Читать книгу Glücksspieler - Elfi Hartenstein - Страница 5
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ОглавлениеEs war Anfang Juni und bereits hochsommerlich warm in Berlin. Vor dem Mahlower Eck in Neukölln saßen ein paar alte türkische Rentner beim morgendlichen Cay. Einer lehnte sich zurück und schaute in die Wipfel der Linden, die ihn an seine Heimat erinnerten, die er nie wiedersehen würde. Er war zu alt. Er war schon zu lange hier. Er wollte hier sterben und auf dem muslimischen Friedhof am Columbiadamm begraben werden. Seine Frau lag dort. Zwei seiner Söhne.
An einem anderen Tisch machten drei Handwerker bei einem Bier ihre Frühstückspause. Sie waren seit sechs Uhr morgens unterwegs und hatten es sich verdient.
Drinnen im dämmrigen Schankraum hatten sich drei Männer an einem runden Tisch zusammengesetzt: der Wirt Kemal Özdamar, den seine Berliner Jahre grau und alt hatten werden lassen. Daneben Dimitri Cordalis, ein gebürtiger Grieche, Eigentümer verschiedener Kneipen und Bars, Geldverleiher und Herr über diverse illegale Glücksspielrunden. Cordalis hatte borstiges graues Haar und einen dichten grauen Schnauzbart, der auch Özdamar gut gestanden hätte. Sein Hund Rudi lag unter dem Tisch, hatte sich längere Zeit hingebungsvoll die Pfoten geleckt und ging jetzt dazu über, an Cordalis’ Hosen zu knabbern. Das Schweigen am Tisch hielt schon eine Weile an, und Cordalis verstand, dass der Hund sich langweilte, verwarnte ihn aber, indem er die Hand unter den Tisch streckte und mit dem Zeigefinger mehrere Male auf Rudis Kopf tippte, bis dieser sich seufzend wieder hinlegte und die Augen schloss.
Der Dritte am Tisch war Lou Feldmann, ein drahtiger Mittfünfziger, ehemaliger Kriminalhauptkommissar, der in seiner Zeit bei der Mordkommission viel Menschenkenntnis erworben hatte. Seit seinem freiwilligen Abschied dort war er Eigentümer und Wirt eines in der Friedenauer Wielandstraße gelegenen Lokals namens LOU’s und bei Bedarf auch als Schlichter im Milieu unterwegs. So wie heute.
Hinter dem Tresen war Özdamars Sohn Ali damit beschäftigt, die Kaffeemühle aufzufüllen. Ab und zu schickte er einen besorgten Blick zu seinem Vater hinüber, der ein wenig in sich zusammengesunken zwischen Cordalis und Feldmann saß und vor sich auf die Tischplatte starrte.
Cordalis unterbrach das Schweigen, indem er Ali zuwinkte. „Ali, einen griechischen Kaffee, Ellinikós kafes, metrios, parakalo.“
Özdamar Senior ließ sich dadurch nicht provozieren. Er wusste ja, dass es kein griechischer, sondern türkischer Kaffee war, den die Griechen nach vierhundertjähriger Herrschaft der Osmanen tranken.
„Dazu muss ich in die Küche“, murrte Ali. „Soll ich nicht hören, was ihr da besprecht, oder was?“
Jetzt wandte auch Lou Feldmann den Kopf zum Tresen.
„Nein, lass den Kaffee, Ali, und setz dich zu uns. Es geht hier auch um deine Zukunft.“ Er rutschte auf der Bank ein Stück weiter, damit Ali sich neben ihn setzen konnte.
Ali kam an den Tisch, ignorierte jedoch Feldmanns Angebot, sondern sah, ganz gehorsamer Sohn, seinen Vater abwartend an. Als dieser zustimmend nickte, zog Ali sich einen Stuhl heran, setzte sich und schaute, während er sich mit der Hand über das kurz geschnittene Haar strich, fragend in die Runde.
Dimitri Cordalis nickte ihm zu. „Du hast mitbekommen, dass eure Kneipe den Bach runtergeht.“
Kemal Özdamar schüttelte den Kopf. „Ich krieg sie schon wieder hoch.“
„Das hast du schon vor einem Jahr versprochen, Kemal. Aber deine Schulden bei mir werden immer größer. Du bist zu alt im Kopf für einen Neuanfang. Sieh das doch endlich ein. Auch wenn es wehtut.“
„Seit dreißig Jahren mache ich das jetzt“, empörte sich Özdamar Senior. „Auch bei den anderen Wirten läuft es schlecht. Teilweise noch schlechter.“ Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und sprang auf.
Theater, stellte Feldmann für sich fest. Alles Theater. „Kemal“, sagte er ruhig, „reg dich ab. Du hast deine Frau in Kuşadasi beerdigt, nicht in Berlin, das heißt, du willst doch auch zurück. Du hast da ein großes Haus. Und eine Menge Verwandtschaft.“
„Und wie stellt sich Dimitri das vor? Glaubt er vielleicht, ich überlasse ihm mein Lokal für das bisschen Geld, das ich ihm schulde?“
Gespielte Wut, wusste Feldmann. Er will verhandeln.
„Komm wieder runter, Kemal“, sagte er geduldig. „Dimitri hat dir einen vernünftigen Vorschlag gemacht. Denn mit dem, was du hier umsetzt, wirst du deine Schulden bei ihm nicht begleichen können. Da müsstest du schon dein Haus in der Türkei verkaufen.“
„Niemals!“, stieß Kemal wütend hervor.
„Ganz ruhig, Kemal“, sagte Feldmann. „Wenn du Dimitri deine Kneipe überlässt, bist du schuldenfrei, und dein Sohn wird hier Geschäftsführer.“
„Der?“, fragte Kemal und sah erst seinen Sohn an und dann Dimitri Cordalis.
Cordalis nickte. „Ich habe ihn eine ganze Weile beobachtet. Er trinkt nicht. Er spielt nicht. Ich weiß, dass er gut klarkommt.“
„Und wovon soll ich leben?“, erregte sich Kemal Özdamar erneut.
Feldmann blickte ihn an. Er wusste, dass Kemal genügend Geld auf die Seite geschafft hatte. „Es geht nicht nur um dich. Es geht auch um deinen Sohn. Er bekommt von Dimitri ein festes Gehalt, Krankenversicherung, Rentenversicherung. Und du kriegst zehn Prozent vom Gewinn, der hier erwirtschaftet wird.“
„Fünf“, sagte Dimitri Cordalis scharf.
„Zehn“, sagte Kemal Özdamar stur.
„Sechs“, sagte Cordalis.
Feldmann stand auf, ging mit Ali an den Tresen. Der strahlte. Endlich würde er von seinem Vater unabhängig sein. Im Hintergrund hörte er, wie sich die beiden Streithähne auf acht Prozent einigten.
„Vier Raki“, sagte Feldmann.
Ali stellte vier Gläschen mit Raki auf den Tresen. Cordalis und Özdamar Senior standen auf. Jeder nahm ein Glas, sie tranken.
„Sind wir uns also einig?“, fragte Cordalis. „Dann lasse ich einen Vertrag aufsetzen zu den von Lou genannten Bedingungen. Acht Prozent! Jetzt muss ich los. Ich habe Gäste heute Abend.“
Rudi stand schon an der Tür und sah ihm schwanzwedelnd entgegen.
„Ja, Rudi“, sagte Cordalis, „ich habe verstanden. Du hast’s eilig.“ Er öffnete die Tür und ließ den Hund vorbei, bevor er selbst hinausging.
„Warte“, rief Feldmann hinter ihm her, „ich fahre dich nach Hause.“ Er reichte erst Kemal Özdamar, dann Ali die Hand. „Viel Glück, Kemal. Ich denke, du kannst zufrieden sein mit dieser Lösung.“ Kemal Özdamar hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. Ali nickte. „Wir sind beide ganz gut dabei weggekommen.“
„Ich komme wieder vorbei“, sagte Lou Feldmann. Dann folgte er Cordalis nach draußen.
„Was schulde ich dir für die erfolgreiche Vermittlung?“, fragte Dimitri Cordalis, kaum dass Rudi auf dem Rücksitz und er selbst auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte. Feldmann startete den Motor, rangierte den Wagen aus der Parklücke heraus und fuhr gemächlich auf die Herrmannstraße zu. Bevor er um die Ecke bog, sagte er: „Wenn ich anfange, mich kaufen zu lassen, kann ich aufhören zu vermitteln.“
Cordalis antwortete nicht. Er sah äußerst zufrieden aus. Sie wechselten kein Wort mehr, bis Lou Feldmann in Dahlem die ruhige Wohnstraße erreicht hatte, in der Cordalis’ Stadthaus lag. Als er davor anhielt, sagte er: „Viel Spaß heute Abend.“
„Das ist ein Geschäft, kein Vergnügen“, sagte Cordalis, stieg aus, ließ Rudi herausspringen und öffnete das eiserne Gartentor.
Als die beiden durch den Vorgarten auf das Haus zugingen, wendete Feldmann und machte sich auf den Weg nach Friedenau in die Wielandstraße. Dort hatte Remy sicher längst die Einkaufsliste geschrieben. Sie mochte es nicht, wenn er mit dem Einkaufen bis in den Nachmittag wartete. „Es kann immer mal was dazwischenkommen“, pflegte sie zu sagen, „dann stehe ich da und kann den Leuten bloß Dosenfutter anbieten. Das ist verdammt noch mal dein Laden, also kümmere dich auch darum, dass dein Essen seinen guten Ruf behält.“ Er lächelte vor sich hin. Nein, er hatte sich nicht getäuscht. Die Entscheidung, Remy Straub als Geschäftsführerin einzustellen, war die richtige gewesen. Damals, als er Andersens Kneipe pachtete und daraus das LOU’s machte – noch bevor Andersen ihm das ganze Haus vererbte -, hatte er von Buchhaltung keine Ahnung gehabt, und von allen anderen Herausforderungen, die zum täglichen Brot eines Kneipenwirts gehören, ebenso wenig. Der Zufall – oder besser gesagt, sein Arbeitsalltag beim LKA – hatte ihn auf Remy Straub treffen lassen. Es war der letzte Fall, den er als Kriminalhauptkommissar gemeinsam mit seiner Kollegin Eva Hennings bearbeitet hatte. Der letzte vor seinem Ausstieg. Und ein Glück für ihn, weil sich herausstellte, dass Remy etwas von Buchhaltung verstand und bereits ein Café geführt hatte. Er hatte ihr die Geschäftsführung im LOU’s angeboten, sie hatte sein Angebot angenommen und war seither seine rechte Hand.
Als er den Wagen in der Wielandstraße auf dem Bürgersteig vor seinem Lokal abstellte, stand sie vor der Tür und wollte gerade den Schlüssel im Schloss umdrehen, zog ihn aber, als sie Lou sah, wieder heraus.
„Chef. Die Liste liegt auf deinem Schreibtisch. Ich fahre eben mal rüber zu Aydin. Sie braucht Unterstützung. Wir kommen dann zusammen hierher, spätestens um zwei. Ist das in Ordnung?“
Feldmann nickte. „Passt schon. Ist irgendwas mit Aydin?“
Remy zuckte die Schultern. „Schätze mal das Übliche. Allerdings hat sie sich am Telefon angehört, als würde sie weinen.“ Sie steckte den Schlüsselbund in ihre Umhängetasche, winkte Lou zu und lief los in Richtung S-Bahn.
Lou sah ihr nach. Ein schmales, zähes Mädchen in roten Jeans, schwarzem T-Shirt und einer Baseballkappe auf dem kurzen schwarzen Haar. Zäh und ihren Freunden gegenüber absolut loyal. Aydin war ihre Freundin. Remy hatte Lou damals überzeugt, auch sie einzustellen. Als Küchenhilfe und Putzfrau. „Aydin braucht einen Job“, hatte sie ihm erklärt. „Sie braucht das Geld dringend. Weil ihr Mann Mehmet seinen Lohn ständig verspielt. Und ihre Tochter soll nach dem Abi unbedingt studieren. Und außerdem will Aydin selbst auch ihr Abitur nachmachen.“ Lou hatte keine Einwände gehabt. Er vertraute Remy. Und Remy vertraute ihm.
Er holte den Einkaufszettel aus seinem Büro, warf kurz einen Blick in die Küche, stellte fest, dass die Spülmaschine lief und nur noch die unabgewaschenen Töpfe von gestern herumstanden, die konnte er Aydin überlassen. Dann verschloss er die Eingangstür von innen und nahm im Flur zum Hinterausgang noch die Mülltüten für die Container im Hof mit.