Читать книгу DAS GEHEIMNIS DER 7 FEIGEN - ELIYA LOREN - Страница 9
ОглавлениеFINISSAGE
Eines Morgens fiel mir die Postkarte mit dem Einhorn wieder in die Hände. Ich drehte sie um. Auf der Rückseite stand das Datum der Finissage. Sie war bereits morgen! Tatsächlich hatte ich überhaupt keine Zeit hinzugehen! Zu Gina bräuchte ich mit dem Auto eine gute Stunde hin und genauso lange wieder zurück.
Am nächsten Tag – es war der 15. Oktober – ging ich wie gewohnt meinen Aufgaben nach. »Soll ich nun auf die Finissage fahren oder nicht?«, überlegte ich laut. Ich schüttelte den Gedanken gleich wieder ab. »Nein!« Meine innere Stimme legte energisch Veto ein. » Du hast noch viel zu viel zu tun.« Eine ellenlange Liste wollte noch abgearbeitet werden. Ich entschied mich, nicht zu fahren.
Gedankenverloren räumte ich ein paar Dinge von der einen Ecke in die andere und ging in mein Schlafzimmer. Ich zog mich um und sah mich plötzlich verwundert im Bad vor dem Spiegel stehen, als würde ich mich gleich schminken wollen. Stirnrunzelnd schaute ich mein Spiegelbild an und kämpfte mit mir.
»Nur eine gute Stunde Fahrtzeit hin und eine wieder zurück«, säuselte mein vergnügungssüchtiger penetranter Schweinehund. »Bist du verrückt? Du wirst doch deine kostbare Zeit nicht mit „durch die Gegend fahren“ verschwenden.« Die pflichtbewusste Stimme gewann wieder Oberwasser. Genervt von meiner Unentschlossenheit spielte ich ein paar Skalen rauf und runter. Ich konnte mich nicht konzentrieren und sortierte stattdessen meine Noten. Wie ferngesteuert und nicht ich selbst setzte ich mich in mein Auto und stieg wieder aus. »Bereite lieber deinen nächsten Auftritt vor«, schnaubte mein Verantwortungsgefühl. Ergeben ging ich zurück ins Haus, setzte mich an meinen Flügel, um zu üben. Gegen 18: 06 Uhr saß ich, auf mysteriöse Weise gedrängt, wieder in meinem Auto, um nach Murnau zu fahren. »Was soll's – ich gönne mir einen schönen Abend – mal ganz privat«, fegte ich alle Einwände weg und fuhr siegessicher los.
Nach einem Kilometer drehte ich wieder um und fuhr zurück. »Ja, bin ich denn noch zu retten?« So kannte ich mich gar nicht. Nun war ich wieder zu Hause. Wusste nicht mehr, was ich hier tun sollte, stieg zum dritten Mal in mein Auto und fuhr endgültig los. Irritiert von meinen widersprüchlichen Gefühlen schüttelte ich meinen Kopf.
Nach einer guten Stunde kam ich im Künstlerhaus an. Gina und Alexander freuten sich sichtbar über mein überraschendes Kommen: »Wie schön, dich auch einmal privat zu sehen! Schau dich doch schon einmal um.« Sie brachten mir einen Apéritif.
Ich schlenderte von Bild zu Bild und ließ die Gemälde auf mich wirken. Der Maler hieß Fabiano del Chiero. Die Bilder gefielen mir und berührten mich eigentümlich. Etwas zog mich magisch an. Wenngleich ich noch nicht genau beschreiben konnte, was genau es war, was mich so faszinierte. Die Gemälde hatten eine geheimnisvolle Ausstrahlung und waren zum Teil erotisch. Jedes für sich erzählte eine eigene Geschichte. Erstaunlicherweise bewirkten die Bilder, dass die Distanz vom Betrachter zum Bild verschwand. Das hatte ich so noch nie erlebt. Und ich kannte, wie schon gesagt, einige Maler und deren Bilder.
Aus der Küche umschmeichelte ein köstlicher Geruch meine Nase. Alexander war wieder in seinem Element. Er hatte eine große Schürze umgebunden, und hantierte klappernd zwischen seinen Kochtöpfen. Zwischendurch schmeckte er die Speisen ab und nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Rotweinglas, das stets griffbereit neben dem Herd stand.
Ich nippte in Gedanken versunken an meinem Glas Prosecco mit Holunderblütensirup, der mir fast zu süß war, als Gina zu mir kam. »Komm mit«, forderte sie mich auf und zeigte mir den Maler, der sich gerade angeregt mit einigen Leuten unterhielt. Als ich ihn sah, hatte ich sofort dieses seltsame Gefühl, welches ich schon aus anderen Situationen kannte.
»Warte kurz, ich stelle euch gleich einander vor«, sagte sie, bevor sie wieder weggerufen wurde, und ließ mich stehen. Ich fühlte mich etwas verloren und hing diesem eigenartigen Gefühl nach. Ich versuchte, mich abzulenken, indem ich andere Gäste beobachtete und auf Gina wartete.
Ich bewunderte Gina, wie sie das hier alles bewältigen konnte. Sie hatte die Galerie mit immer wechselnden Ausstellungen, ausgefallenen Festivitäten und exquisiten Feiern plus das angeschlossene Art-Hotel. Manchmal, wenn Not am Mann war, stellte sie sich sogar noch zu Alexander in die Küche, um eine Vorspeise oder ein Dessert zu kreiieren. Ihre Gäste begrüßte sie stets persönlich und geistreich und hielt liebenswürdige Ansprachen. Zudem pflegte sie ihren umfangreichen Kundenstamm, suchte immer nach dem Besonderem in den Künstlern, die sie ausstellte, und hatte einen treffsicheren Geschmack für das Außergewöhnliche. Ich glaube, die Künstler hatten es nicht leicht, ihrem hohen künstlerischen Anspruch gerecht zu werden. Dabei war sie selbst eine ausgezeichnete Malerin. Ihr Malstil und ihre Bilder gefielen mir. Sie tauchte tief in die symbolhafte Mythologie ein und malte themenbezogene Bilder. Als sie wieder bei mir war, fragte ich sie: »Wie schaffst du das eigentlich alles? Woher nimmst du noch die Zeit und Inspiration zum Malen? Bei all der Organisation, die du hier am Hals hast.« Sie lächelte: »Ich habe Alexander! Er geht zum Einkaufen, er kocht – und ich kann delegieren.« Und schon eilte sie wieder weg.
Diesmal wollte ich nicht auf sie warten und beschloss, mich dem Maler selbst vorzustellen und ihm kurz ein Kompliment über seine Bilder zu machen. Danach wollte ich sofort wieder nach Hause fahren. Ich wartete geduldig ab, bis er sein Gespräch beenden würde, und beobachtete ihn verstohlen. Er hatte leicht welliges, dunkelgraues Haar und eine lässige Haltung. Er wirkte ganz entspannt und vertieft in das Gespräch, als hätte er alle Zeit der Welt. Ich trat etwas ungeduldig von einem Fuß auf den anderen und war schon fast versucht, klanglos zu verschwinden, als endlich das Gespräch beendet war und sich die kleine Menschengruppe um ihn herum auflöste.
Schnell ging ich auf ihn zu, bevor mir wieder jemand dazwischenkam: »Ich möchte mich bei Ihnen bedanken und muss mich auch gleich schon wieder verabschieden. Ihre Bilder gefallen mir sehr. Ich finde sie aussergewöhnlich«, fügte ich noch schnell dazu, um mein eher einfallslos wirkendes Kompliment zu ergänzen. Fabiano del Chiero freute sich über mein Kompliment, war höflich und versuchte gleich, mich charmant in ein Gespräch zu verwickeln. Da er nicht besonders gut Deutsch sprach, verlief das Gespräch anfänglich etwas holperig.
Glücklicherweise kam genau in diesem Moment Gina zurück und wandte sich zu mir: »Du bleibst doch hoffentlich zum Essen da?« Gerade wollte ich dankend ablehnen, da sagte der Maler: »Ja, natürlich bleibt sie.«
»Ach ja?« Verblüfft lächelte ich ihn an. Normalerweise war ich es gewohnt, meine Entscheidungen selbst zu treffen, aber seine Antwort hatte mich unvermutet so überrascht, dass ich ohne jeglichen Einwand nachgab. »Na gut, Alexanders hervorragenden Kochkünste kann ich mir auf keinen Fall entgehen lassen«, bemerkte ich augenzwinkernd zu Gina.
Fabiano del Chiero nahm mich wie selbstverständlich am Arm und führte mich in den neu angebauten „Glaswürfel“. In diesem Glaswürfel war jetzt auch der Flügel platziert - früher hatte er in dem hinteren Raum im alten Gebäude gestanden, in dem ich den Maler begrüßt hatte. Fabiano del Chiero fragte mich, ob ich mich neben ihn setzen wolle. Er duzte mich gleich. »Ja gerne«, stimmte ich zu. Es nahmen noch andere Gäste Platz. Es war eine kleine illustre Gesellschaft. In diesem Raum hingen mehrere Bilder des Malers: ein Bild von einem Mädchen, das auf einem Trapez saß, und noch zwei weitere Bilder, die mit dem Thema Zirkus zu tun hatten: eine sehr dicke Frau, die Feuer spuckte; auf dem dritten Bild sah man einen Jongleur, der neben einem Pferd ging.
Mir gegenüber saß eine blonde Frau mittleren Alters, die sehr apart und elegant gekleidet war. Sie stellte Fabiano del Chiero eine besonders eigenartige Frage. Es war eine dieser typischen Fragen, die man gerne Künstler über deren Inspiration und Schaffenskraft stellt. In Anbetracht der Schlichtheit der Frage – oder waren es doch eher seine holprigen Sprachkenntnisse? – stocherte Herr del Chiero ausgiebig in seinen Nudeln. Es waren köstlich gefüllte, handgemachte Nudelteigtaschen! Er kramte in seinem anscheinend etwas kargen Wortschatz nach einer passenden Antwort, die er aber auch nach höflichem Abwarten meinerseits nicht fand. Impulsiv und spontan ergriff ich beherzt das Wort und beantwortete ihre Frage an seiner Stelle. Ich hielt einen kleinen Monolog und erklärte ausführlich, wie der kreative Prozess funktioniert. Jedenfalls, wie er bei mir abläuft.
Ich spürte, wie Fabiano del Chiero mir äußerst aufmerksam zuhörte und innerlich bei jedem Wort nickte. Seine wortlose Bestätigung elektrisierte mich. In seiner etwas unbeholfenen Art, Deutsch zu sprechen, ergänzte er nur noch ein paar winzige Details. Der Bann zwischen uns war gebrochen!
Während meines Monologes musste er bemerkt haben, dass auch ich etwas von dem schöpferischen Prozedere verstand, und fragte mich neugierig: »Woher weißt du das? Malst du auch?« Ich antwortete ihm: »Ja, ich komponiere und male auch. Letzteres zwar eher hobbymäßig, aber somit bin ich mit dem schöpferischen Vorgang durchaus vertraut«, und lächelte ihn an. Daraufhin schenkte er mir sein Buch mit einer persönlichen Widmung und ich versprach, ihm meines zu schicken.
Sofort nutzte Gina die Gelegenheit und forderte mich auf: »Spiel doch bitte ein Stück aus deinem Buch.«
Ohne lange zu überlegen, setzte ich mich an den Flügel und begann, ein Lieblingsstück aus meinem Album zu spielen. Inständig hoffte ich, mich noch an alle Noten erinnern zu können. Immerhin waren schon fast zwei Jahre vergangen, seitdem es veröffentlicht worden war. Ich begann zu spielen und tauchte ein in meine Komposition. Doch plötzlich – wie aus heiterem Himmel, mitten im Stück – wusste ich nicht mehr weiter. Das durfte doch nicht wahr sein! Ich hatte einen totalen Blackout! Ich wünschte mir, der Erdboden täte sich auf, um mich auf Nimmerwiedersehen zu verschlingen. Doch unter meinen Füßen geschah nichts. Welch ein Malheur! Ich musste überlegen, improvisierte verzweifelt und dann – Gott sei Dank, er erhörte doch mein Stoßgebet – fiel mir meine Komposition wieder ein.
Nachdem ich also viel länger blieb, als ich ursprünglich vorgehabt hatte, fuhr ich wieder nach Hause – nicht ohne die Telefonnummer und das Buch von Fabiano del Chiero in der Tasche.
°°°
Anfang November rief mich Fabiano an. »Ich wollte mich für das schöne Buch bedanken, welches du mir geschickt hast.« Er hatte eine warme und etwas raue Stimme. Sein Deutsch hörte sich immer lustig an. Ich musste einige Male nachfragen, weil ich ihn so schlecht verstand. Bei dieser Gelegenheit erzählte ich ihm von meinem Herzensprojekt, einem großen Musiktheater, an welchem ich schon seit vielen Jahren arbeitete. Er wirkte sehr interessiert und wollte unbedingt mehr darüber wissen. Also verabredeten wir uns für den 4. Januar, um uns über unsere Projekte auszutauschen. Wir vereinbarten ein Treffen in München im Literatur-Café.
4. Januar
Ich hatte ein selbst entworfenes kurzes Kleid in einem altrosa Farbton an. Mit zehn Minuten Verspätung traf ich vor dem Literatur-Café ein. Bereits nach nur fünf Minuten Verspätung meinerseits hatte Fabiano mich angerufen: »Wo bist du? Kommst du?« und wollte wissen, wo ich bleibe. »Ich bin gleich da!« Schwungvoll öffnete ich die Türe. Der Duft von aromatischem Kaffee und anderen erlesenen Köstlichkeiten schwallte mir entgegen. Ich sah mich im Café um, da winkte er mir schon zu.
»Was möchtest du trinken?« Wir suchten uns dazu eine Kleinigkeit zum Essen aus. Dann unterhielten wir uns angeregt über alle möglichen verschiedenen Themen. Von Tolstoi bis Rilke, über dies und das, über Gott und die Welt und mein Musiktheater-Projekt. Es war ein äußerst inspirierendes Treffen. Zwar war es etwas mühsam, ihm zu folgen und trotzdem – wir verstanden uns auf Anhieb. Es stellten sich ziemlich schnell einige gemeinsame Vorlieben und Interessen heraus.
»Diesen Winter werde ich auf Lanzarote verbringen. Dort habe ich einen Freund, der – ich möchte jetzt noch nicht zu viel versprechen – Künstler und deren Projekte fördert«, erzählte Fabiano. Er wollte ihm mein Musiktheater-Projekt vorstellen. Und um möglicherweise eine CD zu produzieren, wollte er von mir eine Kostenaufstellung der Produktionskosten haben.
Nach gut drei Stunden hatten wir beide noch eine andere Verabredung und ich versprach ihm, möglichst bald die Kostenaufstellung nach Lanzarote zu faxen. Wir verließen gemeinsam das Lokal und gingen in Richtung Ludwigstraße. Unterwegs kam uns zufällig Ferdinand entgegen. Das war einer seiner beiden Söhne. Fabiano del Chiero stellte uns gegenseitig vor, dann trennten sich vorerst unsere Wege.
Es war nicht so einfach, die Kosten für eine CD, mein Theater-Projekt betreffend, zu recherchieren. Aber schlussendlich schaffte ich es nach einigen Tagen und versuchte, Fabiano in Lanzarote zu erreichen.
In dem kleinen Ort, in dem ich wohnte, herrschte strengster Winter. Als ich Fabiano anrief, um mir die Fax-Nummer geben zu lassen, erzählte er mir, wie schön warm es auf Lanzarote sei. »Hier liegen meterhohe Schneeberge und es ist bitterkalt!« beklagte ich mich und beneidete ihn. »Komm doch nach Lanzarote«, lud er mich ein.
»Oh ja, das wäre fantastisch! Habt ihr auch ein Klavier auf der Insel?«, fragte ich ihn und freute mich über seine spontane Einladung. »Dann würde ich sofort kommen. Denn ich müsste dringend die Kompositionen meines Opernmusicals korrigieren, und was wäre schöner, als dies auf einer inspirierenden Insel zu tun?!« Fabiano meinte, dass es auf der Insel ganz bestimmt die Möglichkeit dazu gäbe. Wäre es nicht herrlich, ins Warme zu flüchten?