julie war zwar gerne unter Leuten, aber mindestens so gerne alleine.

Während Doris auf Julie einredete, überlegte Julie, ob sie in ihr Zimmer gehen sollte. Es interessierte sie weder, wie es der Großmutter von Doris ging, noch welchen Kuchen Doris am Wochenende gebacken hatte.

Sie selbst fuhr ungern nach Hause, weil sie nach einem Wochenendbesuch bei der Familie gerädert ins Studentenwohnheim zurückkam. Ständig wurde sie zu Hause für irgendwelche Arbeiten eingespannt. Julie war in einer Unternehmerfamilie groß geworden und bereits als Kind wurde ihre Mithilfe eingefordert. Kaum ließ sie sich außerhalb ihres Zimmers blicken, hieß es: „Julie, geh einkaufen“, „Julie, bring die Post zum Briefkasten“, „Julie, du sitzt hier noch im Schlafanzug und wir müssen Personal bezahlen“ oder „Julie, komm sofort aus der Toilette, du hast dich wieder mit einem Buch eingeschlossen“.

Lesen galt im elterlichen Betrieb als Nichtstun. Wurde Julie von der Mutter oder dem Vater mit einem Buch erwischt, bekam sie sofort eine so genannte nützliche Arbeit angetragen, wie abspülen oder Wäsche zusammenlegen, obwohl es eine Haushälterin gab. Waren ihre Eltern nicht in der Nähe, konnte Julie sicher sein, dass ihre ältere Schwester Hedwig sie störte und zwang, irgendetwas für sie zu besorgen oder zu tun. Weigerte sich Julie, beschwerte sich Hedwig umgehend bei der Mutter. Hedwig hatte immer die besseren Karten, weil sie alles tat, um den Eltern zu gefallen. Dabei vertrödelte Hedwig ihre Tage regelrecht. Aber kaum waren die Eltern oder ihr Bruder Arnold, er war der älteste von den drei Geschwistern, in der Nähe, begann sie, wie eine Verrückte das Waschbecken zu putzen, Staub zu saugen, einfach irgendeine Tätigkeit, um beschäftigt zu wirken. Sobald die Eltern oder der Bruder außer Sicht waren, musste Julie die Arbeiten zu Ende führen und Hedwig blätterte in Journalen, las Zeitung oder richtete ihre Frisur, eine ihrer Lieblingstätigkeiten. Hedwig stellte das christliche Weltbild der Eltern nicht in Frage, sondern ging ohne Widerrede am Sonntag mit ihnen und dem Bruder zur Kirche, aus der alle vier nach dem Gottesdienst mit verklärten Gesichtern zurückkamen. Weigerte sich Julie mitzugehen, war es klar, dass das Frühstück fertig sein musste, wenn die anderen vom Kirchgang eintrafen. An Ausschlafen war nicht zu denken, es wurde gezielt verhindert. Zudem war die Stimmung ihr gegenüber den ganzen Sonntag eisig, sofern sie nicht völlig geschnitten wurde. Nur Arnold hielt sich bei Unstimmigkeiten meist heraus. Er tat alles für seine beiden Schwestern, was Hedwig nach Julies Meinung ungeniert ausnutzte. Julie musste an Hedwigs letzten Umzug denken, bei dem Arnold und sie geholfen hatten. Hedwig war aus dem Lastauto ausgestiegen, hatte mit dem Wohnungsschlüssel geklimpert und gezwitschert: „Ich sperre schon mal die Wohnungstür auf.“ Ohne auch nur einen Karton mitzunehmen, wollte sie in den vierten Stock voraus gehen. Julie hatte ihr damals einfach zwei Korbstühle in den Arm gedrückt. „Aber nicht, ohne dass du etwas mit nach oben nimmst.“ Hedwig mied Arbeit, wo sie nur konnte.

***

Die Tür krachte wieder zu. Der Lärm riss Julie aus ihren Gedanken und holte sie in die Kellerbar zurück. Doris erzählte immer noch vom Wochenende. Julie nickte ihr zu. Sie hatte keine Ahnung, wovon Doris gerade geredet hatte, nahm einen Schluck Bier und sann weiter über ihre Familie nach.

Es war keine sechs Monate her, als sie zum Geburtstag ihrer Mutter zu Hause war und tags darauf mit Hedwig gestritten hatte. Hedwig hatte sich im Bad eingeschlossen, obwohl sie wusste, dass Julie bald von Doris und ihrem Bruder abgeholt werden würde, die sie im Auto mit zurück in die Studienstadt nahmen. Da Julie noch packen und sich fertig machen musste, war ihr der Kragen geplatzt. Sie hatte ihre Schwester als rücksichtsloses, egoistisches Monster bezeichnet. Zu laut. Ihre Mutter kam hinzu: „Wenn du uns nur zum Streiten besuchst, ist es besser, du kommst nicht mehr.“ Die Worte ihrer Mutter hatten sie getroffen, zumal diese keine Ahnung hatte, worum es bei dem Streit überhaupt gegangen war. Aber Hedwig konnte ja nicht schuld sein, Hedwig war nie schuld.

Für Julie war es ein Hinauswurf. Weihnachten hatte ihre Mutter getan, als wäre nichts gewesen. Es war für sie selbstverständlich, dass Julie über die Feiertage nach Hause kommen würde. Doch Julie war nur am Heiligen Abend heimgefahren und hatte sich am ersten Feiertag gleich nach dem Frühstück in den Zug gesetzt. Sie war alleine im Wagon gewesen und hatte die Stille genossen. Während sie jetzt darüber nachdachte, nahm sie sich vor, in diesem Jahr an Heiligabend im Wohnheim zu bleiben. Wozu sollte sie heimfahren? Nur damit man vor den Nachbarn das Bild der intakten Familie abgeben konnte? Warum musste sie diese Lüge unterstützen? Sollten die Nachbarn doch denken, was sie wollten.

***

Doris redete und redete.

Für ihre Mutter und Hedwig war Julie nicht erwachsen. Beide nahmen sie nicht ernst, konnten das auch nicht tun, sonst hätten sie sich mit sich selber und ihren eigenen Anschauungen auseinandersetzen müssen.

Seit Beginn ihres Studiums hatte sich Julie langsam, aber konsequent, von der Familie gelöst. Einfach war es nicht. Immer wieder rief die Mutter an, um versteckte Vorhaltungen zu machen: Wie gut man sie im Haushalt brauchen könnte. Und Hedwig bezeichnete Julie als skrupellos, weil sie nicht nach Hause fuhr. Verständlich, Hedwig konnte Arbeiten nicht mehr auf Julie abwälzen und musste selbst anpacken. Sogar Arnold nannte Julie eine Egoistin; er fuhr jedes Wochenende von der Domstadt, in der er studierte heim, um zu helfen. Julie blieb nicht nur bei ihrer Skrupellosigkeit, sondern baute sie aus. Zuerst fuhr sie nur alle vier Wochen nach Hause mit der Begründung, sie hätte viel zu lernen, dann alle sechs Wochen, dann alle acht und schließlich nur noch zu Feiertagen wie Ostern, Weihnachten und runden Geburtstagen. Jetzt, nach den harten Worten ihrer Mutter, hatte sie überhaupt keine Lust mehr, heim zu fahren.

***

Doris erzählte, dass eine Schulfreundin, die im Kirchenchor sang, bald heiraten würde.

Julie fragte sich, warum ihre Eltern sie als schwarzes Schaf bezeichnet hatten. Wahrscheinlich wegen ihrer rebellischen Fragen. Bestimmte Dinge durften nicht angezweifelt werden, die katholische Religion zum Beispiel und alles was mit Obrigkeit zu tun hatte. Worte des Pfarrers am Sonntag galten als unumstößliche Wahrheit. Wahrheit war einer der Lieblingsbegriffe von Julies Mutter und ein Kampfbegriff für Julie. Welche Wahrheit, wessen Wahrheit?

„Bevor du jemanden kritisierst, leiste erst das, was diese Person geschafft hat.“ So lautete die übliche Antwort des Vaters, sollte Julie der Meinung des Pfarrers ihre eigene entgegensetzten. Gingen dem Vater die Argumente aus, schrie er „Glaube heißt, nichts wissen“, zum Beispiel wenn Julie verkündete, dass sie die Jungfräulichkeit Marias für ein Ammenmärchen hielt. Im biblischen Urtext stand nämlich junge Frau, nicht Jungfrau. Das wusste sie von einem Theologiestudenten, der im Wohnheim lebte. Von der Mutter wurde Julie, sobald sie unbequeme Gedanken äußerte, zu irgendeiner Arbeit abkommandiert, z. B. Rechnungen sortieren im Büro, das ging zu jeder Tages- und Nachtzeit.

Die Art und Weise wie die Familie lebte, galt bei den Eltern als richtig, davon abweichendes Verhalten falsch oder zumindest suspekt.

Julie seufzte. Sie hatte die Gehirnwäsche und den Kleinstadtmief gründlich satt. Deshalb hatte sie sich die Großstadt als Studienort gewählt. Welche Mühe es machte, den Schein der heilen Welt zu wahren. Julie und den Geschwistern war von klein auf eingeschärft worden, Dinge, die am Familientisch besprochen wurden, nicht nach außen zu tragen. Jeder Funken Lebenslust wurde durch Arbeit und antrainiertes Pflichtgefühl im Keim erstickt. Festgeklebt in einem Spinnennetz und eingesponnen wie eine Mücke, so kam sich Julie zu Hause vor.

Über ihren Vater war sich Julie nicht im Klaren. Zweifellos spielte er den Patriarchen, eine Position von ihrer Mutter nicht nur gestützt und gefördert, sondern geschaffen. „Der Mann ist der Kopf, die Frau ist der Hals der ihn lenkt.“ Wie oft hatte die Mutter Julies undiplomatischen Umgang mit Männern gerügt. Aber Julie hatte ihren eigenen Kopf und weiß Gott keine Zeit, einen zweiten zu lenken. Noch dazu wenn der dazu unfähig war. Im elterlichen Betrieb hatte die Mutter die Fäden in der Hand und wickelte den Vater um den Finger, wie er es gerne hatte. Gleichzeitig nahm sie ihm dadurch viel Arbeit ab, die sie sich selbst aufbürdete. Ihre Mutter arbeitete mindestens dreimal so viel wie ihr Vater, dessen war sich Julie sicher.

***

Die abgedunkelte Bar, das Stimmengewirr und die plätschernden Sätze von Doris entspannten Julie. Doris hatte ihre geistige Abwesenheit nicht bemerkt. Julie zwang sich jetzt, ihr zuzuhören.

„Ich werde heiraten und Kinder haben. Natürlich will ich meinen Lebensstandard halten. Bis ich Kinder habe, werde ich als Lehrerin arbeiten. Ich habe mir schließlich das Studium ausgesucht, weil ich in keinem anderen Beruf so viel Freizeit und Ferien habe. Er ist bestens mit Familie zu vereinbaren.“

Familie war das Stichwort. Julie ahnte, was folgen würde. Und es folgte.

„Du hast das alles weggeworfen. Wann hast du dich von Arthur getrennt? Vor vier Monaten? Ich verstehe dich einfach nicht. Er ist aus bestem Haus, studiert Jura, ist gutaussehend, zielstrebig und wollte sich mit dir verloben.“

Doris sprach wie Julies Mutter. Als Julie der darlegte, dass sie sich von Arthur getrennt hatte, weil sie nicht zusammen passten und sie ihn nicht mehr liebe, hatte ihre Mutter gesagt: „Darauf kommt es überhaupt nicht an. Wichtig ist, dass der Mann die Frau liebt, der Rest entwickelt sich schon.“

Julie wusste, dass es sinnlos war, sie antwortete Doris trotzdem:

„Ja genau. Er wollte sich verloben, um mich in einen Käfig zu setzen. Wie oft soll ich es dir noch erklären? Ich habe mich an seiner Seite nicht frei gefühlt. Statussymbole waren ihm wichtig, vom silbernen Kugelschreiber bis zu Designer-Klamotten.“

„Und was, bitte schön, ist schlecht an einem silbernen Stift und Markenkleidung?“

„Nichts, ganz im Gegenteil. Ich bin die erste, die sich über einen silbernen Kuli freut. Aber ich definiere mich nicht darüber. Das war es, was mich genervt hat. Nimm solchen Männern ihre teuren Spielzeuge weg, was bleibt dann noch? Nichts. Und seine Zukunftspläne für uns: Übernahme der Kanzlei seines Vaters im besten Viertel der Stadt, ein Haus am Stadtrand, Kinder. Ich hätte repräsentieren dürfen. Wundervoll. Pünktlich um 17.00 Uhr den Feierabend-Aperitif kredenzen, Häppchen mit Partygürkchen und bunten Paprikastreifen garnieren, Gäste unterhalten. Natürlich hätte ich auch berufstätig sein können, sollte ich Zeit dafür finden.“

Julie war verärgert über die Naivität von Doris, und Doris war sauer, dass Julie trotz ihrer vorlauten Art bei Männern gut ankam. Sie hätte Arthur sofort genommen. Irgendwann würde es Julie einsehen, dass eine Familie das Schönste auf der Welt war. Julie hatte ihrer Meinung nach extreme Ansichten, weshalb es sinnlos war, mit ihr über Beziehungen zu sprechen.

Doris und sie hatten zu unterschiedliche Vorstellungen von Beziehungen und vom Leben überhaupt. Julie hatte keine Lust, weiter über dieses Thema zu reden.

Der rosa Wolkenbruch

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