Читать книгу DAS GEHEIMNIS DER 7 FEIGEN - ELIYA LOREN - Страница 7
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Ich spürte einen zarten Windhauch über mein Gesicht streichen. Ein merkwürdiges Gefühl durchflutete mich. Es roch nach Moos und Pilzen. Unter meinem rechten Fuß knackste es. Etwas stand ganz nah, circa zwei Meter entfernt vor mir. Mir stockte der Atem. Ich kniff meine Augen zusammen, konnte aber nichts erkennen. Plötzlich nahm ich die Präsenz eines Lebewesens wahr, und das ließ mich erschauern. Aus dem Dunkeln blickten mich zwei große tiefblaue Augen eindringlich an. Das Herz klopfte mir bis zum Hals. Schemenhaft erkannte ich Umrisse. Wie aus dem Nichts bildeten sich Konturen ab. Es sah eigenartig aus. Dampfend stieg ein Atem empor und umhüllte mich wie Nebel. Trotz der kräftigen Statur wirkte der Körper des Lebewesens transparent. Es hatte eine helle, türkise Farbe und schnaubte leicht. Die Augen funkelten wie Kristalle. Vor mir stand ein Einhorn. Ich hielt die Luft an. Regungslos standen wir uns gegenüber. Die Zeit schien still zu stehen. Ich weiß nicht mehr genau, wie lange wir uns so in die Augen blickten. Leises Vogelzwitschern drang an mein Ohr.
Ein leichter Wind von außen bewegte die Vorhänge. Aus der Ferne – kaum wahrnehmbar – hörte ich durch das geöffnete Fenster, wie ein Kuckuck rief. Ganz langsam und seltsam berührt öffnete ich meine Augen.
Es war noch früh. Die Sonne blinzelte gerade hinter dem Berg hervor und schickte ihre ersten Strahlen durch den Spalt zwischen den schweren Samtvorhängen. Noch ganz benommen versuchte ich, mich an meinen Traum zu erinnern. Ich sog den Duft des noch unberührten Morgens ein, räkelte mich und genoss den wohligen Moment in meinem warmen Bett. Allmählich ließ ich meine Gedanken aufwachen. Die Stimmung am Morgen, die frische Luft und das muntere Vogelgezwitscher gelangten immer mehr in mein Bewusstsein und weckten meine Lebensgeister.
Meine Gedanken wanderten zu dem Traum zurück. Ein intensives Gefühl sagte mir, dass dieser Traum etwas Wichtiges zu bedeuten hatte. Bloß was? Ich tappte im Dunkeln. Schon des Öfteren hatte ich Ereignisse vorausgeträumt, sogar mit Zeitangabe, die dann tatsächlich eintrafen. Wenngleich ich das Gefühl, welches mich durch den Traum begleitete, nicht einordnen konnte. Irgendwie war es vertraut. Eine eigentümliche Lebendigkeit ergriff mich.
Da ich diesen sonderbaren Traum nicht deuten konnte, sprang ich aus den Federn. Zähneputzen, duschen, anziehen, schminken, frühstücken, schreiben, spielen, singen, telefonieren… Der ganz alltägliche Wahnsinn. Wie jeden Tag stand einiges auf meiner Liste.
Einige Telefonate bezüglich meiner Engagements für diesen Monat mussten geführt werden. Gesang- und Klavier-Üben stand ebenfalls auf meinem Plan. Immerhin gehörte das zu meinen täglichen Lieblings-Pflichten. Es machte mir Spaß, mein Repertoire zu erweitern. Und außerdem liebte ich es, unterwegs zu sein, neue Länder und interessante Menschen kennenzulernen.
Ein eigenes kreatives Projekt, in das ich mein ganzes Herzblut steckte und an dem ich schon seit einigen Jahren arbeitete, fraß die restliche Zeit, die ich noch übrighatte. So jonglierte ich mich durch meine Engagements, mit denen ich mein tägliches Leben finanzierte – und alles, was ich übrig hatte, steckte ich in mein Herzens-Projekt.
Immer wieder schoben sich mein Traum und das Bild von dem Einhorn zwischen meine Gedanken. »Vielleicht sollte ich es malen«, überlegte ich, und rätselte, was dieses mythologische Fabelwesen wohl für eine Bedeutung für mich hatte. Nur allzu gerne verlor ich mich in dieser Art von Gedankenspielereien. Trotzdem kam ich zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis.
Spontan fuhr ich am nächsten Tag zu meinem Lieblings-Fachhandel für Künstlermaterialien und kaufte mir eine große quadratische Leinwand. Obwohl ich mit Farben und Pinseln zu Hause gut ausgerüstet war, konnte ich nicht widerstehen und ließ mich von all den Farben und Malutensilien inspirieren. Wie immer konnte ich mich nicht bremsen, kaufte viel zu viel und deckte mich mit Farben, ausgefallenen Pigmenten und Pinseln in allen Größen ein. Voll innerer Vorfreude fuhr ich gut gelaunt nach Hause.
Meistens hatte ich viel zu wenig Zeit, um zu malen. Doch im Malen fühlte ich mich frei. Frei von allzu großen Ansprüchen, die ich sonst in meiner Musik hegte. Frei auch deshalb, weil ich die Malerei nicht studiert hatte und alles nach Lust und Laune ausprobieren konnte.
Ich liebte es, wenn sich mein Wohnzimmer in ein Atelier verwandelte. Der Duft der Farben, des Leinöls, mit dem ich meine Pigmente anmischte, sogar der intensive Geruch des Pinselreinigers verursachten mir wohlige Schauer. Interessanterweise bleibt beim Malen die Zeit stehen. Wie aus einer fernen Welt vergesse ich alles um mich herum. Das Faszinierende in der Malerei ist – im Gegensatz zu der Musik – das Immerwährende, Präsente, Sichtbare. Jeder noch so kleine Punkt und jeder Pinselstrich auf der Leinwand ergibt eine deutlich wahrnehmbare Veränderung! Außerdem kann man ein Bild an die Wand hängen und es immerzu anschauen. Und es bleibt. Zumindest, solange es an der Wand hängt – während die Musik immer sofort verfliegt!
Schade, dass ich meine Musik nicht an die Wand hängen kann, um sie »anzuschauen«. Immerzu in Bewegung wandert sie an einem vorbei. Geht zum einen Ohr hinein und fliegt zum anderen Ohr wieder hinaus. Dann ist es wieder still, außer es bleibt ein kleiner Ohrwurm hängen, der einen über den Tag hinweg begleitet.
Während des Malens jedoch kann man nebenbei Musik hören und sich davon inspirieren lassen. Doch während man übt oder komponiert, kann man leider keinen weiteren Tätigkeiten nachgehen. »Welch ein glückliches Leben musste so ein Maler doch haben!« seufzte ich.
Dennoch bin ich eine Vollblutmusikerin. »Musik ist ihr Leben«, schrieb einmal ein Journalist über mich. In einer Welt zu leben ohne Musik, die ich liebe, wäre für mich unvorstellbar. Die Musik existiert außerhalb der Zeit. Es ist faszinierend, was Musik alles vermag: Der Takt, die Melodie, das Singen – das alles kommt aus uns, aus unserem Körper heraus. Ich weiß, Malen und Schreiben kommen auch aus uns heraus. Musik aber ist der Ursprung! Wir singen, wenn wir geboren werden. Die Musik gibt dir die Möglichkeit, für jeden Teil deines Lebens, für jeden Moment, für jede Emotion den entsprechenden Takt, die entsprechende Melodie zu finden, die dazu passt. Musik ist für mich die bessere Welt. Sie verzaubert das Leben, das oft viel zu kompliziert und beängstigend ist. Ich weiß nicht, wie die Wirklichkeit zu ertragen wäre ohne dieses Paralleluniversum. Ich glaube sehr an die Welt der Musik. Vor allem bewegt mich das, was wir in ihr erfahren und fühlen können. Ich gehe davon aus, dass wir alle Musik in uns tragen. Unsere Seelen enthalten Musik. Und wenn wir Musik hören, die uns berührt, verbindet sich die Seele mit der Musik, die wir in uns tragen, und nährt uns.
Stolz stellte ich die große Leinwand auf meine Staffelei und legte eine CD von Debussy ein. Ich fand, dass diese Musik gut zu meinem Traum passte, und lauschte den expressionistisch transparenten Klängen.
Nun gut – wie aber malt man ein Einhorn? Außer diesem einen in meinem Traum war mir natürlich noch keines in meinem Leben begegnet. Kein leichtes Unterfangen. Wochenlang kreiste ich um meine Staffelei, ohne einen einzigen Pinselstrich zu tätigen. Das Prozedere kannte ich bereits. Man hat eine Idee im Kopf und braucht oft Wochen, manchmal sogar Monate, um beginnen zu können. Man schleicht wie »die Katze um den heißen Brei«, sammelt Ideen und folgt seinen Inspirationen. In der Musik ist das genauso.
So spazierte ich jeden Tag zu der nahegelegenen Koppel, auf der Pferde grasten. Tief sog ich den Duft der Wiese und den Geruch der schnaubenden Pferde ein. Ein Pferd ist zwar kein Einhorn, doch eine gewisse Ähnlichkeit vielleicht nicht zu verleugnen. Stundenlang stand ich unbeweglich an einer Stelle, beobachtete ihre Bewegung, studierte die Statur, die Form, den Ausdruck der Augen, Ohren und Nüstern. Und wartete. Geduldig wartete ich auf meinen ersten inneren Impuls. Eines sonnigen Tages, als ich schon fast aufgeben wollte, weil ich glaubte, dass mich meine Kreativität nun gänzlich im Stich gelassen hätte, war er dann plötzlich da. Der Impuls! Endlich konnte ich beginnen, das Einhorn zu skizzieren. Danach begann ich peu à peu die Farbe auf die Leinwand aufzutragen.
Tag für Tag näherte ich mich dem Bild aus meinem Traum. Es war ein faszinierender und spannender Prozeß. Und plötzlich, nach langen Wochen des Schaffens, war es vollbracht.
Mein Traum – das Einhorn – war festgehalten auf der Leinwand.
Mit seinen funkelnden und schillernden Augen wirkte es in seiner Einfachheit besonders apart. Mir gefiel es. Ebenso meinen Freunden, die vorbeikamen. Das Einhorn erfreute sich großer Beliebtheit. Über die zahlreiche Resonanz und die Tatsache, dass einige mir das Bild gleich abkaufen wollten, war ich selbst überrascht. Aber aus einem unerfindlichen Grund zögerte ich und behielt das Gemälde.