Читать книгу Yoga - Emmanuel Carrère - Страница 14
Es ist einfach
ОглавлениеDiese beiden mir persönlich bekannten Lehrer sind große und wahre Meister, sie sind sowohl Forscher als auch Künstler in ihren Disziplinen und ich will ihre Autorität auf keinen Fall infrage stellen. Dennoch glaube ich vom Sockel meiner rudimentären Erfahrung herab, dass man auch über einen weniger steinigen Weg Zugang zum Meditieren finden kann, über einen schmalen, ganz unspektakulären Pfad, den jeder betreten kann, und dass die Technik, um ihn zu gehen, in fünf Minuten erlernbar ist. Sie besteht darin, sich hinzusetzen, sich eine Zeitlang nicht zu bewegen und nicht zu reden. Alles, was in der Zeit passiert, in der man reglos schweigend dasitzt, ist Meditation. Ich habe oft nach einer guten, möglichst treffenden, einfachen und umfassenden Definition gesucht und habe mehrere andere gefunden, die ich im Laufe dieser Erzählung nach und nach aus dem Ärmel ziehen werde, aber diese scheint mir für den Anfang die beste, denn sie ist die konkreteste und am wenigsten einschüchternde. Deshalb noch einmal: Meditation ist alles, was in der Zeit in einem passiert, in der man reglos schweigend dasitzt. Die Langeweile ist Meditation. Die Knie-, Rücken- und Nackenschmerzen sind Meditation. Die störenden Gedanken sind Meditation. Das Grummeln im Bauch ist Meditation. Der Eindruck, mit einem pseudospirituellen Dings seine Zeit zu verlieren, ist Meditation. Der Anruf, den man in Gedanken schon vorbereitet, und die Lust, aufzustehen und ihn zu tätigen, ist Meditation. Der Widerstand gegen diese Lust ist Meditation – ihr nachzugeben allerdings nicht. Das ist alles. Mehr nicht. Alles, was darüber hinausgeht, ist zu viel. Wenn man genau das regelmäßig zehn oder zwanzig Minuten oder eine halbe Stunde am Tag macht, verändert sich das, was in dieser Zeit, in der man reglos schweigend dasitzt, in einem vorgeht. Die Haltung verändert sich. Die Atmung verändert sich. Die Gedanken verändern sich. Sie verändern sich, weil sich sowieso immer alles verändert, aber auch, weil man sie beobachtet. Beim Meditieren tut man nichts anderes und soll auch gar nichts anderes tun als zu beobachten. Man beobachtet das Auftauchen von Gedanken, Gefühlen und Empfindungen im Bewusstsein, und man beobachtet ihr Verschwinden. Man beobachtet ihre Stützpfeiler, ihre Angelpunkte und Fluchtlinien. Man beobachtet ihr Durchziehen. Man bleibt nicht an ihnen hängen und stößt sie auch nicht fort. Man folgt ihrem Strom, ohne sich davon mitreißen zu lassen. Und dadurch, dass man genau das tut, verändert sich das Leben selbst. Man ist sich dessen zuerst nicht bewusst. Man hat den vagen Eindruck, kurz vor etwas zu stehen. Und nach und nach wird es klarer: Man löst sich ein bisschen, ein ganz kleines bisschen von dem, was man das Selbst nennt. Ein ganz kleines bisschen ist schon viel. Sehr viel. Es lohnt sich. Es ist eine Reise. Am Anfang der Reise, sagt ein Zen-Gedicht, sieht der Berg in der Ferne aus wie ein Berg. Im Laufe der Reise verändert der Berg ständig sein Aussehen. Man erkennt ihn nicht wieder, ein Trugbild ersetzt ihn und man weiß gar nicht mehr, worauf man zugeht. Am Ende der Reise ist es wieder ein Berg, aber er hat nichts mehr mit dem gemein, was man vor langer Zeit aus der Ferne gesehen hat, als man losgegangen ist. Jetzt ist er wirklich ein Berg. Endlich sieht man ihn. Man ist angekommen. Man ist da.
Man ist da.