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Der Lehrer, Vorbeter und Schächter

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Als ich schulpflichtig wurde, hatten wir wieder eine eigene jüdische Schule. Das war dem glücklichen Umstand zu verdanken, daß ich in demselben Alter mit dem ältesten Sohne des reichsten Gemeindemitgliedes war. Bis dahin hatten die Kinder genug in der allgemeinen Volksschule lernen können; aber nun mußten sie ›mehr davon abbringen‹. Das Leben stellt sofort größere Ansprüche, wenn ein reiches Kind zur Schule kommt. Und das sieht ja jeder ein, zehn Kinder in einer Klasse können mehr lernen als hundert, und außerdem müssen die Kinder auch etwas von ihrer Religion wissen, und es ist sehr schön, wenn uns jemand am Sonnabend und an den Festtagen etwas vorpredigen kann.

Diese Gründe schlugen umso eher durch, als alle Gemeindemitglieder schon seit Jahren von ihrer Richtigkeit überzeugt waren, mit Ausnahme des einen, der sie nun mit überzeugender Kraft und einwandfreiem Geldbeutel vorbrachte. […]

An und für sich waren [die Kosten für den Lehrer] zwar nicht allzu groß; denn man hatte aus der Zahl der sich bewerbenden Lehrer den billigsten herausgesucht. Das war ein ältlicher Mann, der schon seit einiger Zeit ohne Stellung und unverheiratet war, sonst hätte ja die Lehrerwohnung, die nur aus einer Schlafkammer und einem Kohlenraum bestand, nicht ausgereicht. Außer der freien Wohnung erhielt der Lehrer auch noch hundert Taler und das Recht, sich ›rund zu essen‹. Das ging so zu. Jeden Tag der Woche speiste er bei einer andern Familie, und am Ende der Woche war er rund, das heißt er war ›rund‹, aber bei der wenig üppigen Kost wurde er es nie. Die Einrichtung war übrigens vortrefflich. Es war die einfachste Lösung der heute noch so vielfach umstrittenen Frage, wie die Verbindung von Schule und Haus herzustellen sei. Wenn der Lehrer in die Lage versetzt ist, so gründlich den Geschmack eines jeden Hauses kennenzulernen, wenn die Mutter es wenigstens einmal in der Woche in der Hand hat, die ihrem Liebling widerfahrene Ungerechtigkeit an dem Übeltäter durch salzige Suppen und verbranntes Gemüse zu rächen: dann müssen sich auch die schroffsten Gegensätze in reinste Harmonie auflösen. […]

Gesenkten Hauptes, ohne nach rechts oder links zu sehen, schritt der neue Lehrer aus der Schulstube über den schmalen Flur die Synagoge hindurch zum Vorbeterpult. Bedächtig legte er sich den Tallis81 um, begann die Abendgebete zu rezitieren, und andächtig kritisch lauschte die Gemeinde. Fieberhafte Spannung lag auf allen Gesichtern, als die ersten Psalmen beendet waren. »Nun kommt's drauf an, der Lechodaudi82, das ist die Hauptsache.« Mit zitternder Stimme trug er eine wehmütige Weise des Sabbatbrautliedes vor. Seitwärts und rückwärts wandten sich die Köpfe der Zuhörer, um nach der ersten Strophe ihre Bemerkungen auszutauschen. […]

In allen jüdischen Häusern gab's an dem Abend nur eine Frage und ein Diskussionsthema: »Nun, wie hat er geort83

Und als sich am andern Morgen der männliche Teil der Gemeinde, jung und alt, wie gewöhnlich vor dem Gottesdienst im Vaterhause des langen Zender, das nahe bei der Synagoge stand, versammelte, da wurde nicht wie sonst von den Dorfereignissen oder von Geschäften gesprochen, da gab's nur einen Gesprächsstoff: der neue Lehrer.84

Die Schilderung des Lehrers und Schriftstellers Jakob Loewenberg (1856–1929), eines guten Freundes Meier Spaniers,85 bezieht sich nicht auf die Verhältnisse in der Wunstorfer Gemeinde, sondern auf die in seiner westfälischen Heimat (Niederntudorf bei Salzkotten). Die erhaltenen Quellen vermitteln jedoch ein ähnliches Bild. Hier wie dort wird die Diskrepanz zwischen der Bedeutung des Lehrers für die Gemeinde und dessen prekären Lebensumständen deutlich. Dies gilt in besonderem Maße für die Zeit vor der preußischen Annexion (1866), als die Schulaufsicht, Anstellung und Vergütung der Lehrer noch vorwiegend Sache der Gemeinden bzw. ihrer Vorsteher war.86 Doch auch noch nach 1871 konnte ein jüdischer Volksschullehrer sich in der Regel nur mit Nebentätigkeiten über Wasser halten.87 Erst seit dem »Gesetz, betr. das Diensteinkommen der Lehrer und Lehrerinnen an öffentlichen Volksschulen« vom 3. März 189788 waren die festangestellten jüdischen Elementarlehrer (nicht aber die reinen Religionslehrer) ihren christlichen Kollegen finanziell gleichgestellt.

Lehrer der jüdischen Gemeinde Wunstorf 89

Lehrer des Wunstorfer Cheders bzw. der jüdischen Religionsschule
1760er Jahre Heine Benjamin
1813 Nachum Immanuel
1828 Pincus Rabins aus Westpreußen (bisher in Groß-Munzel)
1830 (?) Religionslehrer Isidor Margner aus Berfa
um 1830 Lehrer Rosenfeld aus Dänemark
1832 Joseph Nachum
1832 (bis 18.3.) B. Levysohn (wegen angeblicher »unsittlicher« Kontakte zu einer Frau entlassen)
1843 (28.3.)–1844 Religionslehrer Salomon Badt aus Schwersenz/Großherzogtum bzw. Provinz Posen
1846 Religionslehrer Jakob Herz aus Altona
1846–1848 Lehrer B[ernhard]90 Fuld (bittet am 10.12.1847 um Entlassung wegen geplanter Auswanderung nach Amerika im Frühjahr 1848)
1848 (20.3.)–1849 (Purim) M.91 B. Rosendahl (geht nach Rehburg)
1849 (1.9.)–1852 (Mitte April) Religionslehrer Joachim Adler aus dem Amt Tschestitz/Böhmen
1852 (1.9.)–1854 M. Wurzel (bittet im September 1854 um Entlassung, um ins Ausland zu gehen)
Lehrer nach Einrichtung der jüdischen Elementarschule
1856 (4.9.)–1863 (Ostern) Lehrer Jacob Löwenstein aus Stolzenau (vorher in Eldagsen/gibt den Lehrerberuf auf, um Kaufmann zu werden). In Löwensteins Vertrag wurden Lehr- und Schächteramt getrennt.
1863 (26.11.)–1865 (30.6.) Lehrer Theodor Philipp aus Wandsbeck, erneute Verbindung von Lehr- und Schächteramt (geht nach Lüneburg)
1866 Lehrer Luhs als provisorischer Lehrer (evtl. Markus Luhs aus Gemünden/Wohra)
1867 (24.8)–1868 (Ostern) Baruch Baruch aus Gudensberg (geht nach Hamburg)
1868 (6.6.)–1870 (Michaelis) Lehrer Julius (Isaak) Löwenstein aus Gudensberg (geht nach Celle)
1871 (3.6.)–1873 (April) Lehrer Heinemann (Chajim ben Naftali)92 Neumark aus Vellmar in Kurhessen
1873 (1.5.)–1879 (Ostern) Lehrer Jonas Goldschmidt aus Falkenberg, zunächst provisorisch; fest angestellt ab 22.6.1876 (geht nach Hamburg)
1879 (1.8.)–1880 (März) Aron Selz aus Künzelsau/Württemberg, provisorischer Lehrer (wegen »ungebührlichen Verhaltens« entlassen)
1880 (3.10.)–1881 (Ostern) Lehrer Joseph Josephsohn
1881 (1.5.)–1885 Lehrer Ludwig (Louis) Horwitz aus Vandsburg/Westpreußen (geht nach Graudenz)
1885–1887 Lehrer Julian Schöps aus Koschmin (nimmt eine Stelle im Regierungsbezirk Düsseldorf an)
1889 Lehrer Hermann Wallach
1890 Lehrer Josephsohn
1893–1896 Aron Neuhaus (später in Fritzlar)
1896–1898 Lehrer Capell
1899–1905 Lehrer Joseph Moses (geht nach Kassel)
1906–1910 (30.6.) A. Gunzenhäuser aus Boppard/Rh. (auf Antrag entlassen)
1910 (1.9.)–1924 (30.11.) Lehrer Siegfried Weinberg aus Schenklengsfeld (vorher in Gehrden)
Religionslehrer nach Aufhebung der jüdischen Volksschule Wunstorf
1924–1930 Lehrer Siegfried Weinberg (zieht nach Hannover; 1939 Emigration in die USA)
1930–1931 Lehrer Philipp Goldmann aus Wiesbaden (kommt von Köln, geht nach Wiesbaden; polnischer Staatsangehöriger)
1931–1933 Lehrer Adolf Cohen aus Aurich (kommt von Würzburg/unbekannt verzogen)

Bereits der häufige Wechsel der Lehrer, die sich eine besser dotierte Stelle suchten, nach Ansicht der Gemeinde bzw. des Vorstehers nicht die fachlichen oder sittlichen Voraussetzungen mitbrachten, den Lehrberuf zugunsten eines auf die Dauer befriedigenderen Gewerbes, wie desjenigen eines Kaufmanns, aufgaben oder sich zur Auswanderung entschlossen, lässt auf die schwierige Situation der meist unverheirateten Männer schließen. So bittet der damals 37-jährige93 Religionslehrer Joachim Adler am 27. August 1851 Landrabbiner Dr. Meyer um Unterstützung bei der kurzfristigen Bewerbung um eine einträglichere Stelle in Gehrden:

Denn in Wunstorf ist weder ein Zweck noch ein Bleiben für mich, ich müßte mich hier sehr einschränken und ein sehr beschränktes Leben führen, wenn ich mit meinem Gehalte auskommen will. Ich habe im Laufe des Sommers meinen Ueberzieher nach dem Leih[h]ause zu Hannover schicken müssen. – Mein Gehalt ist schon bereits 4 Wochen fällig und ich habe ihn noch nicht. Man will mir mit Gewalt 3 Thaler an Aufwartung u 5 Thaler an Beköstigung abziehen. – Auch habe ich hier keinen rechten Wirkungskreis, – aber Ärger und Verdruß habe ich genug. Das Weib im Hause, der ich so viele Gefälligkeiten erwiesen habe, ärgert mich täglich u stündlich, wie sie mich nur ein lautes Wort sprechen oder ein Kind weinen hört, so geht sie gleich zu den Eltern hin und erzählt es ihnen und lügt noch obendrein dazu.94

Die schwierige Rolle des Lehrers, der – selbst in der Regel kein Gemeindemitglied95 – einerseits eine exponierte Stelle in der Gemeinde einnahm, andererseits oft die Abhängigkeit von seinem Umfeld zu spüren bekam, mag manchen überfordert haben, so dass Vorwürfe wegen »sittlicher Verfehlungen« – im Allgemeinen waren dies »verdächtige« Kontakte zu Frauen oder Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit –, die zuweilen zu einer Entlassung führten, einen faktischen Hintergrund gehabt haben dürften.

Die Forderung nach einem streng sittlichen Lebenswandel beruhte zum einen auf der Vorbildfunktion des Lehrers, zum anderen auf seinem zweiten Amt als Vorbeter bzw. Kantor (hebr.: chasan). Dieser ersetzte in Wunstorf wie in vielen anderen Landgemeinden den Rabbiner, den man sich aus Kostengründen nicht leisten konnte. Er übernahm die Leitung des Gottesdienstes, predigte und nahm Beerdigungen sowie mit Erlaubnis des Landrabbiners Trauungen vor, sofern dieser hierzu nicht persönlich erschien.

Eine weitere Funktion, die in Wunstorf, abgesehen von der Amtszeit Jacob Löwensteins (1856–1863), fest mit der Lehrerstelle verbunden war, war das Amt des Schächters (hebr.: schochet). Dabei war eine Trennung beider Funktionen bereits in den »Bestimmungen wegen des jüdischen Schulwesens im Bezirke des Land-Rabbiners zu Hannover« vom 11. Juli 183196 angestrebt worden. Doch auch hier war Wunstorf keine Ausnahme.97 Dass man dem Lehrer diese für einen Pädagogen eher ungewöhnliche Funktion zuwies, lag an der religiösen Vorbildung und Frömmigkeit, die man auch bei einem Schochet voraussetzte. Für das Ansehen des Lehrers und Vorbeters, besonders in seinem nichtjüdischen Umfeld, wurde diese Aufgabe jedoch eher als Belastung empfunden.98

Festgehalten werden muss angesichts dieser »Ämterhäufung« allerdings, dass Nebentätigkeiten wie Küster, Organist oder Lektor auch auf einen christlichen Volksschullehrer zukamen; gleiches galt auch für den »Reihetisch«, also die als Teil des Lohns angerechnete Verköstigung im Haushalt von Gemeindemitgliedern.99

Was die fachliche und pädagogische Vorbildung der jüdischen Religions- und Elementarlehrer angeht, waren Klagen über diesbezügliche Defizite noch um die Jahrhundertmitte nicht selten. So schildert Gustav Goslar aus eigenem Erleben den oben erwähnten Religionslehrer Joachim Adler (nach seinem Wechsel an die Schule der jüdischen Gemeinde in Bremen, 1858) als einen »Mann mit wenig genügender fachmännischer Bildung«:

Das Schulzimmer war ein einfensteriger, schmaler Raum, der einen langen Tisch und an beiden Seiten eine Bank enthielt. Vor dem Tisch nun saß Adler im Schlafrock, mit seinem Hauskäppchen geziert, und qualmte mit seiner langen Pfeife das Zimmer so voll, daß einem das Atmen schwer wurde. Die wenigen Unterrichtsstunden verteilten sich auf den Sonntag-Vormittag und Mittwoch-Nachmittag. Adler erzählte uns in einem nicht einwandfreien Deutsch aus der biblischen Geschichte, dann hatten wir die zehn Gebote und die Dreizehn Glaubensartikel zu lernen, auch ab und zu – soweit möglich – aus dem Gebetbuch zu lesen, und das war der gesamte Unterricht.100

Mit der Zeit führte die zunehmende behördliche Kontrolle und die genauere Regelung der vor dem Landrabbiner (bei Elementarlehrern in Anwesenheit eines Vertreters der Landdrostei) abzulegenden Prüfung seit Erlass der »Schulordnung für jüdische Schulen« vom 5. Februar 1854101 im Sinne der Emanzipationsbestrebungen zu einer Ausbildung, die auch die zuvor eher randständigen »Elementar-Gegenstände«102 einbezog. Dies gilt besonders für die Zeit nach 1861, als sich die hannoversche Regierung zu einer deutlichen Erhöhung ihrer Zuschüsse für die 1848 als private Lehranstalt unter staatlicher Aufsicht gegründete »Bildungs-Anstalt für jüdische Lehrer« in Hannover entschlossen hatte.103 1875 waren ca. 97 % der Lehrerstellen mit geprüften Lehrern besetzt, wobei knapp 15 % der zur Verfügung stehenden Stellen allerdings aus unterschiedlichen Gründen frei blieben.104 Einen großen Anteil an den Verbesserungen in Ausbildung und Unterricht hatten die jüdischen Lehrer selbst, die sich 1863 zum »Verein der jüdischen Lehrer im Königreich Hannover« (später: »Verein jüdischer Lehrer in der Provinz Hannover«) zusammenschlossen.105 1870 fand die in späteren Jahren überwiegend in Hannover abgehaltene Konferenz des Vereins in Wunstorf (Lehrer Löwenstein) statt.106 Auf späteren Konferenzen finden sich als Teilnehmer und Vortragende (V) die Wunstorfer Lehrer Ludwig Horwitz (1882 [V], 1884),107 Capell (1896/1898) 108 und Siegfried Weinberg (V, 1927). 109 Zweck des Vereins war nach den 1866 in Lehrte verabschiedeten Statuten (§ 2) neben der »Hebung der Schule und des Gottesdienstes« der Einsatz für eine Verbesserung der materiellen Situation der Lehrkräfte.110 Deren Unterstützung und der ihrer Hinterbliebenen hatte sich der 1864 gegründete Selbsthilfeverein »Achawa« (dt.: »Brüderlichkeit«) verschrieben, zu dessen Gründungsmitgliedern der damalige Wunstorfer Lehrer Theodor Philipp gehörte.111

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