Читать книгу Glücksspieler - Elfi Hartenstein - Страница 9
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ОглавлениеDr. Sylvie Westphal hatte den Anruf zwei Stunden nach Beginn ihrer Nachtschicht in der Notaufnahme des Urbankrankenhauses erhalten. Sie kannte die Stimme und wusste sofort, wen sie an der Strippe hatte. Ohne ihr Erstaunen zum Ausdruck zu bringen, ließ sie sich genau schildern, um was für eine Verletzung es sich handelte, fragte, wie stark die Blutung sei, und erklärte, vom medizinischen Standpunkt her betrachtet sei es eindeutig das Beste, der Anrufer käme umgehend in die Klinik. Ihrer Erfahrung nach konnten nur die wenigsten Patienten einschätzen, wie bedrohlich der Blutverlust nach einer Verletzung wirklich war. Andererseits war es nicht das erste Mal, dass Sylvie Westphal von einem Patienten kontaktiert wurde, für den der medizinische Standpunkt zweitrangig war. Deshalb willigte sie schließlich ein, so bald wie möglich ihre Schicht abzutreten und nach Hause zu kommen.
Es war kurz vor fünf Uhr und beinahe hell, als sie den Wagen parkte und auf ihre Haustür zusteuerte. Aus dem Dunkel des Hauseingangs gegenüber trat ein Mann auf die Straße, der schmerzverkrümmt und ein wenig hinkend auf sie zukam. Ein zerknittertes Leinenjackett bedeckte seinen ansonsten nackten Oberkörper. Das mit Blut vollgesogene Hemd presste er sich an die rechte Seite. Sylvie Westphal öffnete die Tür. Der Mann folgte ihr wortlos. Sie fuhren mit dem Aufzug in die dritte Etage. Erst als die Wohnungstür von innen abgeschlossen war, sahen sie einander ins Gesicht.
„Manu. Du traust dich was.“
„Sylvie. Ich …“
„Wo kommst du denn jetzt so plötzlich her? Nach zwei Jahren …?“
„Flughafen.“
„Und wo kam der Flieger her?“
„Moskau.“
„Aber du warst nicht in Russland.“
„Nur eine Nacht und einen halben Tag auf dem Flughafen.“
„Und vorher?“
„Patagonien. Mit Zwischenstopp in Kuba.“
Sie betrachtete ihn kopfschüttelnd und zeigte auf das blutdurchtränkte Hemd, das Manu an seine Seite presste. „Zeig her. Schussverletzung, hast du gesagt?“
„Frag mich nicht, wer das war. Die waren einfach da.“
„Ich frage gar nichts. Komm rüber an den Tisch.“
Sylvie Westphal holte ihren Arztkoffer und breitete ihr Besteck auf dem Tisch aus. Dann untersuchte sie die Wunde. „Da hast du ziemliches Glück gehabt. Das war bloß ein Streifschuss. Ich desinfiziere jetzt die Wunde. Aber ich sage dir eines, Manu Feldmann, die Bullen haben mich auf der Abschussliste. Wegen einer Sache wie dieser. Und nach dir fahnden sie seit zwei Jahren wegen Mordes. Du musst schnellstens von hier verschwinden.“
„Aber ich habe Hanna nicht umgebracht!“
„Dass du abgehauen bist, ist nicht unbedingt ein Zeichen dafür, dass du unschuldig bist.“
Manu biss die Zähne zusammen, als Sylvie die Wunde mit einer Kompresse, auf die sie reichlich Desinfektionslösung geträufelt hatte, säuberte.
„Du stinkst“, sagte sie. „Trotzdem solltest du damit mindestens eine Woche lang nicht duschen. Wasch dir deinen Schweiß mit dem Waschlappen ab.“
Manu schluckte. Er wagte nicht, sich zu rühren. Erst als Sylvie die Wunde mit einer neuen Kompresse bedeckte und begann, einen Verband anzulegen, fragte er: „Verpfeifst du mich jetzt?“
„Wenn sie mir das Messer auf die Brust setzen: ja. Du weißt, dass Schussverletzungen gemeldet werden müssen. Ärztliche Schweigepflicht hin oder her. Aber jetzt sorge ich erst einmal dafür, dass dein Onkel dich abholt.“
Sie schnitt den Rest der Mullbinde ab, klebte zwei Leukosilk-Streifen über die Verbandsenden und griff sich ihr Handy.
„Du willst ihn doch nicht anrufen?“, fragte Manu kleinlaut. „Vielleicht wird er abgehört.“
„Keine Angst.“
Sylvie begann eine SMS zu tippen.