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Rechtliche Gleichstellung, divergierende Alltagserfahrungen

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Das Jahr 1848 brachte mit § 6 des »Gesetzes, verschiedene Änderungen des Landesverfassungs-Gesetzes betreffend«28 vom 5. September 1848 formal die völlige rechtliche Gleichstellung; dort heißt es u. a.: »Die Ausübung der politischen und bürgerlichen Rechte ist von dem Glaubensbekenntnisse unabhängig.«29 Ende 1853 wurde der Ziegeleiverwalter Aron Rosenberg (Nr. 59/60) in Wunstorf zum ersten jüdischen Mitglied des Bürgervorsteher-Kollegiums und 1854 zu dessen stellvertretendem Vorsitzenden (»Vice-Wortführer«) gewählt. Dennoch klaffte zwischen Verfassungstheorie und Verfassungswirklichkeit eine nicht unbeträchtliche Lücke, die sich etwa in diskriminierenden Verwaltungsentscheidungen oder dem Verlust des passiven Wahlrechts zur Ständeversammlung (1855) zeigte.30

Auch nach der Annexion Hannovers durch Preußen 1866 bestand die Diskrepanz zwischen theoretischer Gleichberechtigung und realer Diskriminierung weiter.31 Selbst nach 1871 zeigte sich, von Ausnahmen abgesehen32, dass die Gleichstellung zwar im freiberuflichen und gewerblichen Bereich galt, man in staatlichen Angelegenheiten (z. B. im Schulwesen oder der öffentlichen Verwaltung) jedoch merken ließ, dass jüdische Belange an zweiter Stelle rangierten.33

Im ländlichen Wunstorf mit seiner fast ausschließlich in Handel und Handwerk tätigen jüdischen Bevölkerung dürften negative Erfahrungen, wie sie z. B. jüdische Akademiker machten, die eine Hochschulstelle anstrebten, allerdings kaum eine Rolle gespielt haben. Wenn die »Erinnerungen« (SPE) des Germanisten und Pädagogen Meier Spanier (1864–1942), Sohn von Leser (Nr. 50) und Elise Spanier, geb. Meyer (Nr. 65), auch ein in der Erinnerung und im Kontrast zu dem erlebten Antisemitismus der späten Weimarer Republik etwas geschöntes Bild wiedergeben dürften34, so deckt sich die Darstellung eines weitestgehend friedlichen Zusammenlebens von christlicher und jüdischer Bevölkerung doch mit anderen Beschreibungen des gesellschaftlichen Miteinanders im ländlichen Raum.35 1925 erinnerte sich Spanier in einem Artikel der »Jüdischen Schulzeitung«:

An warmen Sommerabenden saßen meine Eltern auf einer Bank vor der Tür mit den Nachbarsleuten, der Familie eines Ackerbauers. Wir Kinder hörten zu, wenn meine Mutter und mein Vater, der sein Handwerk in Hannover gelernt hatte, vom Hoftheater erzählte, von Devrient36 und andern Größen, von den herrlichen Aufführungen von Schillers Räubern, Kabale und Liebe u. a. Zuweilen auch spielten wir mit den andern in der Nähe, und es hat die Freundschaft niemals gestört, ja, unserer Unterhaltung manchen neuen Reiz gegeben, daß die Nachbarskinder in die christliche und wir in die jüdische Schule gingen. Im Winter vereinigte uns ein Leseabend der beiden Familien, an dem die Größeren von uns aus guten Büchern vorlasen. Ich muß oft daran denken, mit welchem Feingefühl diese einfachen Leute Rücksicht nahmen auf die religiöse Stellung und Uebung der andern. […] Und als 1871 die Soldaten in das kleine hannoversche Städtchen siegbeglückt heimziehen sollten, verzierten wir jüdischen Kinder gemeinsam mit den christlichen durch unsere Blumenkränze die hohe von uns allen bewunderte Ehrenpforte. So hatte die deutsche Bildungsarbeit und das Miterleben deutschen Schicksals uns in einem Deutschtum geeint, das unverlierbar unsern Herzen bleibt.37

Der Text ist zugleich ein Zeugnis für den Patriotismus großer Teile des deutschen Judentums im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. In städtischem Milieu und späteren Jahren wurde dieser Patriotismus immer wieder mit dem sich seit dem »Gründerkrach«, der nach dem Boom der »Gründerjahre« einsetzenden Überproduktionskrise (1873–79), verstärkenden Antisemitismus38 konfrontiert.39 Dieser bediente sich in seiner Hetze nicht zuletzt des Klischees vom »reichen«, aber »unproduktiven« Juden. Den realen Hintergrund dieses Konstrukts stellte der erfolgreiche soziale Aufstieg großer Teile der jüdischen Bevölkerung während des 19. Jahrhunderts aus der Unter- in die Mittel- und Oberschicht dar, der zu einem großen Teil auf wirtschaftlichen Erfolgen im tertiären Sektor (Handel, Bankwesen) beruhte.40 Diesem waren viele jüdische Bürger nach Aufhebung der Beschränkungen treu geblieben, da hier die in der jahrhundertealten erzwungenen Beschränkung gewonnenen Erfahrungen genutzt und immer noch bestehende Benachteiligungen in anderen Bereichen umgangen werden konnten.41 Zusammen mit den durch die jüdische Aufklärung (Haskala) seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts angestoßenen und später auch staatlicherseits unterstützten Reformen im Bildungsbereich förderte das zeitliche Zusammentreffen von Judenemanzipation und Industrialisierung bzw. dem Übergang zur kapitalistischen Wirtschaft die beschriebene soziale Dynamik. Als »reich« konnte jedoch nur ein kleiner Teil der jüdischen Bevölkerung bezeichnet werden.42 Das gilt erst recht für Dörfer und Kleinstädte wie Wunstorf.

Eine Folge des mehr oder weniger latenten Antisemitismus war auf jüdischer Seite eine Rückbesinnung auf die eigene Religion und Tradition sowie die Gründung zahlreicher jüdischer Vereine und Organisationen, wie dem »Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens« (C. V., 1893).43 Der C. V. vertrat eine bewusste Verbindung von deutscher und jüdischer Identität, was der Haltung der überwiegenden Mehrheit der deutschen Judenheit entsprach.44 Die 1920 gegründete C. V.-Ortsgruppe Wunstorf wurde zunächst von Lehrer Siegfried Weinberg (s. Komm. zu Nr. 77), später von dem Holzhändler und Senator Emil Kraft geleitet.45 Die Bindung von Vereinen an Konfessionen oder politische Richtungen findet sich im 19. und 20. Jahrhundert allerdings auch außerhalb des jüdischen Milieus, so dass das Entstehen jüdischer Vereine nicht allein auf antisemitische Ausgrenzung zurückgeführt werden kann. Das betrifft einerseits die älteren, wie den seit 1849 in Wunstorf bestehenden »Israelitischen Frauenwohltätigkeitsverein«, andererseits jüngere Organisationen wie den (zumindest seit Ende 1922) zionistisch geprägten »Jungjüdischen Wanderbund« (J. J. W. B.), dem 1922/23 der Wunstorfer Harry Schloß, Sohn von Nathan (Nr. 74) und Emma Schloß (Nr. 81), als Einzelmitglied angehörte.46

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